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L4 Innere VerwaltungNorm
B-VG Art10 Abs1 Z7Beachte
Kundmachung am 25. Feber 1987, LGBl. für Sbg. 14/1987, Anlaßfälle VfSlg. 11192/1986Leitsatz
Sbg. LandespolizeistrafG; zum Begriff der allgemeinen und der örtlichen Sicherheitspolizei iS des Art15 Abs2 B-VG; "Landstreicherei" keine Angelegenheit der örtlichen Sicherheitspolizei; Landstreichereibestimmung des §3a kompetenzwidrig erlassen; Widerspruch der in dieser Bestimmung enthaltenen Beweislastumkehr gegen die Unschuldsvermutung des Art6 Abs2 MRK; Aufhebung der Bestimmung als verfassungswidrigSpruch
§3a des Gesetzes vom 23. April 1975, mit dem verwaltungsstrafrechtliche Bestimmungen erlassen werden (Sbg. Landes-Polizeistrafgesetz), LGBl. für das Land Sbg. Nr. 58/1975, idF LGBl. 13/1979, wird als verfassungswidrig aufgehoben.
Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.
Der Landeshauptmann von Sbg. ist zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung im Landesgesetzblatt verpflichtet.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1. §3a des Sbg. Landes-Polizeistrafgesetzes LGBl. 58/1975 idF LGBl. 13/1979 (künftig: SbgPolStG) lautet:
"Wer sich erwerbs- und beschäftigungslos umhertreibt und nicht nachzuweisen vermag, daß er die Mittel zu seinem Unterhalt besitzt oder redlich zu erwerben sucht, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit Arrest bis zu zwei Wochen zu bestrafen."
1.2. Dieser unter der Überschrift "Landstreicherei" stehende Verwaltungsstraftatbestand wurde mit Gesetz vom 25. Oktober 1978, LGBl. 13/1979, in das SbgPolStG eingefügt, nachdem das Strafrechtsanpassungsgesetz vom 11. Juli 1974, BGBl. 422, in ArtXI Abs2 Z6 das Gesetz, womit polizeistrafrechtliche Bestimmungen wider Arbeitsscheue und Landstreicher erlassen werden, RGBl. 108/1873, und in Z8 des selben Absatzes das Gesetz, womit strafrechtliche Bestimmungen in Betreff der Zulässigkeit der Anhaltung in Zwangsarbeits- oder Besserungsanstalten getroffen werden RGBl. 89/1885 mit Ablauf des 31. Dezember 1974 außer Wirksamkeit gesetzt hatte.
Im Bericht des Justizausschusses zum Strafrechtsanpassungsgesetz (1236 BlgNR XIII GP) wurde hiezu ausgeführt, der Justizausschuß sei der Ansicht, "daß bloße Ordnungswidrigkeiten sowie Gefährdungsdelikte geringen Unrechtsgehalts zumal dann, wenn ihre Verfolgung im engen Zusammenhang mit einer Verwaltungstätigkeit steht, der verwaltungsbehördlichen Ahndung vorbehalten bleiben sollen. Die gesamte Materie wird in Hinkunft unter Bedachtnahme sowohl auf sanitätspolizeiliche als auch auf sicherheitspolizeiliche Gesichtspunkte durch BG geregelt werden."
2. In den im wesentlichen übereinstimmenden, zu B638/83 und B639/83 protokollierten, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerden wird die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt durch Organe der Bundespolizeidirektion Sbg. angefochten:
Die Bf. bringen vor, sie hätten am 1. September 1983 einen ihnen überlassenen Autobus zu Unterkunftzwecken benützt. Als diese Unterkunft von Jugendlichen mit Steinen beworfen worden sei, hätten sie sich an die Polizei um Hilfe gewendet. Nach Einlangen der Polizei seien sie jedoch selbst gegen 20.30 Uhr wegen Landstreicherei nach §3a des SbgPolStG festgenommen und in die Bundespolizeidirektion Sbg. gebracht worden, wo sie die Nacht über im Arrestlokal angehalten worden seien. Nachdem gegen sie Strafbescheide erlassen worden waren, seien sie am 2. September 1983 um 14.00 Uhr in Strafhaft überstellt und nach Bewilligung eines Strafaufschubes um 20.30 Uhr wieder aus der Haft entlassen worden. Beide Bf. beantragen die Feststellung, daß sie durch die Festnahme am 1. September 1983 und die darauffolgende Anhaltung bis zur Erlassung der Straferkenntnisse und ihrer Überstellung in die Strafhaft am 2. September 1983 um 14.00 Uhr in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Freiheit der Person und Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz bzw. durch Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden seien.
3. Aus Anlaß der bezeichneten Beschwerden leitete der Gerichtshof mit Beschl. vom 28. November 1985 gemäß Art140 Abs1 B-VG von Amts wegen das vorliegende Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §3a SbgPolStG ein. Er ging davon aus, daß den Beschwerden Prozeßhindernisse nicht entgegenstehen und daß er bei seinen Entscheidungen die in Prüfung gezogene Bestimmung anzuwenden hätte.
Er äußerte die Bedenken, daß die bezogene Gesetzesstelle kompetenzwidrig erlassen sei, im Widerspruch zu Art5 Abs1 lite MRK stehe und gegen Art6 Abs2 MRK verstoße. Im einzelnen legte er im Einleitungsbeschluß die Bedenken folgendermaßen dar:
"2.2.2. Der VfGH hegt gegen die in Prüfung gezogene Bestimmung zunächst das Bedenken, daß der Landesgesetzgeber zu deren Erlassung unzuständig war, weil es sich bei einer verwaltungsstrafrechtlichen Verfolgung der Landstreicherei um eine Angelegenheit handelt, die der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit zuzurechnen und gemäß Art10 Abs1 Z7 B-VG Bundessache in Gesetzgebung und Vollziehung sein dürfte. Eine Kompetenz für die Erlassung der in Prüfung gezogenen Regelung durch den Landesgesetzgeber scheint auch aus der Sicht des Art15 Abs2 B-VG, wonach Angelegenheit der örtlichen Sicherheitspolizei der Teil der Sicherheitspolizei ist, der im ausschließlichen oder überwiegenden Interesse der in der Gemeinde verkörperten örtlichen Gemeinschaft gelegen und geeignet ist, durch die Gemeinschaft innerhalb ihrer örtlichen Grenzen besorgt zu werden, zu verneinen zu sein.
