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001 Verwaltungsrecht allgemein;Norm
B-VG Art49 Abs2;Betreff
N gegen Wiener Landesregierung vom 22. August 1988, Zl. MA 2/57/88, betreffend Urlaub nach dem Mutterschutzgesetz
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Die Bundeshauptstadt Wien hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 10.530,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die Beschwerdeführerin steht als Hauptschullehrer in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis zum Land Wien.
Am 21. April 1988 brachte die Beschwerdeführerin ihre Tochter Lisa zur Welt. Der ärztlich vorausberechnete Entbindungstermin war der 7. Mai 1988. Die Achtwochenfrist des § 3 Abs. 1 des Mutterschutzgesetzes 1979 (MSchG) war daher um 16 Tage verkürzt. Vom tatsächlichen Tag der Entbindung ausgehend, bestand allerdings während der Achtwochenfrist bereits vorher ein Beschäftigungsverbot gemäß § 3 Abs. 3 MSchG.
Mit Eingabe vom 26. April 1988 machte die Beschwerdeführerin geltend, die Schutzfrist ende gemäß § 5 Abs. 1 dritter Satz MSchG erst am 2. Juli 1988 und begehrte Karenzurlaub ab dem Ende der Hauptferien (5. September 1988).
Mit dem angefochtenen Bescheid wurde die Berufung der Beschwerdeführerin gegen den erstinstanzlichen Bescheid des Stadtschulrates für Wien, mit der ihr gemäß § 15 Abs. 1 MSchG ein Karenzurlaub vom 17. Juni 1988 bis 21. April 1989 gewährt worden war, abgewiesen.
Nach Wiedergabe der genannten Gesetzesbestimmungen wird in der Bescheidbegründung im wesentlichen ausgeführt, eine Verkürzung der Achtwochenfrist des § 3 Abs. 1 MSchG komme nicht in Frage, wenn die Mutter durch volle acht Wochen vor der Entbindung nicht beschäftigt worden sei. Dies ergebe sich aus systematischer Interpretation der angewendeten Bestimmungen. Es müßte eine Verkürzung der Achtwochenfrist vor der Entbindung eingetreten sein, was nur dann der Fall gewesen wäre, wenn die werdende Mutter während dieses Zeitraumes tatsächlich beschäftigt worden wäre. Zur teleologischen Interpretation des Gesetzes bezieht sich die belangte Behörde auf eine Entscheidung des Oberlandesgerichtes Wien vom 9. Mai 1983, 35 R 58/83, wonach die achtwöchige Frist nach der Entbindung nur dann verlängert werden sollte, wenn die Gesamtheit der Schonfrist vor und nach der Entbindung "sechzehn Wochen bzw. im äußersten Fall zwölf Wochen nicht erreicht".
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, mit der Rechtswidrigkeit des Inhaltes geltend gemacht wird. Die Beschwerdeführerin erachtet sich in ihrem Recht auf Schutzfrist nach §§ 3 Abs. 1 und 5 Abs. 1 MSchG sowie Karenzurlaub nach § 15 Abs. 1 MSchG verletzt und beantragt die Aufhebung des angefochtenen Bescheides.
Die belangte Behörde hat unter Vorlage der Akten des Verwaltungsverfahrens eine Gegenschrift erstattet und Abweisung der Beschwerde beantragt. Das Tatsachenvorbringen der Beschwerdeführerin ist unbestritten.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Gemäß § 3 Abs. 1 MSchG dürfen werdende Mütter in den letzten acht Wochen vor der voraussichtlichen Entbindung (Achtwochenfrist) nicht beschäftigt werden. Diese Frist ist gemäß Abs. 2 auf Grund eines ärztlichen Zeugnisses zu berechnen. Erfolgt die Entbindung früher oder später als im Zeugnis angegeben, so verkürzt oder verlängert sich diese Frist entsprechend.
Über die Achtwochenfrist hinaus darf gemäß § 3 Abs. 3 MSchG eine werdende Mutter auch dann nicht beschäftigt werden, wenn nach einem von ihr vorgelegten Zeugnis eines Arbeitsinspektionsarztes oder eines Amtsarztes Leben oder Gesundheit von Mutter oder Kind bei Fortdauer der Beschäftigung gefährdet wäre.
