TE Vfgh Erkenntnis 1987/2/26 B998/86

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Veröffentlicht am 26.02.1987
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Index

10 Verfassungsrecht
10/04 Wahlen

Norm

B-VG Art26
NRWO 1971 §27
NRWO 1971 §27 Abs2

Leitsatz

Streichung aus dem Wählerverzeichnis gem. §31 NRWO 1971; ausschlaggebend für einen Wohnsitz iSd §27 Abs2 sind nur die tatsächlichen Lebens- und Wohnverhältnisse des Wahlberechtigten; hiezu kein Ermittlungsverfahren und keine Möglichkeit für den Bf., zum Inhalt der (von einem Dritten erhobenen) Berufungsschrift und der Administrativakten als Beweismaterial Stellung zu nehmen; durch wesentliche Mängel im Ermittlungsverfahren Verletzung im Recht auf Teilnahme an der Nationalratswahl nach Art26 B-VG

Spruch

Der Bf. ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Teilnahme an der Nationalratswahl verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Bf. zu Handen des Beschwerdevertreters die mit 11.000 S bestimmten Verfahrenskosten binnen vierzehn Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. Am 24. Oktober 1986 begehrte H G mit Einspruch bei der Stadtgemeinde Kufstein (Bundesland Tirol) die Streichung des Dr. G P aus dem dort aufliegenden Wählerverzeichnis für die Wahl zum Nationalrat vom 23. November 1986 gemäß §31 Nationalrats-Wahlordnung 1971, BGBl. 391/1970, idF BGBl. 232/1984 (NRWO), und zwar mit der - sinngemäß zusammengefaßten Begründung, daß dieser Wahlberechtigte seinen ordentlichen Wohnsitz nicht in Kufstein, sondern in der Gemeinde Thiersee habe.

1.1.2. Die Gemeindewahlbehörde Kufstein gab diesem Einspruch mit Beschluß vom 28. Oktober 1986 - ausgefertigt am 29. Oktober 1986 - nicht statt.

1.2.1. H G brachte gegen diese Entscheidung der Gemeindewahlbehörde fristgerecht das Rechtsmittel der Berufung ein.

1.2.2.1. Die Bezirkswahlbehörde Kufstein gab der Berufung mit Bescheid vom 12. November 1986, ZIIa AÜ-12/3-1986, Folge und verfügte die Streichung des Dr. G P aus dem Wählerverzeichnis.

1.2.2.2. Begründend wurde ua. ausgeführt:

         " . . . Die Behauptung des Dr. G P, in Kufstein seinen

'Hauptwohnsitz' - den er mit seinen Interessen als Dienstnehmer der

Stadtgemeinde Kufstein und seinen gesellschaftlichen Interessen

begründet - und bei seiner Familie in Thiersee nur einen

'Zweitwohnsitz' zu haben, vermag allenfalls meldegesetzlichen

Vorschriften zu genügen, deckt sich aber nach Ansicht der

Bezirkswahlbehörde Kufstein in keiner Weise mit der Definition des

'ordentlichen Wohnsitzes' nach dem Wählerevidenzgesetz, der allein

die Grundlage für eine rechtmäßige Aufnahme in das Wählerverzeichnis

einer Gemeinde . . . sein kann. Zwar kann eine Person auch an zwei

oder mehreren Orten ihre auf Bleiben gerichtete Wohnstätte in der

Absicht aufgeschlagen haben, an diesen Orten ständig ihre

Lebensführung in zweckbestimmter Ordnung zu verteilen, und demgemäß

mehrere Wohnsitze haben . . . ; ob freilich eine Person trotz der

Begründung eines neuen Wohnsitzes auch den bisherigen Wohnsitz behalten hat, wird davon abhängen, ob aus den konkreten Umständen des Einzelfalles auch nach außen hin ihre Absicht erkennbar ist, nicht nur den neuen Wohnsitz zu einem Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen zu gestalten, sondern auch den bisherigen Wohnsitz als einen Mittelpunkt ihrer wirtschaftlichen, beruflichen oder gesellschaftlichen Betätigung beizubehalten. Hiezu bestimmt §2 Abs3 Wählerevidenzgesetz: 'Hat ein Wahloder Stimmberechtigter in mehreren Gemeinden einen ordentlichen Wohnsitz, so ist er in die Wählerevidenz der Gemeinde einzutragen, in der er am 31. Dezember des Vorjahres tatsächlich gewohnt hat' . . .