Der Landesgesetzgeber dürfte daher die in Prüfung gezogene Regelung kompetenz- und damit verfassungswidrig erlassen haben.
2.2.3. Der VfGH hegt weiters das Bedenken, daß eine - iS der MRK - strafrechtliche Verfolgung der Landstreicherei mit Art5 Abs1 lite MRK im Widerspruch steht. Lit. e sieht vor, daß die dort erwähnten Personen in Haft genommen werden können, ohne daß dabei unterstellt ist, daß das eine Strafhaft sei. Im Gegenteil: Es scheint, daß es geradezu ausgeschlossen ist, daß nach der zitierten Verfassungsbestimmung die Verhaftung in Form einer Strafhaft erfolgen kann. Art5 Abs1 lite MRK scheint die Landstreicherei gleich zu werten wie den Alkoholismus, die Rauschgiftsucht und ansteckende Krankheiten, die wohl als potentielle Gefahrenquelle verstanden, aber auch nur deshalb für eine Inhaftnahme herangezogen werden dürfen. Dem Gesetzgeber scheint damit eine Pönalisierung in diesen Fällen untersagt zu sein.
2.2.4. Gegen §3a des Sbg. Landes-Polizeistrafgesetzes besteht zusätzlich das Bedenken, daß er gegen Art6 Abs2 MRK verstößt. Die in Prüfung gezogene Regelung scheint Personen, auf die die objektiven Tatbestandselemente der Strafnorm zutreffen, die Verpflichtung aufzuerlegen, den Nachweis zu führen, daß sie ihren Unterhalt redlich zu erwerben suchen. Eine solche Beweislast der betroffenen Personen dürfte Art6 Abs2 MRK widersprechen, wonach bis zum gesetzlichen Nachweis einer Schuld vermutet wird, daß der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist."
4. Die Sbg. Landesregierung hat die in Prüfung gezogene Gesetzesstelle verteidigt und zu den aufgeworfenen Bedenken wie folgt Stellung bezogen:
"3.1. Zur Kompetenzgrundlage der in Prüfung gezogenen Bestimmung vertritt die Landesregierung die Auffassung, da sowohl der Kompetenztatbestand der örtlichen Sicherheitspolizei als auch der der Sittlichkeitspolizei als Anknüpfungspunkte in Betracht kommen. Art15 Abs1 in Zusammenhalt mit Art10 Abs1 Z7 B-VG ergibt die Zuständigkeit des Landesgesetzgebers zur Regelung der örtlichen Sicherheitspolizei. Die Landeszuständigkeit in Sachen der Sittlichkeitspolizei ergibt sich aus Art15 Abs1 B-VG, da diese keinem Kompetenztatbestand des Bundes subsumiert werden kann.
Die örtliche Sicherheitspolizei ist jener Teil der Sicherheitspolizei, der im ausschließlichen oder im überwiegenden Interesse der in der Gemeinde verkörperten örtlichen Gemeinschaft gelegen und geeignet ist, durch die Gemeinschaft innerhalb ihrer örtlichen Grenzen besorgt zu werden (Art15 Abs2 B-VG).
Die Bundes-Verfassungsgesetznovelle 1974, BGBl. 444, hat den Bereich der örtlichen Sicherheitspolizei durch Einbeziehung der 'Wahrung des öffentlichen Anstandes' und der 'Abwehr ungebührlicherweise hervorgerufenen störenden Lärmes' erweitert (Neufassung des Art15 Abs2 B-VG durch ArtI Z15 der Bundes-Verfassungsgesetznovelle 1974). Damit hat der Bundesverfassungsgesetzgeber die bis zu dieser Novelle geltende Rechtsauffassung verlassen, welche diese Angelegenheiten als solche der allgemeinen Sicherheitspolizei betrachtet hatte. Beide Tatbestände waren seinerzeit im ArtVIII Abs1 lita EGVG 1950 geregelt gewesen.
Daß eine Hintanhaltung der Landstreicherei zweifellos im überwiegenden Interesse der in der Gemeinde verkörperten örtlichen Gemeinschaft gelegen ist, ergibt sich schon aus der praktischen Erfahrung, daß dieses soziale Phänomen hauptsächlich in bestimmten größeren Städten auftritt, also als regionaler und nicht als landesweiter Übelstand zu betrachten ist. Selbst, wenn man sich dieser allgemeinen Erfahrung verschließt, so bleibt jedoch auf jeden Fall die Wahrung des öffentlichen Anstandes als ein Tatbestand der Örtlichen Sicherheitspolizei, dessen Regelung unbestritten dem Landesgesetzgeber zukommt (Art15 Abs2 B-VG). Zweifellos verletzt nach herrschender Auffassung den öffentlichen Anstand in besonderer Weise, wer sich erwerbs- und beschäftigungslos umhertreibt, keine Mittel zum eigenen Unterhalt besitzt und deren redlichen Erwerb auch nicht sucht. Dabei genügt es für eine Zuständigkeit des Landesgesetzgebers, wenn auch nur Teilbelange des Sachverhaltes Landstreicherei als örtliche Sicherheitspolizei verstanden werden, da in diesem Fall der Landesgesetzgeber befugt ist, annexweise das erforderliche materielle Verwaltungsstrafrecht zu schaffen und das entsprechende Verhalten verwaltungsrechtlich für strafbar zu erklären.