Die im Beschwerdefall maßgebende Bestimmung über das Beschäftigungsverbot nach der Entbindung (§ 5 Abs. 1 MSchG) hat folgenden Wortlaut:
"Dienstnehmerinnen dürfen bis zum Ablauf von acht Wochen nach ihrer Entbindung nicht beschäftigt werden. Nach Frühgeburten, Mehrlingsgeburten oder Kaiserschnittentbindungen beträgt diese Frist zwölf Wochen. Ist eine Verkürzung der Achtwochenfrist vor der Entbindung eingetreten, so verlängert sich die achtwöchige Schutzfrist nach der Entbindung im Ausmaß dieser Verkürzung, höchstens jedoch auf zwölf Wochen."
Nach § 5 Abs. 2 MSchG dürfen Dienstnehmerinnen nach ihrer Entbindung über die in Abs. 1 festgelegten Fristen hinaus zu Arbeiten nicht zugelassen werden, solange sie arbeitsunfähig sind.
Gemäß § 15 Abs. 1 MSchG ist Dienstnehmerinnen auf ihr Verlangen im Anschluß an die Frist des § 5 Abs. 1 und 2 MSchG ein Urlaub gegen Entfall des Arbeitsentgelts (Karenzurlaub) bis zum Ablauf eines Jahres nach ihrer Entbindung zu gewähren; das gleiche gilt, wenn anschließend an die Frist nach § 5 Abs. 1 und 2 ein Gebührenurlaub verbraucht wurde oder die Dienstnehmerin durch Krankheit oder Unglücksfall an der Dienstleistung gehindert war.
Strittig ist im Beschwerdefall ausschließlich, ob sich bei Verkürzung der Achtwochenfrist vor der Entbindung die achtwöchige Schutzfrist nach der Entbindung auch dann verlängert, wenn die Dienstnehmerin auf Grund eines Beschäftigungsverbotes (§ 3 Abs. 3 MSchG) insgesamt acht Wochen vor der Entbindung nicht beschäftigt war. Der Wortlaut des § 5 Abs. 1 dritter Satz MSchG spricht für die Auslegung der Beschwerdeführerin, die diese Frage bejaht, weil das Gesetz die Verlängerung der achtwöchigen Schutzfrist nach der Entbindung nur an die Verkürzung der Achtwochenfrist vor der Entbindung knüpft. Der hier gebrauchte Begriff der "Achtwochenfrist" ist durch den Klammerausdruck im § 3 Abs. 1 MSchG eindeutig als jener der letzten acht Wochen vor der voraussichtlichen Entbindung bestimmt. Dagegen ist das Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 3 MSchG ausdrücklich davon abgehoben, insofern es nach dem Gesetzeswortlaut "über die Achtwochenfrist (Abs. 1) hinaus" wirkt.
Die wörtlich-grammatikalische Auslegung führt somit ebenso wie die systematische Auslegung der hier maßgebenden Bestimmung zu dem Ergebnis, daß es für die Verlängerung der achtwöchigen Frist nach der Entbindung nur auf das Ausmaß der Verkürzung der Achtwochenfrist des § 3 Abs. 1 MSchG ankommt, soweit das Höchstausmaß von zwölf Wochen nicht überschritten wird. Dagegen ist eine gleichartige Berücksichtigung der Zeiten des Beschäftigungsverbotes nach § 3 Abs. 3 MSchG nach dem Gesetzeswortlaut nicht geboten.
Die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid vertretene Auslegung erscheint, soweit sie auf die Systematik des Gesetzes verweist, nicht nachvollziehbar. Insbesondere kann aus dem Argument des Wortes "nicht beschäftigt werden" in den Absätzen 1 und 3 des § 3 MSchG (im Absatz 2 wird dieses Wort entgegen der Bescheidbegründung nicht verwendet) nicht erschlossen werden, daß eine Verkürzung der Achtwochenfrist gemäß § 3 Abs. 2 zweiter Satz dieses Gesetzes bei einer Mutter nicht in Frage kommen sollte, die volle acht Wochen vor der Entbindung nicht beschäftigt worden war. Diese Argumentation würde weit über den Anwendungsbereich des § 3 MSchG hinaus auch Fälle erfassen, in welchen die werdende Mutter etwa wegen eines Krankenstandes oder eines Urlaubes während der acht Wochen vor der Entbindung tatsächlich nicht beschäftigt war, was nicht dem Sinn der Norm entspricht. Auf die Tatsache der Beschäftigung der Mutter während des Zeitraumes von acht Wochen vor der Entbindung kann es nach Wortlaut und Sinn des Gesetzes nicht ankommen, weil dieses die Verlängerung nur von der Verkürzung der achtwöchigen Schutzfrist vor der Entbindung abhängig macht, um einen Ausgleich für eine durch unrichtige Prognose des Entbindungstermines insgesamt verminderte Schutzfrist zu gewährleisten.
