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41 Innere AngelegenheitenNorm
B-VG Art140 Abs7 dritter SatzLeitsatz
Aufrechterhaltung eines seinerzeit verhängten Aufenthaltsverbotes gem. §8 gewinnt seinen Inhalt nur aus dem Zusammenhalt mit §3 FrPG; keine Bedenken gegen §8 infolge der verfassungsrechtlichen Unangreifbarkeit des §3 nach dessen Aufhebung mit Erk. des VfGH unter Fristsetzung (VfSlg. 10737/1985); auch die Aufrechterhaltung eines Aufenthaltsverbotes kann einen Eingriff in das Recht auf Schutz des Privat- und Familienleben nach Art8 MRK bewirken; unmittelbare innerstaatliche Anwendbarkeit des Art8 Abs2 MRK auch iZm. der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes bis zur Erlassung näherer gesetzlicher Vorschriften, die dem in Art8 MRK enthaltenen speziellen, an den Gesetzgeber gerichteten, Determinierungsgebot entsprechen; Verletzung des Art8 MRK dadurch, daß die gebotene Interessenabwägung nicht vorgenommen wurdeSpruch
Der Bf. ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Bf. zu Handen des Beschwerdevertreters die mit S 11.000,-bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1.a) Die Bezirkshauptmannschaft (BH) Dornbirn verhängte mit dem in Rechtskraft erwachsenen Bescheid vom 9. Juni 1983 über
O B - einen türkischen Staatsangehörigen - gemäß §3 Abs1 und 2 lita iVm §4 des Fremdenpolizeigesetzes, BGBl. 75/1954, (FrPG) ein bis zum 9. Juni 1988 befristetes Aufenthaltsverbot für das gesamte Bundesgebiet.
Das Aufenthaltsverbot wurde damit begründet, daß über den Genannten in den Jahren 1978 bis 1983 mehrere Verwaltungsstrafen nach den KFG, nach ArtIX EGVG, nach dem PaßG und nach §2 Abs1 iVm §14 FrPG verhängt worden waren und daß er wegen eines Verkehrsunfalles in alkoholisiertem Zustand vom Bezirksgericht Feldkirch am 31. März 1983 zu einer Geldstrafe von S 4.000,-- (im NEF 20 Tage Ersatzfreiheitsstrafe) verurteilt worden war.
O B wurde am 31. August 1983 aus Österreich abgeschoben.
b) Am 25. Juni 1986 stellte der Genannte an die BH Dornbirn den Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbotes. Er begründete dies im wesentlichen damit, daß den öffentlichen - geringfügigen - Interessen an der Aufrechterhaltung des Aufenthaltsverbotes gravierende persönliche Interessen seiner Familie gegenüberstünden.
Die Bezirkshauptmannschaft Dornbirn gab mit Bescheid vom 29. September 1986 dem Antrag gemäß §8 FrPG keine Folge. Sie begründete dies wie folgt:
"O B stützt seinen Antrag auf §8 Fremdenpolizeigesetz, der besagt, daß das Aufenthaltsverbot von der Behörde, die es erlassen hat, auf Antrag oder von Amts wegen aufzuheben ist, wenn die Gründe für seine Erlassung weggefallen sind.
Für die Beurteilung des Antrages ist deshalb allein wesentlich, ob die Gründe, die zur Erlassung des Aufenthaltsverbotes geführt haben, weggefallen sind.
Der Grund für die Verhängung des Aufenthaltsverbotes waren insgesamt 16 Verwaltungsübertretungen seit dem Jahre 1978, ein schwerer Verkehrsunfall, den O B in alkoholisiertem Zustand verursacht hat und bei dem er und sein Mitfahrer schwer verletzt wurden, sowie die Tatsache, daß er sich seit 2.3.1983 bis zur Erlassung des Aufenthaltsverbotes ohne einen entsprechenden Sichtvermerk in Österreich aufgehalten hat.
Die Bezirkshauptmannschaft Dornbirn ist der Überzeugung, daß die zahlreichen Straftaten, die zur Verhängung des Aufenthaltsverbotes geführt haben, auch bei Abwägung der privaten und öffentlichen Interessen ausreichen, um ein größeres öffentliches Interesse an der Abschiebung des Fremden als das private Interesse des Fremden zum weiteren Verbleib in Österreich annehmen zu können.