         Dr. G P hätte daher anläßlich der Verlegung seines

Wohnsitzes nach Vorderthiersee allenfalls die Beibehaltung eines

weiteren Wohnsitzes in Kufstein geltend machen können. Gesetzlich

nicht gedeckt ist nach Ansicht der Bezirkswahlbehörde Kufstein

seine Vorgangsweise, in Vorderthiersee nur einen 'Zweitwohnsitz'

. . . angemeldet zu haben. . .

         In Würdigung dieser Umstände ist die Bezirkswahlbehörde

Kufstein zum Schluß gekommen, daß Dr. G P den Mittelpunkt seiner

Lebensbeziehungen und damit seinen ordentlichen Wohnsitz in

Vorderthiersee Nr. ... hat . . . "

1.3.1. Gegen diesen Berufungsbescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde des Dr. G P an den VfGH, in der insbesondere die Verletzung des durch Art26 B-VG gewährleisteten Rechts auf Teilnahme an der Nationalratswahl behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird.

1.3.2. Die Bezirkswahlbehörde Kufstein als bel. Beh. legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die Abweisung der Beschwerde beantragte.

1.4.1. Die Abs1 und 2 der mit "Ort der Eintragung" überschriebenen Bestimmung des §27 NRWO lauten folgendermaßen:

"(1) Jeder Wahlberechtigte ist in das Wählerverzeichnis des Ortes (der Gemeinde, des Wahlsprengels) einzutragen, wo er am Stichtage seinen ordentlichen Wohnsitz hat.

(2) Hat ein Wahlberechtigter am Stichtag in mehreren Gemeinden einen Wohnsitz, so ist er in das Wählerverzeichnis der Gemeinde einzutragen, in der er am Stichtage tatsächlich gewohnt hat. Kommt auch ein solcher Wohnort nicht in Betracht, so hat die Eintragung in das Wählerverzeichnis der Gemeinde zu erfolgen, in der der Wahlberechtigte vor dem Stichtage zuletzt gewohnt hat."

1.4.2. Mit V der Bundesregierung vom 26. September 1986, BGBl. 517/1986, wurde als Tag, der für die Nationalratswahl vom 23. November 1986 als Stichtag gilt, der 26. September 1986 bestimmt (vgl. §1 Abs2 NRWO).

2. Über die Beschwerde wurde erwogen:

2.1. Der administrative Instanzenzug ist erschöpft (§35 Abs2 letzter Satz NRWO).

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen zutreffen, ist die Beschwerde zulässig.

2.2.1. Das in Art26 B-VG verfassungsgesetzlich gewährleistete Wahlrecht zum Nationalrat wird durch rechtswidrige Nichteintragung eines Wahlberechtigten in das Wählerverzeichnis verletzt. Das ist auch dann der Fall, wenn das zur Nichteintragung führende Verwaltungsverfahren an wesentlichen Mängeln leidet (vgl. zB VfSlg. 5148/1965, 6303/1970, 7017/1973, 7766/1976; s. auch VfSlg. 8845/1980; VfGH 22.11.1985 B321/85).

