Index
10 VerfassungsrechtNorm
B-VG Art140 Abs7 zweiter SatzBeachte
Anlaßfall zu VfSlg. 11195/1986Leitsatz
StGG Art8, MRK Art5; G zum Schutze der persönlichen Freiheit; Festnahme gemäß §35 litb VStG 1950 und nachfolgende Anhaltung im Anlaßfall auf §3a Sbg. Landes-PolizeistrafG gestützt, welche Bestimmung mit Erk. des VfGH aufgehoben wurde; Verletzung im Recht auf persönliche FreiheitSpruch
Die Bf. sind durch ihre Festnahme am 1. September 1983 um zirka 20.30 Uhr in Sbg., Akademieparkplatz, durch Organe der Bundespolizeidirektion Sbg. sowie durch ihre darauffolgende Anhaltung bis 2. September 1983, 14.00 Uhr, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1. 1. In den im wesentlichen übereinstimmenden, zu B638/83 und B639/83 protokollierten, an den VfGH gerichteten Beschwerden wird vorgebracht:
Beide Bf. seien derzeit beschäftigungslos, der Bf. H F beziehe Arbeitslosengeld, der Bf. E T Notstandshilfe nach den Bestimmungen des Arbeitslosenversicherungsgesetzes. Da beide Bf. über eigene Wohnmöglichkeiten nicht verfügten, sei ihnen vom Verein "Treffpunkt" in dessen Räumlichkeiten Unterkunft gewährt worden. Mit Unterstützung dieses Vereines sei ihnen von einer Firma ein nicht mehr benützter Linienbus überlassen und für dessen Aufstellung vom Grundamt des Magistrates der Stadt Sbg. eine geeignete Abstellfläche zur Verfügung gestellt worden. Diesen Autobus der als Unterkunft adaptiert werden sollte hätten sie fallweise zur Übernachtung benützt.
Am 1. September 1983 seien die Bf. von Jugendlichen, die den Bus mit Steinen bewarfen, belästigt worden, weshalb sie die Polizei verständigten. Nachdem gegen 20.30 Uhr eine Funkstreife eingetroffen war, seien sie von den Beamten der Landstreicherei nach §3a des Sbg. Landes-Polizeistrafgesetzes, LGBl. 58/1975 idF LGBl. 13/1979 (künftig: SbgPolStG), bezichtigt und festgenommen worden, obwohl sie sich auswiesen und mehrfach darauf hinwiesen, daß sie sich rechtmäßig an diesem Ort befänden, im Verein "Treffpunkt" polizeilich gemeldet seien und Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe bezögen. Die Nacht über seien sie im Arrestlokal der Bundespolizeidirektion Sbg. angehalten worden. Mit Straferkenntnissen vom 2. September 1983 sei über sie jeweils eine Freiheitsstrafe von 5 Tagen verhängt worden. Beide Strafbescheide seien in Rechtskraft erwachsen, weil die Bf. irrtümlich - geschockt von den Ereignissen - einen Rechtsmittelverzicht unterzeichneten. Am 2. September 1983 um 14.00 Uhr seien sie in Strafhaft überstellt und nach Bewilligung eines Strafaufschubes um 20.30 Uhr aus der Haft entlassen worden.
Beide Bf. beantragen die Feststellung, daß sie durch die Festnahme am 1. September 1983 und ihre darauffolgende Anhaltung bis 14.00 Uhr des 2. September 1983 in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Freiheit der Person und Gleichheit vor dem Gesetz verletzt worden seien. Sie regen an, die Verfassungsmäßigkeit des §3a SbgPolStG von Amts wegen zu prüfen.