Für die Auslegung der belangten Behörde kann auch daraus nichts gewonnen werden, daß im § 5 Abs. 1 MSchG der Abs. 1 des § 3 des Gesetzes nicht ausdrücklich zitiert wird, weil durch die Verwendung des Wortes "Achtwochenfrist", das in der zuletzt genannten Norm definiert wird, die Verweisung eindeutig und klar erfolgt.
Zur Teleologie des Gesetzes bezieht sich die belangte Behörde in der Begründung des angefochtenen Bescheides auf die Rechtsprechung des Oberlandesgerichtes Wien, insbesondere auf das Urteil vom 9. Mai 1983, 35 R 58/83. In der Gegenschrift wird auf das mittlerweile ergangene Urteil des Obersten Gerichtshofes vom 4. Juli 1989, 10 Ob S 181/89, verwiesen, das die Rechtsmeinung der belangten Behörde stützt. In dem genannten Erkenntnis geht der Oberste Gerichtshof davon aus, daß Wortlaut und Systematik die Auslegung nahelegen, daß unter der "Achtwochenfrist des § 5 Abs. 1 letzter Satz MSchG die im § 3 Abs. 1 dieses Gesetzes genannte gemeint sei, weil im nachfolgenden Absatz 3 eine solche Frist nicht mehr erwähnt werde", doch spreche die Entstehungsgeschichte des § 5 Abs. 1 MSchG dagegen.
Dazu ist folgendes festzustellen:
Die Allgemeine Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation beschloß am 28. Juni 1952 das Übereinkommen (Nr. 103) über den Mutterschutz. Der Nationalrat hat anläßlich der Genehmigung des vorstehenden Staatsvertrages in seiner Sitzung vom 25. Juni 1969 beschlossen, daß dieser Staatsvertrag im Sinne des Art. 50 Abs. 2 B-VG durch Erlassung von Gesetzen zu erfüllen ist. Art. 3 des Abkommens hat in der Übersetzung, BGBl. Nr. 31/1970, folgenden hier bedeutsamen Wortlaut:
"1. Eine Frau, auf die dieses Übereinkommen Anwendung findet, hat bei Vorlage eines ärztlichen Zeugnisses, in dem der voraussichtliche Zeitpunkt ihrer Niederkunft angegeben ist, Anspruch auf Mutterschaftsurlaub.
2. Die Dauer des Mutterschaftsurlaubs hat mindestens zwölf Wochen zu betragen; ein Teil dieses Urlaubs muß nach der Niederkunft genommen werden.
3. Die Dauer des pflichtmäßigen Urlaubs nach der Niederkunft ist durch die innerstaatliche Gesetzgebung zu bestimmen, darf aber keinesfalls weniger als sechs Wochen betragen; der Rest des gesamten Mutterschaftsurlaubs kann je nach den Bestimmungen der innerstaatlichen Gesetzgebung entweder vor dem voraussichtlichen Zeitpunkt der Niederkunft oder nach Ablauf des pflichtmäßigen Urlaubs oder teilweise vor dem voraussichtlichen Zeitpunkt der Niederkunft und teilweise nach Ablauf des pflichtmäßigen Urlaubs beansprucht werden.
4. Findet die Niederkunft nach dem voraussichtlichen Zeitpunkt statt, so wird der vor diesem Zeitpunkt beanspruchte Urlaub auf alle Fälle bis zum tatsächlichen Zeitpunkt der Niederkunft verlängert; die Dauer des pflichtmäßigen Urlaubs nach der Niederkunft darf aus diesem Grund nicht verkürzt werden.