Für die Regelung der Landstreicherei als einer Verhaltensweise, welche zweifellos die herrschenden sittlichen Anschauungen der Gemeinschaft verletzt, kommt darüber hinaus auch der Kompetenztatbestand der Sittlichkeitspolizei in Betracht. In diesem Zusammenhang kann auf die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes verwiesen werden, der den 'Bettel' als Handlung gegen die öffentliche Sittlichkeit qualifiziert hat (OGH 12. 3. 1954 SSt. XXV 26, JBl. 1954 S. 407). Für die Landstreicherei erscheint eine gleiche Einordnung sachlich richtig. Betteln und Landstreicherei sind ihrem Wesen nach eng verwandt und gehen zumeist Hand in Hand. Im übrigen wäre selbst bei einer angenommenen Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers aus dem Titel der allgemeinen Sicherheitspolizei eine Regelungskompetenz des Landesgesetzgebers zur Erlassung der in Prüfung gezogenen Bestimmung nicht von vorneherein ausgeschlossen, da es nach der Judikatur des VfGH möglich ist, daß ein- und dieselbe Regelung unter mehreren Gesichtspunkten getroffen werden kann (vgl. die Erkenntnisse VfSlg. 4348/1963, 5024/1965, 7169/1973, 7516/1975, 7792/1976 und B115/77 vom 6. Dezember 1977). Die Sittlichkeitspolizei wäre auf jeden Fall als ein Gesichtspunkt anzusprechen, der auch dem Landesgesetzgeber die Regelung der Landstreicherei zugänglich macht. Bei Zweifelhaftigkeit der Gesetzgebungskompetenz kommt nach der Judikatur des VfGH überdies aufgrund des der Bundesverfassung zugrundeliegenden föderalistischen Prinzips der Kompetenz des Landesgesetzgebers der Vorrang zu (vgl. Erk. Slg. 2977/56).
Schließlich kann auch aus dem in Art10 Abs1 Z6 B-VG enthaltenen Kompetenztatbestand 'Einrichtungen zum Schutz der Gesellschaft gegen verbrecherische, verwahrloste oder sonst gefährliche Personen, wie Zwangsarbeits- und ähnliche Anstalten' geschlossen werden, daß der Bundesverfassungsgesetzgeber den Schutz der Gesellschaft vor verwahrlosten Personen nicht zur Gänze dem Bund übertragen wollte.
Darüberhinaus ist noch darauf hinzuweisen, daß das Bundeskanzleramt mit Schreiben vom 2. Oktober 1975, GZ 600519/1-VI/1/75, den Entwurf eines Gesetzes, mit dem das EGVG 1950 geändert werden sollte, zur Begutachtung versendete. Damals war im neuzufassenden Art1 IX als Tatbestand 4 folgendes vorgesehen:
'Wer ...
4. aus Arbeitsscheu keiner seinen Unterhalt sichernden Beschäftigung nachgeht, auch sonst den redlichen Erwerb der Mittel zu seinem Unterhalt nicht nachzuweisen vermag und sich ohne ständige Unterkunft umhertreibt,
... begeht eine Verwaltungsübertretung ...'
Die Erläuterungen hatten dazu ausgeführt, daß die Bundespolizeibehörden im Begutachtungsverfahren nachdrücklich darauf hingewiesen hatten, daß der Entfall des Landstreichereigesetzes eine Lücke in der Möglichkeit wirksamer Verfolgung kriminogener Personen bilde und an der Verfolgung dieses Personenkreises ein ausgesprochenes sicherheitspolizeiliches Interesse bestehe! Unter dem Gesichtspunkt der Verbrechensverhütung einerseits, aber auch unter dem Aspekt der Verbrechensbekämpfung andererseits müsse ein Interesse an der Bekämpfung der Landstreicherei anerkannt werden. In der Folge schien dieser Tatbestand ebenso wie der Tatbestand der Bettelei in der RV und später im Gesetzestext nicht mehr auf. Wohl auch ein möglicher Hinweis auf kompetenzrechtliche Bedenken des Bundes. Die mangelhaften Aussagen zu den Kompetenzgrundlagen, welche für eine Bundesregelung sprächen, waren im Begutachtungsverfahren von verschiedenen Ländern kritisiert worden.
3.2. Art5 Abs1 lite MRK sieht vor, daß die Freiheit einem Menschen nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden darf:
... 'e) Wenn er sich in rechtmäßiger Haft befindet, weil er eine Gefahrenquelle für die Ausbreitung ansteckender Krankheiten bildet, oder weil er geisteskrank, Alkoholiker, rauschgiftsüchtig oder Landstreicher ist.'
Aus diesem Wortlaut kann nach Ansicht der Sbg. Landesregierung nicht geschlossen werden, daß ein Arrest mit Strafcharakter für die Landstreicherei verfassungsrechtlich ausgeschlossen ist. Es ist zwar richtig, daß eine Strafhaft wegen ansteckender Erkrankung oder Geisteskrankheit mangels eines vorwerfbaren Verschuldens nicht in Betracht kommen dürfte. Bei der selbstverschuldeten vollen Berauschung hat der Bundesgesetzgeber mit der einschlägigen Bestimmung des ArtIX Abs1 Z3 EGVG 1950 bereits eine etwas differenzierte Haltung eingenommen. Art5 Abs1 lite MRK bringt auch nur hinsichtlich der ansteckenden Krankheiten zum Ausdruck, daß die rechtmäßige Haft dem Zweck der Gefahrenabwehr dienen muß, während sich diese Einschränkung aus der Formulierung für Geisteskranke, Berauschte oder Landstreicher nicht ablesen läßt. Für Geisteskranke wird sich eine Strafhaft nur aus diesem Umstand allerdings mangels eines Verschuldens wie bereits gesagt von selbst verbieten. Hinsichtlich der Landstreicherei ist dies jedoch sicher nicht der Fall. Auch muß aufgrund des österreichischen Vorbehaltes zu Art5 MRK davon ausgegangen werden, daß auch Art5 Abs1 lita MRK eine taugliche Grundlage für die Zulässigkeit der verwaltungsrechtlichen Pönalisierung darstellt. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bisher nichts Gegenteiliges entschieden. Der EGM prüft nach, ob die Voraussetzungen des Art5 Abs1 lite MRK bei einem Landstreicher im Einzelfall vorliegen, d. h., ob es sich bei dem so in Haft Gehaltenen in der Tat um einen Landstreicher handelt, und ob er sich 'rechtmäßig' in Haft befindet, d. h., ob seine Haft von den zuständigen Behörden und gemäß dem durch das staatliche Gesetz vorgeschriebenen Verfahren angeordnet wurde (s. EGM 18. 6. 1971, 37 - 39, In Khol, JBl. 1972, S. 486, 93).
