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10 VerfassungsrechtNorm
B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelbLeitsatz
Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; StGG Art8; MRK Art5; auf §35 litb und c VStG 1950 gestützte Festnahme; zunächst folgende Anhaltung; nach Verkündung des Straferkenntnisses betreffend Übertretung nach PaßG und MeldeG weitere Anhaltung; kein Anhaltspunkt für Fluchtgefahr; §35 litc VStG 1950 ist bei einem unerlaubten Aufenthalt in Österreich und einem Unterlassen der Abmeldung (im Regelfall) nicht anwendbar; kein gültiger Berufungsverzicht bezüglich Straferkenntnis - Strafe nicht rechtskräftig verhängt; vor Eintritt der Rechtskraft darf eine Verwaltungsstrafe nicht vollstreckt werden; Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit durch Festnahme und darauffolgende Anhaltung Art144 Abs1 B-VG; (weitere) Anhaltung der Bf. ab Zustellung des nach Aufenthaltsverbot erlassenen Schubhaftbescheides - Maßnahme, die der Vollstreckung der vorangegangenen Bescheide (Verhängung des Aufenthaltsverbotes und der Schubhaft) dient; keine Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und ZwangsgewaltSpruch
Die Bf. ist durch die am 3. Dezember 1985 in Sbg. erfolgte Festnahme und durch die folgende Anhaltung, soweit diese bis 6. Dezember 1985 währte, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.
Im übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Bf. zu Handen ihres Vertreters die mit 7333,33 S bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Aufgrund des in der hier maßgebenden Hinsicht übereinstimmenden Vorbringens beider Parteien, das durch den Inhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes der Bundespolizeidirektion (Bundespolizeidirektion) Sbg., Z Fr-31.904/86, bestätigt wird, steht fest:
a) Aufgrund vertraulicher Mitteilungen, daß sich eine Jugoslawin unerlaubt in Sbg. aufhalte und hier ohne Beschäftigungsbewilligung bei bestimmten Personen als Haushaltshilfe tätig sei, führten Kriminalbeamte der Bundespolizeidirektion Sbg. mehrere Erhebungen durch. Am 3. Dezember 1985 trafen die Beamten die gesuchte Frau (es handelte sich um die Bf. - eine jugoslawische Staatsangehörige) in Sbg., ... an. Sie nahmen sie - wie es in der Anhaltemeldung und im Haftzettel heißt - zur "fremdenpolizeilichen Überprüfung" um 18.45 Uhr fest und lieferten sie ins Polizeigefangenenhaus ein.
Die Bf., eine jugoslawische Staatsangehörige, wurde am 3. Dezember 1985 um 19.20 Uhr und am 4. Dezember 1985 um 13.00 Uhr niederschriftlich einvernommen. Sie gab an, sich seit 6. Juni 1985 in Sbg. aufzuhalten. Ihr Aufenthalt in Österreich sei ausschließlich darauf gerichtet gewesen, eine Arbeitsstelle zu finden, was ihr aber nicht gelungen sei; eine unerlaubte Arbeit gegen Bezahlung habe sie nie ausgeübt.
b) Sodann erließ die Bundespolizeidirektion Sbg. ein Straferkenntnis. Darin wurde die Bf. schuldig erkannt,
"a) seit 6. 6. 1985, sohin länger als drei Monate im Bundesgebiet aufhältig und einer Beschäftigung nachgegangen zu sein, und
b) 1978 ihre Unterkunft an der Adresse Kirchengasse 25 aufgegeben zu haben, ohne jedoch die polizeiliche Abmeldung vorzunehmen,
und dadurch eine Verwaltungsübertretung nach
a) §40 (2) PaßG i.V.m.d. österr.-jug. Abkommen über d. SV-Pflicht,
b) §3 (5) Meldegesetz
begangen zu haben."
Über die Bf. wurde zu a) eine (primäre) Arreststrafe von 3 Tagen und zu b) eine Geldstrafe von S 200,- (NEF 24 Stunden Arrest) verhängt.
Das Straferkenntnis wurde der Bf. am 4. Dezember 1985 mündlich verkündet.
In einer (vorgedruckten) "Niederschrift" lautet es:
"Ich gebe den strafbaren Tatbestand vollinhaltich zu. Das Straferkenntnis wurde mir mündlich verkündet. Ich verzichte nach Rechtsmittelbelehrung auf Berufung."
Die Niederschrift wurde vom Leiter der Amtshandlung und von der Bf. unterschrieben. In einer Anmerkung ist festgehalten "Spricht deutsch".
Im Anschluß an die zitierte Niederschrift lautet es:
"Strafverbüßung vom 3. 12. 1985, 18.45 Uhr bis 6. 12. 1985, 18.45 Uhr."