5. Im Fall einer Krankheit, die laut ärztlichem Zeugnis eine Folge der Schwangerschaft ist, hat die innerstaatliche Gesetzgebung einen zusätzlichen Urlaub vor der Niederkunft vorzusehen, dessen Höchstdauer von der zuständigen Stelle festgesetzt werden kann.
6. Im Falle einer Krankheit, die laut ärztlichem Zeugnis eine Folge der Niederkunft ist, hat die Frau Anspruch auf einen zusätzlichen Urlaub nach der Niederkunft, dessen Höchstdauer von der zuständigen Stelle festgesetzt werden kann."
In Österreich galten auf dem Gebiete des Mutterschutzes bis 1957 reichsdeutsche Vorschriften, und zwar das Gesetz vom 17. Mai 1942, über den Schutz der erwerbstätigen Mutter, DRGBl.I, S. 321, und die Ausführungsverordnung vom 17. Mai 1942, ebendort S. 324. Nach § 2 Abs. 1 des genannten Gesetzes durfte eine werdende Mutter nicht beschäftigt werden, wenn nach ärztlichem Zeugnis Leben und Gesundheit von Mutter oder Kind gefährdet waren. Nach Abs. 3 der Norm waren werdende Mütter in den letzten sechs Wochen vor der Niederkunft auf ihr Verlangen von jeder Arbeit zu befreien. Gemäß § 3 Abs. 1 des zitierten Gesetzes bestand ein Beschäftigungsverbot für Wöchnerinnen bis zum Ablauf von sechs Wochen nach der Niederkunft, das für stillende Mütter und Mütter nach Frühgeburten verlängert wurde.
Im Jahre 1954 erstattete die Bundesregierung Bericht an den Nationalrat, betreffend das auf der 35. Tagung der Internationalen Arbeitskonferenz angenommene Übereinkommen (Nr. 103) über den Mutterschutz und die Empfehlung (Nr. 95), betreffend den Mutterschutz (210 der Beil. VII.GP.). Darin wird die Rechtslage in Österreich mit dem genannten Übereinkommen und der Empfehlung verglichen und der Bedarf nach einer Neuregelung festgestellt, um den Forderungen des Übereinkommens und den Grundsätzen der Empfehlung zu entsprechen. Die Ratifikation des Übereinkommens und die Annahme der Empfehlung wurden als im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht wünschenswert bezeichnet. Dieser Bericht der Bundesregierung wurde vom Ausschuß für soziale Verwaltung am 25. Februar 1954 behandelt und vom Nationalrat zur Kenntnis genommen (231 der Beil. VII.GP.).
Trotzdem war die Stammfassung des Mutterschutzgesetzes BGBl. Nr. 76/1957 in den hier wesentlichen Bestimmungen dem mehrfach genannten Übereinkommen nicht angepaßt:
Nach § 3 Abs. 1 des Gesetzes durften werdende Mütter in den letzten sechs Wochen vor der voraussichtlichen Entbindung (Sechswochenfrist) nicht beschäftigt werden. Diese Frist war auf Grund eines ärztlichen Zeugnisses zu berechnen. Erfolgte die Entbindung zu einem früheren oder späteren als dem im Zeugnis angegebenen Zeitpunkt, so verkürzte oder verlängerte sich diese Frist entsprechend. Nach § 5 Abs. 1 des Gesetzes bestand das Beschäftigungsverbot nach der Entbindung bis zum Ablauf von sechs Wochen.
Daraus ergab sich die Möglichkeit, daß bei Verkürzung der Sechswochenfrist des Beschäftigungsverbotes im Falle vorzeitiger Entbindung die Gesamtschutzfrist nach Art. 3 Z. 2 des Übereinkommens nicht gewährleistet war. Eine Anfrage an das Internationale Arbeitsamt in Genf führte schließlich zur Aufklärung dieser Divergenz und veranlaßte die Bundesregierung, am 4. April 1968 eine Novellierung des Mutterschutzgesetzes zu beantragen (821 der Beil. XI.GP.). In den Erläuternden Bemerkungen wird wörtlich ausgeführt, durch die österreichische Regelung werde der Forderung des Übereinkommens nach einem ununterbrochenen sogenannten Mutterschaftsurlaub im Ausmaß von zwölf Wochen nicht voll Rechnung getragen. Durch eine geringfügige Anpassung der entsprechenden Bestimmungen des Mutterschutzgesetzes sei es jedoch ohne jede Schwierigkeit möglich, der erwähnten Forderung des Abkommens restlos zu entsprechen und damit die Voraussetzung für die Ratifikation dieses bedeutsamen internationalen Instrumentes durch Österreich zu schaffen.