3.3. Hinsichtlich der Vereinbarkeit des §3a des Sbg. Landes-Polizeistrafgesetzes mit Art6 Abs2 MRK ist zu sagen, daß der Landstreicher aufgrund der in Prüfung gezogenen Bestimmungen nicht 'seine Unschuld' beweisen muß, sondern lediglich gehalten ist, nachzuweisen, daß er seinen Unterhalt redlich zu erwerben sucht. Dieser Nachweis ist für einen ordentlichen Menschen weder schwierig noch unzumutbar, zumal, wenn man davon ausgeht, daß bereits der regelmäßige Bezug von Arbeitslosenunterstützung bzw. von Leistungen nach dem Sbg. Sozialhilfegesetz, LGBl. 19/1975, zuletzt geändert durch LGBl. 19/1984, zur Sicherung des Lebensbedarfs eine Anwendung des §3a Sbg. Landes-Polizeistrafgesetz ausschließt. Der Nachweis, daß die Mittel zum Unterhalt vorhanden sind, ist daher in Wahrheit eine bloße Mitwirkungspflicht an der Sachverhaltsfeststellung. Der Nachweis der Tatbestandselemente des 'erwerbs- und beschäftigungslosen Umhertreibens' obliegt der Behörde und entspricht damit auf jeden Fall Art6 Abs2 MRK. Überdies bindet der Grundsatz der Unschuldsvermutung unmittelbar nur den Richter, also den Entscheidungsträger der entscheidenden Behörde, der über die Begründetheit der Anklage zu entscheiden hat (s. EKM 8. 7. 1978, EuGRZ 1978, 314 ff.; ähnlich auch Khol, JBl. 1967, S. 101, 41).
4. Aufgrund der dargelegten Gesichtspunkte beantragt die Sbg. Landesregierung, der VfGH möge feststellen, daß der §3a des Sbg. Landes-Polizeistrafgesetzes verfassungsrechtliche Bestimmungen nicht verletzt."
5. Über Einladung des VfGH haben die Bundesregierung, die Ktn. Landesregierung und die Tir. Landesregierung Äußerungen erstattet.
5.1. Die Bundesregierung führte im wesentlichen aus:
Gegen den Gesetzesbeschluß des Sbg. Landtages vom 14. Juni 1978, der die in Prüfung gezogene Regelung zum Gegenstand gehabt habe, habe die Bundesregierung zunächst mit Schreiben vom 19. Juli 1978 Einspruch erhoben; der (Beharrungs-)Beschl. vom 25. Oktober 1978 sei wohl nicht beeinsprucht worden, eine Zustimmung sei jedoch nicht erteilt worden, weil die Bundesregierung die bereits geäußerten Bedenken aufrechterhalten habe. Wie bereits im Schreiben vom 19. Juli 1978 ausgeführt, werde seitens des Bundes keine Notwendigkeit zu einer Pönalisierung der Landstreicherei gesehen. Zur Kompetenzfrage räume die Bundesregierung ein, daß eine Vorschrift, die einen dem Prüfungsgegenstand vergleichbaren Inhalt gehabt habe, in einem Entwurf zur Novellierung des EGVG vorgesehen gewesen sei. Im Lichte der Ergebnisse des Begutachtungsverfahrens sei dieser Vorschlag in der RV jedoch fallen gelassen worden und zwar - über die rechtspolitischen Erwägungen hinaus - auch wegen der Auffassung, daß Landstreicherei als Angelegenheit der örtlichen Sicherheitspolizei in die Landeszuständigkeit falle. Aus Anlaß des Gesetzesbeschlusses des Sbg. Landtages vom 14. Juni 1978 sei jedoch die Landeskompetenz als zweifelhaft erachtet worden.
Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des VwGH (VwSlg. 7026 A/1966) und des VfGH (VfSlg. 5510/1967) scheine der Bundesregierung am ehesten der Standpunkt vertretbar, daß ein Straftatbestand nur dann der örtlichen Sicherheitspolizei zuzuordnen sei, wenn das Rechtsgut, dessen Schutz damit bezweckt werde, ein solches ist, das von den örtlichen Verhältnissen "abhängt", also mit diesen in einer engen und untrennbaren Verbindung stehe.
Zu dem aus der Sicht des Art5 Abs1 lite MRK aufgeworfenen Bedenken meint die Bundesregierung, daß es den (Vertrags-)staaten freistehe, nur eine Pönalisierung, nur eine Sicherungsmaßnahme oder beides nebeneinander vorzusehen. Für diese Ansicht spreche die Judikatur des EuGMR, insbesondere im Fall De Wilde, Ooms und Versyp. Werde jedoch die Zulässigkeit einer Pönalisierung der Landstreicherei bejaht, dann stelle sich die Frage nach der Reichweite des österreichischen Vorbehaltes zu Art5 MRK; die Bundesregierung vertrete die Auffassung, daß eine derartige verwaltungsbehördliche Strafsanktion darin keine Deckung finde.
Bezüglich Art6 Abs2 MRK gehe die Bundesregierung davon aus, daß eine verfassungskonforme Interpretation der in Prüfung gezogenen Bestimmung schwer möglich sei. Diesem Gebot wäre lediglich dann entsprochen, wenn die Regelung so gelesen werden könnte, daß das einschreitende Staatsorgan aufgrund des Verhaltens des Angehaltenen schon hinreichenden Grund zur Annahme habe, daß dieser die Mittel zu seinem Unterhalt nicht besitze oder sie nicht redlich zu erwerben suche. Bei einem solchen Verständnis der Regelung könnte der vorgesehene Nachweis als bloße Verfahrensregelung gedeutet werden, nach welcher die Behörde verpflichtet sei, eine Bestrafung erst bei Vorliegen des Beweises der Mittellosigkeit vorzunehmen, wobei dem Beschuldigten der Gegenbeweis offenstehe. Eine solche Interpretation der in Prüfung gezogenen Regelung scheine der Bundesregierung jedoch wenig plausibel und stehe im Widerspruch zu den vom VfGH neuerdings betonten strengen Anforderungen (vgl. VfSlg. 10737/1985), die bei Eingriffen in Grundrechte an das Legalitätsprinzip zu stellen seien.