Der Antragsteller irrt jedoch, wenn er davon ausgeht, daß Straftaten, die zur Verhängung des Aufenthaltsverbotes geführt haben, nach Ablauf von fünf Jahren ab Begehung der Tat im Verfahren gemäß §8 Fremdenpolizeigesetz als nicht mehr existent zu betrachten sind. Dies würde bedeuten, daß wegen Begehung von Straftaten ein nie mehr als höchstens fünf Jahre dauerndes Aufenthaltsverbot verhängt werden darf. Dies ist vom Gesetzgeber aber nicht beabsichtigt.
Aus der Tatsache allein, daß der Antragsteller seit Verlassen des Bundesgebietes in seiner Heimat nicht mehr strafgerichtlich verurteilt worden ist, kann nicht geschlossen werden, daß nun keine Gefahr mehr besteht, daß der Ausgewiesene in Österreich die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit stört. Weitere Fakten aber, die auf eine Änderung der Sinneshaltung des Antragstellers schließen lassen, hat dieser jedoch nicht vorgebracht.
Da die Gründe, die zur Verhängung des Aufenthaltsverbotes geführt haben, nicht weggefallen sind, war auch dem Antrag nicht stattzugeben."
2. Gegen diesen Bescheid vom 29. September 1986 erhebt O
B die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde an den VfGH. Darin wird die Verletzung des nach Art8 MRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des bekämpften Bescheides beantragt.
3. Die BH Dornbirn als bel. Beh. erstattete eine Gegenschrift, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde begehrt.
4. Die hier in erster Linie maßgebende Bestimmung des §8 FrPG lautet:
"Das Aufenthaltsverbot ist von der Behörde, die es erlassen hat, auf Antrag oder von Amts wegen aufzuheben, wenn die Gründe für seine Erlassung weggefallen sind."
II. Der VfGH hat über die - zulässige (siehe zur Erschöpfung des administrativen Instanzenzuges §11 Abs4 FrPG) - Beschwerde erwogen:
1.a) Der VfGH hat mit Erkenntnis vom 12. Dezember 1985, G225/85 und Folgezahlen, §3 FrPG als verfassungswidrig aufgehoben, jedoch verfügt, daß diese Aufhebung erst mit Ablauf des 30. November 1986 in Kraft tritt.
b) Zunächst ist festzustellen, daß gegen §8 FrPG unter dem Gesichtspunkt des vorliegenden Beschwerdefalles keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen. Diese Bestimmung gewinnt ihren Inhalt nur aus dem Zusammenhalt mit §3 FrPG über das Aufenthaltsverbot. Diese Vorschrift in der Stammfassung ist aber aufgrund des oben (II.1.a) zitierten hg. Erkenntnisses vom 12. Dezember 1985 verfassungsrechtlich unangreifbar (vgl. zB VfSlg. 4718/1964, 5310/1966, 8483/1979). §3 FrPG in der zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung maßgebenden Stammfassung kann daher innerstaatlich nicht in Widerspruch zu dem auf Verfassungsstufe befindlichen Art8 MRK stehen. Damit aber war vorerst auch §8 FrPG verfassungsrechtlich saniert.
c) Die vom VfGH verfügte Aufhebung des §3 FrPG hat keinerlei Eingriff in die Rechtskraft früher aufgrund dieser Vorschrift erlassener Bescheide bewirkt. §8 FrPG berechtigt oder verpflichtet die Behörde nicht, nun zu überprüfen, ob der Bescheid, mit dem seinerzeit das Aufenthaltsverbot verhängt wurde, rechtmäßig war. Vielmehr hat die Behörde das Aufenthaltsverbot (nur dann) aufzuheben "wenn die Gründe für seine Erlassung weggefallen sind", wenn sich also nach Erlassung des Aufenthaltsverbotes Umstände, die seinerzeit für seine Verhängung maßgebend waren, derart zugunsten des Fremden geändert haben, daß das Aufenthaltsverbot nun nicht mehr zu verhängen wäre.
Wie der VfGH im Erkenntnis vom 12. Dezember 1985 (s.o. II.1.a) dargetan hat, kann schon die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gemäß §3 FrPG - und nicht erst die Ablehnung eines Vollstreckungsaufschubes nach §6 Abs2 FrPG - einen Eingriff in das durch Art8 MRK gewährleistete Recht auf Privatund Familienleben bewirken. Die Aufrechterhaltung eines Aufenthaltsverbotes kann dieselbe Wirkung entfalten.