2.2.2. Kraft geltender Rechtslage kann eine Person ungeachtet des Umstandes, daß für sie im Bereich der Wahlen zum Nationalrat (Art26 B-VG) nur jeweils ein einziger "ordentlicher Wohnsitz" maßgebende Bedeutung zu erlangen vermag, auch zwei oder mehrere (ordentliche) Wohnsitze - in verschiedenen Gemeinden haben (so die Rechtsprechung des VfGH: VfSlg. 9598/1982). In solchen Fällen ist der Wahlberechtigte in das Wählerverzeichnis jener Gemeinde aufzunehmen, in der er am "Stichtag" (§1 Abs2 NRWO) "tatsächlich gewohnt hat" (§27 Abs2 NRWO). Die hier entscheidungswichtige Frage, ob Dr. P (auch) in Kufstein über einen (weiteren) ordentlichen Wohnsitz verfügte und dort am Stichtag auch tatsächlich wohnte (§27 Abs2 NRWO), verneinte die (hier zu Unrecht das Wählerevidenzgesetz heranziehende) bel. Beh. offensichtlich in erster Linie auf dem Boden ihrer - aus der Bescheidbegründung zu ersehenden - verfehlten Rechtsauffassung, daß es der (formalen) "Geltendmachung der Beibehaltung" eines Wohnsitzes in Kufstein bedurft hätte, als es zur Verlegung des Wohnsitzes nach Thiersee (gemeint wohl: der Begründung eines Wohnsitzes in diesem Ort) gekommen sei. Ausschlaggebend dafür, ob die Voraussetzungen des §27 Abs2 NRWO auf den Aufenthalt in Kufstein zutreffen, sind aber einzig und allein die tatsächlichen Lebens- und Wohnverhältnisse des Wahlberechtigten, worüber die bel. Beh. kein wie immer geartetes Ermittlungsverfahren abführte:

Sachverhaltsmäßig gab sich die belangte Wahlbehörde nämlich im wesentlichen mit der - Vorakten entnommenen und einen (weiteren) ordentlichen Wohnsitz in Kufstein nicht ausschließenden - Feststellung zufrieden, Dr. P habe einen melderechtlich beibehaltenen "Hauptwohnsitz" in der Wohnung seiner Eltern in Kufstein und seit 1980 einen "Zweitwohnsitz" in seinem Haus in Vorderthiersee, wo er mit seiner Ehefrau und seinen Kindern in "Haushaltsgemeinschaft" lebe.

Die als Feststellungsgrundlage herangezogenen Vorakten stammen jedoch aus der Zeit vor Mai 1986, vermögen also über den "tatsächlichen Aufenthalt" des Bf. am nunmehr maßgebenden Stichtag (26. September 1986) nichts auszusagen. Zudem wurde dem Bf. nicht die Möglichkeit gegeben, zum Inhalt der Berufungsschrift wie auch der als Beweismaterial dienenden Administrativakten Stellung zu nehmen (vgl. §35 Abs1 NRWO: ein an Dr. G P zu eigenen Handen gerichtetes Aufforderungsschreiben iS dieser Gesetzesstelle wurde nämlich in Verletzung der Vorschrift des §21 Abs1 ZustellG nicht dem Adressaten, sondern einer T P zugestellt).

Dies kennzeichnet aber die von der Bezirkswahlbehörde eingehaltene Prozedur - selbst unter gebührender Berücksichtigung der geringeren Anforderungen, die an das Ermittlungsverfahren vor Wahlbehörden schon angesichts der kurzen zur Verfügung stehenden Fristen zu stellen sind (VfSlg. 8845/1980) - unter dem Aspekt der hier zentralen Frage des ordentlichen Wohnsitzes als derart grob mangelhaft und ergänzungsbedürftig (s. etwa auch: VfSlg. 6473/1971, 7017/1973, 7766/1976, 8845/1980), daß bereits von einer Verfassungswidrigkeit iS der zu Punkt 2.2.1. wiedergegebenen verfassungsgerichtlichen Judikatur gesprochen werden muß.

2.2.3. Mithin wurde der Bf. durch den angefochtenen, die Streichung aus dem Wählerverzeichnis verfügenden Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Wahlrecht zum Nationalrat (Art26 B-VG) verletzt.

Der Bescheid war darum schon aus diesem Grund als verfassungswidrig aufzuheben, ohne daß es eines Eingehens auf das weitere Beschwerdevorbringen bedurfte.

2.3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG 1953. Im zugesprochenen Kostenbetrag ist Umsatzsteuer in der Höhe von 1.000 S enthalten.

2.4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 idF BGBl. 297/1984 ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung ergehen.

Schlagworte

Wahlen, Wahlrecht aktives, Wohnsitz, Verwaltungsverfahren, Ermittlungsverfahren, Parteiengehör

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1987:B998.1986

Dokumentnummer

JFT_10129774_86B00998_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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