Die Bundesregierung ist daher der Auffassung, daß §3a SbgPolstG als verfassungswidrig aufzuheben wäre.
5.2. Die Ktn. Landesregierung äußerte sich im wesentlichen wie folgt:
Vom Standpunkt der historischen Auslegung aus stehe die Landstreicherei im engen Zusammenhang mit dem Kompetenztatbestand des Strafrechtswesens, aber auch mit dem verwaltungsrechtlichen Kompetenztatbestand der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit. Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren, die durch die Landstreicherei entstehen können, dienten der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Ruhe. Diese spezifischen Gefahren träten nicht nur in einer bestimmten Verwaltungsmaterie auf; sie fielen daher unter den Kompetenztatbestand der Sicherheitspolizei. Die Gefahren, die von der Landstreicherei ausgingen beschränkten sich auch nicht auf den örtlichen Bereich einer Gemeinde. Es bestehe daher keine Landeskompetenz für die in Prüfung gezogene Regelung.
Die an Art6 Abs2 MRK anknüpfenden Bedenken des VfGH würden geteilt. Die in Prüfung gezogene Regelung verlange von dem der Landstreicherei Verdächtigen den Nachweis, daß er über die Mittel für seinen Unterhalt verfüge; dies bedeute eine zumindest teilweise Beweislastumkehr.
Demgegenüber würden die vom VfGH an Art5 Abs1 lite MRK anknüpfenden Bedenken nicht geteilt. Eine verwaltungsstrafrechtliche Inhaftierung wegen Landstreicherei könne sich nur auf Art5 Abs1 lite MRK stützen; der Haftgrund nach lita leg. cit. setze hingegen eine gerichtliche Verurteilung voraus. Ob eine Inhaftierung von Landstreichern mit oder ohne Pönalisierung aufgrund der Bestimmung des Art5 Abs1 lite MRK erfolgen könne, bzw. müsse, ergebe sich aus dieser Bestimmung nicht.
Zusammenfassend wird die Ansicht vertreten, daß §3a SbgPolstG kompetenzwidrig erlassen wurde und Art6 Abs2 MRK widerspricht.
5.3. Die Tir. Landesregierung führt im wesentlichen aus:
Der VfGH habe im Einleitungsbeschluß selbst das Bedürfnis nach Regelung der Landstreicherei durch den Landesgesetzgeber angeschnitten. Durch das Strafrechtanpassungsgesetz seien bis dahin geltende strafrechtliche Bestimmungen außer Kraft gesetzt worden, sodaß es nicht mehr möglich gewesen sei, gegen Landstreicherei mit Strafe vorzugehen. Daraufhin habe zuerst Tir. die Landstreicherei im §9 des Landes-Polizeigesetzes, LGBl. für Tir. 60/1976, unter Strafsanktion gestellt. Sbg. habe mit der in Prüfung gezogenen Regelung eine gleichlautende Bestimmung erlassen. Unter Landstreicherei werde im wesentlichen das erwerbs- und beschäftigungslose Umhertreiben ohne Nachweis eines redlichen Einkommens verstanden. Dieser Lebenssachverhalt verursache Gefahren, die es im öffentlichen Interesse abzuwehren gelte. Die Aktualität des Problems zeige die Entschließung des Tir. Landtages vom 3. Juli 1985, mit der die Landesregierung ersucht wurde zu prüfen, auf welche Weise gegen das "Sandlerunwesen" wirksam vorgegangen werden könne.
Die Landstreicherei sei offensichtlich weder den Kompetenztatbeständen der Art10 - 14 B-VG - abgesehen vorerst von jenem des Art10 Abs1 Z7 B-VG - noch einer Verwaltungsmaterie zuzurechnen, die am 11. Dezember 1929 (dem Tag des Inkrafttretens des erwähnten Kompetenztatbestandes) von der Rechtsordnung im Rahmen des Art15 Abs1 B-VG bereits ausgebildet war. Sie gehöre daher zur Verwaltungsmaterie "Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit". Die Frage, ob der allgemeinen Sicherheitspolizei auch die Abwehr von Gefahren zugeordnet werden könnte, die am 11. Dezember 1929 überhaupt noch nicht Gegenstand polizeilicher Maßnahmen waren, stelle sich nicht, weil die in Rede stehende Gefahr damals schon vorhanden war. Es komme daher darauf an, ob die Landstreicherei eine Angelegenheit der allgemeinen oder der örtlichen Sicherheitspolizei sei. Dabei seien die gleichen Kriterien wie bei der Abgrenzung des örtlichen Wirkungsbereiches der Gemeinde (Art118 Abs2 B-VG) heranzuziehen. In den Erläuternden Bemerkungen zur RV des Tir. Landes-Polizeigesetzes sei die Zuständigkeit des Landesgesetzgebers wie folgt begründet worden:
"Für die kompetenzrechtliche Zuordnung der Landstreicherei ergeben sich zwei Anknüpfungspunkte. Die Landstreicherei ist eng mit dem Betteln verbunden. Zumeist werden beide Hand in Hand gehen. Das Betteln wird aus strafrechtlicher Sicht zu den 'Delikten gegen die öffentliche Sicherheit' '- gemeint wohl richtig: Sittlichkeit -' gezählt (vgl. hiezu etwa die Entscheidung des OGH vom 12. März 1954, JBl. 1954, S. 407). Es ist aus diesem Blickwinkel möglich, das Betteln - und damit auch die Landstreicherei - dem Bereich der Sittlichkeitspolizei (Art15 Abs1 B-VG) zuzurechnen."