Art8 MRK enthält - wie im zitierten hg. Erkenntnis ausgeführt wurde - ein spezielles, an den Gesetzgeber gerichtetes Determinierungsgebot; diese auf Verfassungsstufe stehende Konventionsbestimmung verpflichtet den einfachen Gesetzgeber, die für die Verhängung eines Aufenthaltsverbotes bestehenden Eingriffsschranken deutlich zu machen.
Solange aber der Gesetzgeber diese näheren Bestimmungen nicht erlassen hatte - das war im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides noch nicht der Fall (siehe FrPG-Nov., BGBl. 555/1986) - hatte die Verwaltungsbehörde auch im Zusammenhang mit der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes den Art8 Abs2 MRK als innerstaatlich unmittelbar anwendbares (zusätzlich zu §3 FrPG geltendes) Recht anzuwenden. Die Verwaltungsbehörde hat also anhand des Art8 Abs2 MRK in jedem konkreten Fall zu beurteilen, ob die dort - weitmaschig umschriebenen Voraussetzungen vorliegen, die es erlauben, ungeachtet des Eingriffes in das Privat- und Familienleben ein Aufenthaltsverbot zu erlassen; der Eingriff muß mithin ein Ziel haben, das nach Art8 Abs2 MRK gerechtfertigt ist und muß zur Erreichung dieses Zieles in einer demokratischen Geselllschaft notwendig sein.
Wenn die Behörde bei Erlassung des Aufenthaltsverbotes diese Aufgabe vernachlässigt, verletzt sie das durch Art8 MRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht. Gleiches gilt für die Entscheidung nach §8 FrPG, ob das Aufenthaltsverbot aufrechtzuerhalten oder aufzuheben ist (siehe VfGH 8.10.1986 B490/86).
d) Im Beschwerdefall hat die bel. Beh. diese entscheidungswesentliche Frage nur zum Schein behandelt:
Der Bf. hatte in seinem Antrag auf Aufhebung des seinerzeit über ihn verhängten Aufenthaltsverbotes auf seine familiären Bindungen in Österreich hingewiesen. Die Behörde ermittelte, daß die Ehegattin, seine beiden (fünf Jahre und ein Jahr) alten Kinder, seine Eltern und zwei Brüder in Lustenau/Vorarlberg wohnen.
Der Bf. hatte im Antrag weiters darauf verwiesen, daß den Verurteilungen, mit denen das Aufenthaltsverbot begründet worden war, geringfügige Übertretungen zugrundegelegen seien und daß er seither weder in Österreich noch in der Türkei "auffällig geworden" sei; er hatte die Behauptung, in der Türkei nicht vorbestraft zu sein, auch belegt.
Die bel. Beh. wäre zumindest bei dieser Sachlage verhalten gewesen, sich auch mit der Frage auseinanderzusetzen, ob sich seit Erlassung des Aufenthaltsverbotes jene Umstände geändert haben, die zur Beurteilung der familiären und privaten Interessen einerseits und der öffentlichen Interessen andererseits maßgebend sind. Sie hätte schließlich diese Interessen gegeneinander abzuwägen gehabt. Eine solche Abwägung muß nachvollziehbar sein. Sie darf sich nicht - wie hier geschehen - darauf beschränken, ohne jede nähere Darlegung einfach zu behaupten, daß das öffentliche Interesse an der Abschiebung des Fremden größer sei als sein privates Interesse am Aufenthalt in Österreich.
Die Behörde hat also die gebotene Interessensabwägung iS des Gesetzes nicht vorgenommen. Daraus folgt, daß der Bf. im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art8 MRK verletzt wurde.
Der angefochtene Bescheid war mithin aufzuheben.
2. Der Kostenspruch gründet sich auf §88 VerfGG.
In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von S 1.000,-- enthalten.
3. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung beschlossen werden.
Schlagworte
Fremdenpolizei, Aufenthaltsverbot, VfGH / Aufhebung Wirkung, Bescheid Rechtskraft, GrundrechteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1987:B1000.1986Dokumentnummer
JFT_10129774_86B01000_00