Tatsächlich wurde die Bf. weiter im Polizeigefangenenhaus angehalten.
c) In weiterer Folge erließ die Bundespolizeidirektion Sbg. einen mit 5. Dezember 1985 datierten Bescheid, mit dem über die Bf. gemäß §3 Abs1 und 2 lita iVm. §4 des Fremdenpolizeigesetzes, BGBl. 75/1954, (FrPG) ein bis zum 5. Dezember 1988 befristetes Aufenthaltsverbot erlassen wurde. Einer allfälligen Berufung wurde gemäß §64 Abs2 AVG 1950 die aufschiebende Wirkung aberkannt.
Dieser Bescheid wurde der Bf. am 10. Dezember 1985 zugestellt.
d) Mit Bescheid vom 6. Dezember 1985 verhängte die Bundespolizeidirektion Sbg. über die Bf. gemäß §5 Abs1 FrPG die Schubhaft.
Einer allfälligen Berufung wurde gemäß §64 Abs2 AVG 1950 die aufschiebende Wirkung aberkannt.
Dieser Bescheid wurde der Bf. (während sie sich in Haft befand) am 6. Dezember 1985 ausgefolgt.
e) Am 10. Dezember 1985 um 10.00 Uhr wurde die Bf. aus der Haft entlassen.
f) Gegen die unter litb), c) und d) zitierten Bescheide der Bundespolizeidirektion Sbg. erhob die Bf. Berufungen, zu b) verbunden mit einem Wiedereinsetzungsantrag. Über diese Rechtsmittel entschied die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Sbg. mit Bescheiden vom 10. November 1986 in für die Bf. positivem Sinn.
2. Die vorliegende, auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde wendet sich gegen die am 3. Dezember 1985 erfolgte Festnahme und die darauffolgend bis 10. Dezember 1985 erfolgte Verwahrung der Bf..
Es wird die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf persönliche Freiheit behauptet und die kostenpflichtige Feststellung dieser Rechtsverletzung beantragt.
3. Die Bundespolizeidirektion Sbg. als bel. Beh. erstattete eine Gegenschrift, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde begehrt.
II. Der VfGH hat erwogen:
1. Festzuhalten ist zunächst, daß - entgegen der Meinung der Bundespolizeidirektion Sbg. - die Beschwerde ausschließlich die Festnahme und die Anhaltung der Bf., nicht aber die unter I.1.b) bis
d) erwähnten Bescheide bekämpft.
2. a) Die Festnahme der Bf. und ihre Anhaltung bis 6. Dezember 1985 sind Verwaltungsakte, die in Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt ergingen; sie sind nach Art144 Abs1 zweiter Satz B-VG beim VfGH bekämpfbar (vgl. zB VfSlg. 9919/1984).
Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde insoweit zulässig.
b) Die bel. Beh. führt in der Gegenschrift aus,
aa) die am 3. Dezember 1985 erfolgte Festnahme der Bf. sei auf §35 litb und c VStG 1950 und die Verwahrung bis zur Durchführung der Strafverhandlung am 4. Dezember 1985 auf §36 Abs1 VStG 1950 gestützt gewesen;
bb) ab Eintritt der Rechtskraft des Straferkenntnisses (4. Dezember 1985) bis zum 6. Dezember 1985 sei die Anhaltung als Vollstreckung der verhängten dreitägigen (primären) Arreststrafe zu qualifizieren.
c) Diese Rechtfertigung der Behörde ist verfehlt:
aa) Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 MRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958 ua.):
Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, legt in seinem §4 fest, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.
§35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz, doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten Fällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Tat begehen und bei Begehung dieser Tat betreten werden, wobei die erste dieser beiden Bedingungen schon dann vorliegt, wenn das Organ die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund annehmen konnte (s. VfSlg. 9919/1984).
Die Behörde beruft sich auf §35 litb und c VStG 1950.
Nach §35 litb VStG 1950 ist eine Festnahme unter den schon umschriebenen Voraussetzungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann statthaft, wenn begründeter Verdacht besteht, daß sich der Betretene der Strafverfolgung zu entziehen suchen werde; nach der folgenden litc nur dann, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.
Diese Voraussetzungen waren hier nicht gegeben: Selbst wenn die Feststellung der Polizeibeamten, daß sich die Bf. als Fremde rechtswidrig in Österreich aufgehalten und daher die Strafbestimmung des Paßgesetzes verletzt habe, als "Betreten auf frischer Tat" angesehen werden könnte (bei der Unterlassung der Abmeldung kann dies keinesfalls angenommen werden), lag doch keine Fluchtgefahr iS des §35 litb VStG 1950 vor; es fehlten konkrete Anhaltspunkte dafür, daß sich die Bf. der Strafverfolgung zu entziehen suchen werde (vgl. hiezu die ständige Judikatur des VfGH, zB VfSlg. 9916/1984). §35 litc VStG 1950 ist bei einem unerlaubten Aufenthalt in Österreich und einem Unterlassen der Abmeldung vom Sinn dieser Vorschrift gesehen - zumindest im Regelfall - nicht anwendbar; dies beweist schon der Umstand, daß eine Abmahnung im vorliegenden Fall sinnlos gewesen wäre und auch nicht erfolgte.