Der zweite Anknüpfungspunkt ergebe sich, da mit einer starken Ausbreitung der Landstreicherei zweifellos auch eine Gefährdung der Bevölkerung etwa im Hinblick auf die Sicherheit des Eigentums verbunden wäre, zum Tatbestand der Sicherheitspolizei, und zwar zur örtlichen Sicherheitspolizei (Art15 Abs2 B-VG). Denn die Landstreicherei sei heute wohl ein die örtliche Gemeinschaft belastendes und auch von ihr zu lösendes Problem geworden.
In jedem Fall - ob man nun der einen oder der anderen Auffassung zuneige - sei die Zuständigkeit des Landes zur gesetzlichen Regelung der Landstreicherei anzunehmen.
Wenn soziale Mißstände, wozu zweifellos auch die Landstreicherei zähle, strukturbedingt als Massenerscheinung auftreten, reiche das Strafrechtsinstrumentarium in der Regel nicht aus, um die Mißstände zu beseitigen. Es bedürfe dazu sozialer Maßnahmen. Der Landstreicherei sei stets nur durch strafrechtliche Normen entgegengetreten worden, woraus zu schließen sei, daß man nicht so sehr die Beseitigung eines sozialen Mißstandes im Auge gehabt habe, sondern die Bekämpfung von einzelnen sozialen Fehlentwicklungen, die auch durchaus im Verantwortungsbereich des einzelnen lagen. Das Problem der Landstreicherei im so verstandenen Sinn könne die Gemeinde innerhalb ihrer Grenzen aus eigener Kraft lösen, wie ein Vergleich mit den von der Gemeinde zwingend im eigenen Wirkungsbereich (Art118 Abs3 B-VG) zu besorgenden Aufgaben erkennen lasse. Nach Öhlinger (Kompetenzrechtliche Fragen der Sicherheitsmaßnahmen auf Schipisten, in: FS Kolb, S. 286) bestehe verfassungsrechtlich kein Einwand gegen die Auffassung, daß Art118 Abs2 B-VG dem Gesetzgeber einen gewissen "Spielraum" offen lasse; da eine Unterscheidung der beiden Teilbereiche der Sicherheitspolizei nicht "eine Lösung" zulassen müsse, sollte iS des föderalistischen Prinzips (vgl. Funk, Das System der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung im Lichte der Verfassungsrechtsprechung, S. 55 ff.) ein Entscheidungsspielraum zugunsten der Länder offenstehen.
Die Zuordnung der Landstreicherei zur örtlichen Sicherheitspolizei bewirke auch die Zuständigkeit des Landesgesetzgebers zur Erlassung von Verwaltungsstrafbestimmungen.
Aus dem Wortlaut des Art5 Abs1 MRK sei auch ein Ausschluß der Pönalisierung der Landstreicherei nicht erkennbar; es sei eher zu schließen, daß ein Freiheitsentzug entweder aus Gründen der lita oder der litb bis f erfolgen könne, wobei die einzelnen Tatbestände gleichwertig seien. Allerdings könnten nicht alle in Art5 Abs1 lite MRK angeführten Tatbestände unter Strafe gestellt werden, weil häufig das Schuldelement fehle. Bei Landstreichern sei aber nicht von vornherein ein Verschulden auszuschließen; die Tatbestandselemente "erwerbs- und beschäftigungslos" könnten durchaus vorwerfbar sein, wenn sie auch in manchen Fällen wohl die Folge von Schicksalsschlägen sein könnten. Es sei eine Frage der gesellschaftlichen Wertvorstellungen, welche Lebenssachverhalte mit Strafe bedroht werden. Die Landstreicherei sei jedenfalls ein soziales Übel. Ein Widerspruch zu Art5 Abs1 lite MRK liege nicht vor, wenn der Gesetzgeber zur Bekämpfung dieses Übels Strafsanktionen für erforderlich halte, ohne daß es ihm verwehrt sei, einen gesetzmäßigen Freiheitsentzug auch außerhalb eines Strafverfahrens anzuordnen.
Auch das vom VfGH aufgeworfene Bedenken, die in Prüfung gezogene Regelung verstoße gegen Art6 Abs2 MRK, wird nicht geteilt: Die Wendung "... nicht nachzuweisen vermag, daß er die Mittel zu seinem Unterhalt besitzt oder redlich zu erwerben sucht, ..." beziehe sich nicht auf die subjektive Tatseite, sondern sei ein (weiteres) Element des (objektiven) Tatbestandes. Es bleibe Sache der Behörde, den Nachweis zu erbringen, daß den Beschuldigten an der Verwirklichung der objektiven Tatbestandselemente ein Verschulden treffe. Daß sie dabei der Natur der Sache nach auf die Mitwirkung des Beschuldigten angewiesen sei, könne daran nichts ändern.
Zusammenfassend kommt die Tir. Landesregierung zum Ergebnis, daß die vom VfGH geäußerten Bedenken nicht zutreffen.
6. Der VfGH hat erwogen:
6.1. Zur Zulässigkeit:
Die Bf. wurden von Organen der Sicherheitspolizei in Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt festgenommen und angehalten. Diese Zwangsmaßnahmen wurden vertretbarerweise auf §3a SbgPolstG gestützt. Es ist offenkundig und wird auch weder von der Sbg. Landesregierung noch von einem anderen Beteiligten dieses Verfahrens bezweifelt, daß der VfGH in beiden Beschwerdeverfahren die in Prüfung gezogene Bestimmung anzuwenden hat. Die übrigen Prozeßvoraussetzungen des eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahrens liegen ebenfalls vor.
6.2. In der Sache selbst:
6.2.1. Der VfGH hat sich zunächst mit den im Einleitungsbeschluß aufgeworfenen Kompetenzbedenken befaßt.
Die Sbg. Landesregierung vermeint, als Anknüpfungspunkt für die Zuständigkeit zur Regelung der Landstreicherei durch den Landesgesetzgeber sei (auch) der Kompetenztatbestand der Sittlichkeitspolizei (Art118 Abs3 Z8 B-VG) zu sehen. In diesem Zusammenhang verweist sie auf das Urteil des OGH vom 12. März 1954, 5 Os 90/54 (SSt. XXV 26), welches zum Ausdruck bringe, daß der "Bettel" als Handlung gegen die öffentliche Sittlichkeit zu qualifizieren sei. Die Sbg. Landesregierung meint - hieran anknüpfend -, Betteln und Landstreicherei seien ihrem Wesen nach eng verwandt und gingen meist Hand in Hand.