1.2. Die durch die Finanzprokuratur vertretene Bundespolizeidirektion Sbg. hat als bel. Beh. in beiden Beschwerdefällen inhaltlich übereinstimmende Gegenschriften erstattet. Den einschreitenden Beamten sei bekannt gewesen, daß die Bf. im Verein "Treffpunkt" nur zum Schein gemeldet gewesen seien. Auch der Bus sei von den Bf. nicht bewohnt, sondern nur gelegentlich als Schlafstelle benutzt worden. Da die Bf. somit keinen Wohnsitz gehabt hätten, sich also erwerbs- und beschäftigungslos umhergetrieben hätten, seien sie bei Begehung einer Verwaltungsübertretung nach §3a SbgPolSt auf frischer Tat betreten worden. Die sich aus dem Tatbild ergebenden Umstände des unsteten Aufenthaltes und des Umherziehens sowie das Wissen um die Verhaltensspezifika der amtsbekannten Bf. habe den begründeten Verdacht erweckt, sie würden sich der Strafverfolgung zu entziehen trachten. Die Bf. seien daher gemäß §35 litb VStG 1950 festgenommen und in das Polizeigefangenenhaus Sbg. eingeliefert worden. Nachdem gegen die Bf. am 2. September 1983 Verwaltungsstrafverfahren durchgeführt und über sie mit Strafbescheiden, die zufolge Rechtsmittelverzichtes in Rechtskraft erwuchsen, Freiheitsstrafen in Höhe von je 5 Tagen verhängt worden seien, sei mit dem Vollzug der Freiheitsstrafen unverzüglich begonnen worden; jedoch sei noch am gleichen Tag ein Strafaufschub bewilligt und die Bf. seien um 20.30 Uhr aus der Haft entlassen worden.
Die bel. Beh. bestreitet, daß die Bf. in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt worden seien, und beantragt, die Beschwerden als unbegründet abzuweisen.
2. Der VfGH hat die Rechtssachen zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.
3. Aus den vorgelegten Verwaltungsakten ist zu entnehmen, daß die Bf. am 1. September 1983 um zirka 20.30 Uhr in Sbg., Akademieparkplatz, durch Organe der Bundespolizeidirektion Sbg. wegen des Verdachts der Landstreicherei nach §3a SbgPolStG, gestützt auf §35 VStG 1950 festgenommen und daraufhin bis 2. September 1983, 14.00 Uhr, im Polizeigefangenenhaus angehalten wurden. Erst nachfolgend wurden gegen sie Verwaltungsstrafverfahren durchgeführt.
4. Aus Anlaß der vorliegenden Beschwerdefälle hat der VfGH ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §3a SbgPolStG eingeleitet und diese Bestimmung mit Erk. vom heutigen Tag G5 - 6/86 als verfassungswidrig aufgehoben.
5. Der VfGH hat über die - zulässigen (s. das Erk. vom heutigen Tag G5 - 6/86) - Beschwerden erwogen:
Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 MRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen rechtswidrige Verhaftung (s. VfSlg. 3315/1958 ua.):
Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, bestimmt in seinem §4, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.
Nach §35 VStG 1950 setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten Fällen voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß sich also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Handlung zu Schulden kommen lassen und bei Begehung dieser Tat angetroffen werden, wobei die erste dieser beiden Voraussetzungen schon dann erfüllt ist, wenn das Organ die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund annehmen konnte (s. VfSlg. 4143/1962, 7309/1974; VfGH 20. September 1984 B427/82).
Die bel. Beh. stützt die Festnahme und nachfolgende Anhaltung der Bf. auf §3a SbgPolStG, welche Bestimmung mit Erkenntnis des VfGH vom heutigen Tag G5 - 6/86 als verfassungswidrig aufgehoben wurde.
Gemäß Art140 Abs7 B-VG ist ein als verfassungswidrig aufgehobenes Gesetz auf den Anlaßfall nicht mehr anzuwenden. Die Festnahme und Anhaltung der Bf. wurde somit auf ein verfassungswidriges Gesetz gestützt. Es ist nach der Lage des Falles offenkundig, daß die Bf. durch die nur auf diese Bestimmung gestützte Festnahme und Anhaltung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt wurden.
Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Schlagworte
Verwaltungsstrafrecht, Festnehmung, VfGH / AnlaßfallEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1986:B638.1983Dokumentnummer
JFT_10138789_83B00638_00