Index
10 VerfassungsrechtNorm
StGG Art8Leitsatz
Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; unvertretbare Annahme der Ordnungsstörung und des ungestümen Benehmens nach ArtIX Abs1 Z1 und 2 EGVG 1950; Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit durch Festnahme nach §35 VStG 1950 und nachfolgende AnhaltungSpruch
Der Bf. ist dadurch, daß er am 10. Feber 1987 um 20,20 Uhr in der Staatsoper von einem Sicherheitswachebeamten der Bundespolizeidirektion Wien festgenommen und anschließend bis 21,00 Uhr im Inspektionszimmer angehalten wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Bf., zu Handen des Beschwerdevertreters, die mit 11.000 S bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Der Bf. begehrt in seiner unter Berufung auf Art. 144 (Abs1 zweiter Satz) B-VG an den VfGH gerichteten Beschwerde die kostenpflichtige Feststellung, daß er durch eine der Bundespolizeidirektion (BPD) Wien zuzurechnende Amtshandlung - nämlich seine am 10. Feber 1987 um 20,20 Uhr in der Staatsoper in Wien erfolgte Festnahme und seine darauffolgende Verwahrung bis 21,00 Uhr (demnach durch einen Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt) im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden sei.
Die Festnahme und die Anhaltung des Bf. seien ohne jede gesetzliche Grundlage erfolgt.
2. Die - durch die Finanzprokuratur vertretene - BPD Wien erstattete eine Gegenschrift, in der der Sachverhalt wie folgt geschildert wird:
"Am 10. Feber 1987 fand abends in der Wiener Staatsoper eine Aufführung der Oper'Die tote Stadt' von Erich Korngold statt. Als einer der Inspektionsdienst versehenden Sicherheitswachebeamten war hiezu Insp. Andreas Wieselthaler eingeteilt worden. Da jeder der Aufsichtsdienst versehenden Beamten über einen zweiten Platz verfügen kann, hatte er seinen Kollegen, Insp. Thomas Schiel, eingeladen, sich die Aufführung anzusehen. Beide Beamten, Insp. Wieselthaler in Uniform und Insp. Schiel außer Dienst und in Zivil, nahmen bei Beginn des ersten Aktes der Oper auf den 'Dienstsitzen' in der Galerie der Staatsoper Platz. Insp. Schiel hatte in einem Papiersäckchen verpackte Nüsse mitgebracht, von denen er auch nach Beginn der Vorstellung mehrere aß. Dadurch kam es während eines längeren Zeitraumes zu einem Rascheln, das offenbar einige, in geringer Entfernung vom Stehplatz aus der Aufführung folgende Besucher des Stehplatzes störte. Dies veranlaßte schließlich einen der Zuhörer, zu den beiden Beamten zu gehen und sie in einem nicht besonders verbindlichen Tone - sie seien hier nicht im Kino undifferenziert aufzufordern, ihr störendes Verhalten einzustellen. Insp. Schiel hat es daraufhin unterlassen, weiterhin Nüsse zu essen.
Durch die Verwendung der Mehrzahl in seiner an die Beamten gerichteten 'Abmahnung' fand sich Insp. Wieselthaler in der Pause nach dem ersten Akt veranlaßt, den Mann darauf aufmerksam zu machen, daß nicht er, sondern sein Begleiter die Störung verursacht habe. Hiedurch fühlte sich dieser jedoch offenbar beeinträchtigt, weshalb er überzogen reagierte und dem Beamten auf abschätzige Weise zur Kenntnis brachte, daß er auf ein weiteres Gespräch mit ihm keinen Wert lege. Bei dieser Einstellung und bei diesem Tonfall blieb er auch, als Insp. Wieselthaler ihn aufforderte, sich zu mäßigen und sich nicht ungestüm zu benehmen. Als er von dem Beamten schließlich in herrischem Tone verlangte, er solle sich entfernen, forderte ihn dieser auf, sich auszuweisen, da er ihn nun anzeigen werde. Da der Mann jedoch erklärte, keinen amtlichen Ausweis, sondern bloß eine Legitimation des Österreichischen Bundestheaterverbandes, seinem Dienstgeber, bei sich zu haben, nahm ihn Insp. Wieselthaler um 20,20 Uhr fest und brachte ihn in das im Parterre befindliche Inspektionswachzimmer. Anschließend begab er sich mit dem Dienstausweis, der den Festgenommenen als Dr. S H, am 20.8.1958 geb., den nunmehrigen Bf., bezeichnete, zum 'Oberbilleteur' und frage diesen, ob er den Mann kenne. Dieser, ein Rudolf Paul, am 13.3.1943 geb., bestätigte, daß ihm der Festgenommene bekannt sei; es handle sich um einen Bediensteten des Bundestheaterverbandes. Insp. Wieselthaler konnte daher davon ausgehen, daß die Identität des Mannes geklärt sei, weshalb er um 21,00 Uhr die Anhaltung wegen Wegfalles des Haftgrundes aufhob."