Diese Ausführungen tragen jedoch sowohl der Systematik des Strafgesetzes (StG) als auch der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes nur ungenügend Rechnung. Das StG hat in seiner ursprünglichen Fassung aus dem Jahre 1852 wohl den Tatbestand des Bettelns (damals §517) im XIII. Hauptstück (§§500 - 525) als Übertretung gegen die öffentliche Sittlichkeit behandelt, sah eine Strafbestimmung gegen die Landstreicherei im zitierten Hauptstück demgegenüber nicht vor. Die unterschiedliche Natur der beiden Verhaltensweisen ergibt sich zusätzlich aus dem Urteil des OGH vom 8. September 1971, 11 Os 102/71 (JBl. 1972, 109) welches betont, daß die Tatbestände der §§1 (Landstreicherei) und 5 (Betteln) des Landstreichereigesetzes 1885 jeweils durchaus selbständige Verhaltensweisen mit unterschiedlichem Unwert erfassen.
Ob die (seinerzeitige) Zuordnung eines Straftatbestandes gegen das Betteln zu den Tatbeständen gegen die Sittlichkeit nach sich ziehen könnte, daß Verwaltungsregelungen, die gegen eine solche Verhaltensweise gerichtet sind, heute dem Kompetenztatbestand der Sittlichkeitspolizei nach Art118 Abs3 Z8 B-VG zuzuordnen wären, ist hier nicht zu erörtern (vgl. hiezu VfSlg. 7960/1976).
Damit stellt sich die weitere Frage, ob das im Einleitungsbeschluß geäußerte Bedenken zutrifft, daß Maßnahmen gegen die Landstreicherei eine Angelegenheit der allgemeinen und nicht der örtlichen Sicherheitspolizei bilden. Zur Sicherheitspolizei gehören, wie der VfGH in VfSlg. 3201/1957, 5910/1969 und 8155/1977, jeweils unter Hinweis auf Vorjudikatur, ausgesagt hat, jene Maßnahmen, die der Abwehr der allgemeinen Gefahren für die öffentliche Sicherheit, Ruhe und Ordnung dienen. Eine Gefahr ist dann eine allgemeine, wenn sie keiner bestimmten Verwaltungsmaterie (außer der Sicherheitspolizei) zugeordnet werden kann, wenn sie nicht nur innerhalb einer bestimmten Verwaltungsmaterie auftritt (was nicht ausschließt, daß im einzelnen Fall die Abwehr aus einem Anlaß erforderlich werden kann, der einer bestimmten Verwaltungsmaterie zuzuzählen ist). Ob eine Maßnahme zur örtlichen Sicherheitspolizei iS des Art15 Abs2 B-VG gehört, hängt davon ab, ob sie das Interesse der Gemeinde zunächst berührt, ob also räumliche Grundlage des geschützten Interesses nur das Gemeindegebiet oder ein Teil desselben ist, und ob die Gemeinde die Angelegenheit innerhalb ihrer Grenzen durch eigene Kräfte besorgen kann (vgl. VfSlg. 3570/1959). Daran hat die B-VG-Nov. 1974, BGBl. 444, nichts geändert, die ua. durch eine Neufassung des Art15 Abs2 den Begriff der "örtlichen Sicherheitspolizei" näher als bisher, und zwar derartig konkretisiert hat, daß darunter auch die Wahrung des öffentlichen Anstandes und die Abwehr ungebührlicherweise hervorgerufenen störenden Lärmes fällt (vgl. insbesondere VfSlg. 7960/1976). Daß bei der Neufassung des Art15 Abs2 B-VG dem Verfassungsgesetzgeber die Bestimmungen des ArtVIII EGVG 1950 vor Augen standen, ist aus den Erläuterungen in der RV zur späteren B-VG-Nov. 1974 (182 BlgNR XIII GP) zu entnehmen: "Da es sich bei Verletzungen des öffentlichen Anstandes und der ungebührlicherweise erfolgten Erregung störenden Lärms in der Regel um geringfügige Angelegenheiten handelt, kann es als durchaus gerechtfertigt angesehen werden - entgegen der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts -" (s. hiezu zB VfSlg. 4813/1964), "diese Angelegenheiten zu solchen der örtlichen Sicherheitspolizei zu zählen." Wie der VfGH in VfSlg. 7697/1975 ausgesagt hat, kann aus der der Abgrenzung der Angelegenheiten der örtlichen Sicherheitspolizei von Angelegenheiten der allgemeinen Sicherheitspolizei dienenden Bestimmung des Art15 Abs2 B-VG nicht der Schluß gezogen werden, daß außer den sich auf die Wahrung des öffentlichen Anstandes und die Abwehr ungebührlicherweise hervorgerufenen störenden Lärmes beziehenden Straftatbeständen des ArtVIII Abs1 EGVG 1950 auch andere Straftatbestände dieser Gesetzesbestimmung seit dem Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1974 in die Zuständigkeit der Länder zur Gesetzgebung und Vollziehung fielen; gerade der Umstand, daß der Verfassungsgesetzgeber bei der Neuregelung der örtlichen Sicherheitspolizei sich lediglich auf diese Tatbestände beschränkte, zeige, daß er nur diese Materien in ihrer Bedeutung so einschätzte, daß sie von den Gemeinden als Angelegenheiten der örtlichen Sicherheitspolizei im eigenen Wirkungsbereich (und zwar aus dem Bereich der Landesvollziehung) besorgt werden können.