Die Festnahme und die zunächst folgende Anhaltung waren daher im Gesetz nicht gedeckt.
bb) Die Behörde behauptet, die weitere Haft der Bf. nach Verkündung des Straferkenntnisses und nach Abgabe des Berufungsverzichtes sei deshalb rechtmäßig, weil es sich hiebei um die Vollstreckung einer rechtskräftig verhängten Freiheitsstrafe gehandelt habe.
Auch hierin ist der Behörde nicht beizupflichten. Der von der Bf. abgegebene Berufungsverzicht ist nämlich nicht gültig erklärt worden:
Voraussetzung für einen gültigen Berufungsverzicht ist, daß er ohne Druck und in Kenntnis seiner Rechtsfolgen abgegeben wird (vgl. zB VwGH 16. 4. 1980, Z 324/80; 18. 9. 1981, Z 81/02/0058; 10. 2. 1982, Z 01/3336/79; VfSlg. 7432/1974). Die Bf. befand sich zum Zeitpunkt der Strafverhandlung in Haft; sie ist nicht rechtskundig und der deutschen Sprache offenbar nicht voll mächtig. Unter diesen Umständen ist die von ihr unterfertigte Berufungsverzichts-Erklärung nicht wirksam.
Das aber bedeutet, daß die Strafe nicht rechtskräftig verhängt worden war. Vor Eintritt der Rechtskraft darf eine Verwaltungsstrafe nicht vollstreckt werden (s. §64 AVG 1950 iVm. §24 VStG 1950; vgl. VfSlg. 7663/1975).
cc) Die Bf. wurde sohin rechtswidrig festgenommen und bis 6. Dezember 1985 rechtswidrig angehalten. Daraus ergibt sich, daß die Bf. im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt wurde (zB VfSlg. 9623/1983).
d) Diese Feststellung konnte gemäß §19 Abs4 Z2 VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.
3. a) Die weitere Anhaltung der Bf. während des folgenden Zeitraumes, nämlich vom 6. bis 10. Dezember 1985 (also ab Zustellung des Schubhaftbescheides - s. o. I.1.d) wird von der Behörde unter Hinweis auf diesen Bescheid gerechtfertigt.
b) Hiezu hat der VfGH erwogen:
Die Schubhaft ist - wie sich aus §5 Abs1 FrPG ergibt - mit Bescheid anzuordnen. Die Verhängung der Schubhaft schließt auch die Festnahme ein. Ein vollstreckbarer Schubhaftbescheid ist also Voraussetzung dafür, daß ein Fremder in Schubhaft genommen, in Schubhaft gehalten und in weiterer Folge iS des §13 FrPG abgeschoben werden darf. Weder die aufgrund eines vollstreckbaren Schubhaftbescheides erfolgte Festnahme und Anhaltung noch die Abschiebung stellen (etwa bescheidmäßig zu treffende) Vollstreckungsverfügungen dar; sie sind Maßnahmen, die der Vollstreckung der vorangegangenen Bescheide (mit denen das Aufenthaltsverbot und die Schubhaft verhängt wurden) dienen. Derartige Verwaltungsakte, die bloß als Maßnahmen zur Vollstreckung vorangegangener Bescheide anzusehen sind, können nicht als Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, als sog. "faktische Amtshandlungen" qualifiziert werden, die nach Art144 Abs1 B-VG beim VfGH bekämpfbar sind (vgl. zB VfSlg. 10978/1986 mit weiteren Judikaturhinweisen).
Die Beschwerde war daher, soweit sie sich gegen die Anhaltung nach Erlassung (Zustellung) des Schubhaftbescheides - also gegen die Haft vom 6. bis 10. Dezember 1985 - wendet, mangels Zuständigkeit des VfGH zurückzuweisen.
c) Die Zurückweisung konnte gemäß §19 Abs3 Z2 lita VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden, weil die Nichtzuständigkeit des VfGH offenbar ist.
4. Die Bf. ist mit zwei ihrer Beschwerdepunkte durchgedrungen, mit einem unterlegen. Es waren ihr daher zwei Drittel der Normalkosten zuzuerkennen. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von 666,67 S enthalten.
Der zu einem Drittel obsiegenden bel. Beh. erwuchsen keine iS des §88 VerfGG ersatzfähigen Kosten (etwa Reisekosten), weshalb ein Kostenersatz nicht in Betracht kommt.
Schlagworte
Paßwesen, Verwaltungsstrafrecht Vollzug, Verwaltungsstrafrecht Berufung, Fremdenpolizei, Schubhaft, Aufenthaltsverbot, Festnehmung, VfGH / KostenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1986:B70.1986Dokumentnummer
JFT_10138791_86B00070_00