II. 1.a) Die Verhaftung oder Festnahme durch Verwaltungsorgane im Rahmen der Verwaltungsstrafrechtspflege stellt nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt dar; dies gilt auch für die Anhaltung (vgl. zB VfSlg. 10415/1985 und die dort zitierte weitere Vorjudikatur).
Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen erfüllt sind, ist die Beschwerde zulässig.
b) Das Grundrecht auf Schutz der persönlichen Freiheit (Art8 StGG iVm Gesetz vom 27. Oktober 1862, RGBl. 87, zum Schutz der persönlichen Freiheit) wird nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes durch eine Festnahme bzw. Anhaltung dann verletzt, wenn diese in gesetzwidriger Weise erfolgt. Nach §4 des Gesetzes vom 27. Oktober 1862, RGBl. 87, zum Schutz der persönlichen Freiheit dürfen die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt nämlich nur in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen. Zu diesen Fällen zählt auch die Bestimmung des §35 VStG 1950, die jedenfalls voraussetzt, daß die Person 'auf frischer Tat betreten' wird, dh. daß sie eine als Verwaltungsübertretung strafbare Tat begeht und bei Begehung der Tat betreten wird. Daß die hiebei vorzunehmende rechtliche Beurteilung der Tat richtig sein muß, ist nicht erforderlich; nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH genügt es vielmehr, daß sie vertretbar ist (vgl. zB VfSlg. 10415/1985, 10441/1985 und die dort zitierte Vorjudikatur).
2. Auch auf dem Boden des Sachverhaltes, wie er von der bel. Beh. in der Gegenschrift dargestellt wird (s.o. I.2.) (diese Sachverhaltsschilderung wird durch die im vorgelegten Verwaltungsstrafakt der BPD Wien, Bezirkspolizeikommissariat Innere Stadt, Zl. Pst 2251-S/87, enthaltenen Zeugenaussagen bestätigt) kann der VfGH nicht finden, daß der einschreitende Beamte mit gutem Grund - und damit vertretbar - zur Auffassung gelangen durfte, daß der Bf. (wie zur Anzeige gebracht) Übertretungen nach ArtIX Abs1 Z1 und 2 EGVG 1950 idF der Nov. BGBl. 232/1977 verübt hatte:
Nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH und des VwGH (vgl. etwa VfSlg. 10441/1985 sowie VwGH 13.2.1984 Z 82/10/0178 und 9.7.1984 Z84/10/0080) ist das Tatbild der Ordnungsstörung nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 idgF dadurch gekennzeichnet, daß der Täter ein Verhalten setzt, das objektiv geeignet ist, Ärgernis zu erregen und daß durch dieses Verhalten die Ordnung an einem öffentlichen Ort gestört wird, was dann der Fall ist, wenn eine Handlung geeignet ist, bei anderen, unbefangenen Menschen die lebhafte Empfindung des Unerlaubten und Schändlichen hervorzurufen.
Nach ArtIX Abs1 Z2 EGVG 1950 idgF begeht eine Verwaltungsübertretung, wer 'sich ungeachtet vorausgegangener Abmahnung gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht oder gegenüber einer Militärwache, während sich diese Personen in rechtmäßiger Ausübung des Amtes oder Dienstes befinden, ungestüm benimmt'. Der VfGH vertritt in ständiger Rechtsprechung (zB VfSlg. 7464/1974, 9229/1981, 10441/1985) - in Übereinstimmung mit der Judikatur des VwGH (vgl. VwSlg. 2263(A)/1951; VwGH 1. März 1979 Z873/78) - die Auffassung, daß unter 'ungestümem Benehmen' ein sowohl in der Sprache als auch in der Gestik der gebotenen Ruhe entbehrendes, mit ungewöhnlicher Heftigkeit verbundenes Verhalten anzusehen ist.
Angesichts der hier maßgeblichen Sach- und Rechtslage konnte der die Festnehmung des Bf. aussprechende Sicherheitswachebeamte nicht mit gutem Grund davon ausgehen, daß der Bf. eine Verwaltungsübertretung nach einem der oben umschriebenen Tatbestände begangen habe: Das Verhalten des Bf. wurde außer vom einschreitenden Beamten und dessen Begleitperson von niemandem als auffällig wahrgenommen; der Bf. mag sich dem Beamten gegenüber zwar unfreundlich benommen haben, jedoch kann von einer ungewöhnlichen Heftigkeit des Verhaltens iS der geschilderten Judikatur keine Rede sein.
Damit fehlt - wie die bel. Beh. selbst einräumt - eine der Voraussetzungen des §35 VStG 1950 für die Festnahme.
Die Festnahme und die Anhaltung des Bf. waren demnach rechtswidrig.
Daraus folgt, daß der Bf. durch die bekämpften Amtshandlungen insgesamt - das sind seine Festnahme und nachfolgende Anhaltung - im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG) verletzt wurde.
3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG.
In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von 1.000 S enthalten.
4. Dies konnte gemäß §19 Abs4 Z2 VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.
Schlagworte
Polizeirecht, OrdnungsstörungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1987:B268.1987Dokumentnummer
JFT_10129075_87B00268_00