Anknüpfend an die Erläuterungen zur B-VG-Nov. 1974 und die in ständiger Rechtsprechung des VfGH getroffenen Aussagen ist der VfGH der Ansicht, daß es sich bei der Verwaltungsmaterie "Landstreicherei" um keine Angelegenheit der örtlichen Sicherheitspolizei handelt. Schon rein begrifflich handelt es sich bei der Abwehr von (allgemeinen) Gefahren, die von Personen ausgehen, die weder einen bestimmten Wohnsitz noch die Mittel für ihren Unterhalt besitzen und weder ein Gewerbe noch einen Beruf gewerbsmäßig ausüben, um eine Angelegenheit, die nicht im ausschließlichen oder überwiegenden Interesse einer in einer Gemeinde verkörperten örtlichen Gemeinschaft gelegen sein kann. Gleichgültig, ob man die Zielsetzung des Regelungsgegenstandes in der Hintanhaltung kriminogener Einflüsse oder anderer die Sicherheit und Ordnung betreffender Umstände erblickt, handelt es sich jedenfalls nicht um eine bloße Wahrung des öffentlichen Anstandes. Die beabsichtigte Gefahrenabwehr hat den Schutz von allgemeine Bedeutung besitzenden und nicht nur den örtlichen Verhältnissen zuzuordnenden Rechtsgütern zum Ziel, deren Beeinträchtigung mit den lokalen Verhältnissen offenkundig weder in sachlicher noch in persönlicher Hinsicht notwendig verknüpft ist (vgl. hiezu VfSlg. 3570/1959 und VwSlg. 7027 A/1966). Dafür spricht nicht zuletzt - worauf auch Art5 Abs1 lite MRK hindeutet -, daß es sich bei der Landstreicherei um ein Problem handelt, das europaweit besteht. Auch wenn die Landstreicherei tatsächlich nur in bestimmten Gemeinden (Städten) in Erscheinung treten sollte, ist dieser Umstand für die Zuordnung der Materie Landstreicherei zur allgemeinen Sicherheitspolizei ohne Bedeutung. Falls der - zuständige - (Bundes-)Gesetzgeber es nicht für erforderlich erachten sollte, eine gesetzliche Regelung zu treffen, so ist dies ebenfalls unmaßgeblich. Kompetenzmäßig entscheidend ist, daß es sich beim Regelungsgegenstand um eine Angelegenheit handelt, die der örtlichen Sicherheitspolizei nicht zugezählt werden kann.
Die in Prüfung gezogene Bestimmung ist soweit verfassungswidrig, weil sie kompetenzwidrig erlassen wurde.
6.2.2. Der VfGH hat sich weiters mit der Frage befaßt, ob die in Prüfung gezogene Regelung im Widerspruch zu Art6 Abs2 MRK steht. Diese in Österreich im Verfassungsrang stehende Konventionsbestimmung lautet:
"Bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld wird vermutet, daß der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist".
Die Sbg. Landesregierung ist der Ansicht, daß die in Prüfung gezogene Regelung nicht gegen Art6 Abs2 MRK verstoße, weil der der Landstreicherei Beschuldigte nicht seine Unschuld zu beweisen habe, sondern lediglich gehalten sei, an der Sachverhaltsfeststellung mitzuwirken; der Nachweis des "erwerbs- und beschäftigungslosen Umhertreibens" obliege der Behörde. Überdies binde Art6 Abs2 MRK unmittelbar nur den Richter. Die Tir. Landesregierung ist der Ansicht, daß der vom Beschuldigten zu führende Nachweis sich nicht auf die subjektive Tatseite beziehe, sondern als Element des (objektiven) Tatbestandes zu werten sei; die Behörde sei bei der Prüfung eines Tatverdachtes schon der Natur der Sache nach auf die Mitwirkung des Beschuldigten angewiesen.
Der VfGH hält derartige Interpretationen der in Prüfung gezogenen Regelung mit ihrem Wortlaut nicht für vereinbar. Der Tatbestand der Landstreicherei wird nach §3a SbgPolStG von jemand verwirklicht, dem zur Last fällt, daß er sich erwerbs- und beschäftigungslos umhertreibt, soferne der Tatverdächtige nicht nachzuweisen vermag, daß er die Mittel zu seinem Unterhalt besitzt oder redlich zu erwerben sucht. Die Regelung setzt sich somit aus zwei Tatbestandselementen zusammen, nämlich aus dem erwerbs- und beschäftigungslosen Umhertreiben eines Tatverdächtigen einerseits und aus dessen fehlendem Bestreben, einem redlichen Erwerb trotz Mittellosigkeit nachzugehen, andererseits. Während der Nachweis des ersten Tatbestandselementes offenkundig der Behörde obliegt, trifft nach dem eindeutigen Wortlaut der Regelung die Beweislast für das Nichtvorliegen des zweiten Tatbestandselementes den Tatverdächtigen.
Damit wird aber das Verfassungsgebot des Art6 Abs2 MRK ins Gegenteil verkehrt. Eine solche Regelung verstößt gegen diese Verfassungsbestimmung und ist somit verfassungswidrig.
6.2.3. Nach dem Gesagten steht fest, daß die in Prüfung gezogene Regelung nicht nur vom unzuständigen Gesetzgeber erlassen wurde, sondern auch inhaltlich mit Verfassungswidrigkeit belastet ist. Da eine vergleichbare Ersatzregelung somit nicht erlassen werden kann, erübrigt es sich, auf die weiteren Bedenken des Einleitungsbeschlusses einzugehen.
7. Die in Prüfung gezogene Bestimmung ist daher aus den in Punkt
6.2.1. (Kompetenzwidrigkeit) und 6.2.2. (Widerspruch zu Art6 Abs2 MRK) dargelegten Gründen als verfassungswidrig aufzuheben.
Der Ausspruch, daß frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit treten, beruht auf Art140 Abs6 erster Satz B-VG.
Die Verpflichtung des Landeshauptmannes zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung ergibt sich aus Art140 Abs5 erster Satz B-VG und §64 Abs2 VerfGG.
Schlagworte
VfGH / Präjudizialität, Landstreicherei, Polizeirecht, Kompetenz Bund - Länder Sittlichkeitspolizei, Lärmerregung, Anstandsverletzung, Sicherheitspolizei, Sittlichkeitspolizei, Unschuldsvermutung, BeweislastEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1986:G5.1986Dokumentnummer
JFT_10138789_86G00005_00