Den Erläuternden Bemerkungen ist nicht zu entnehmen, daß die (damals) sechswöchige Schutzfrist vor der Entbindung nach § 3 Abs. 1 MSchG der Zeit eines Beschäftigungsverbotes nach Abs. 3 leg. cit. gleichzuhalten sei, sodaß in einem derartigen Fall dem Übereinkommen schon nach der damaligen Rechtslage Genüge getan wäre. Hingegen wird darauf hingewiesen, daß der Ratifikation des Übereinkommens deshalb größte Bedeutung zukomme, da Österreich, "das zu den auf sozialpolitischem Gebiet fortschrittlichsten Ländern zählt" und eines der ältesten Mitgliedsländer der Internationalen Arbeitsorganisation ist, seit dem Jahre 1960 kein von der Internationalen Arbeitskonferenz angenommenes Abkommen mehr ratifiziert habe.
In den Erläuternden Bemerkungen wird schließlich ausgeführt, durch die Anfügung eines dritten Satzes an den Abs. 1 des § 5 des Mutterschutzgesetzes werde im Sinne der Forderung des Übereinkommens (Nr. 103) über den Mutterschutz sichergestellt, daß den Dienstnehmerinnen IN ALLEN FÄLLEN eine SCHUTZFRIST vor und nach der Niederkunft von insgesamt nicht weniger als zwölf Wochen zu gewähren sei.
Noch vor der Genehmigung des mehrfach genannten Übereinkommens wurde die EUROPÄISCHE SOZIALCHARTA ratifiziert und ist für Österreich am 28. November 1969 in Kraft getreten (BGBl. Nr. 460). Deren Art. 8 sieht das Recht der Arbeitnehmerinnen auf Schutz vor und verpflichtet zu dessen Gewährleistung die Vertragsparteien:
"1. eine Arbeitsbefreiung für Frauen vor und nach der Niederkunft von insgesamt mindestens 12 Wochen in Form eines bezahlten Urlaubes, einer angemessenen Leistung der Sozialen Sicherheit oder einer Leistung aus öffentlichen Mitteln vorzusehen." ...
Das Übereinkommen (Nr. 103) über den Mutterschutz vom Jahre 1952 (s. oben) trat nach Ratifizierung für Österreich erst am 4. Dezember 1970 in Kraft (BGBl. Nr. 31).
Die geltende Fassung erhielt der letzte Satz des § 5 Abs. 1 MSchG durch das Bundesgesetz, mit dem das Mutterschutzgesetz geändert wurde, BGBl. Nr. 178/1974, durch das die Schutzfrist des § 3 Abs. 1 ebenso wie jene des § 5 Abs. 1 jeweils auf acht Wochen verlängert wurde. In den Erläuternden Bemerkungen (1033 der Beil. XIII.GP.) wird besonders darauf hingewiesen, eine Verlängerung sei nicht nur wegen des stark angestiegenen Arbeitstempos, sondern auch im Hinblick auf neue Erkenntnisse der Medizin ERFORDERLICH. Im übrigen habe eine Erhebung ergeben, "daß dem Bezug von Wochengeld vor der Entbindung in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen ein schwangerschaftsbedingter Krankenstand" vorausgehe. Dies wird mit statistischem Material belegt und weiter ausgeführt, unter Berücksichtigung der o.a. Tatsachen sehe der Gesetzesentwurf daher ein Beschäftigungsverbot vor der Geburt in der Dauer von acht Wochen vor, um einen ausreichenden Schutz der werdenden Mutter sowie des noch nicht geborenen Lebens zu gewährleisten und die in Österreich besonders hohe Rate der Säuglingssterblichkeit zu reduzieren. Da nach Auffassung führender medizinischer Fachleute die genauere Feststellung des Zeitpunktes der voraussichtlichen Niederkunft erst zirka zehn Wochen vor derselben möglich sei, sei dieser zeitliche Abstand im Zusammenhang mit der Meldung des Beginnes der Achtwochenfrist zu berücksichtigen.
Die dargestellte Entstehungsgeschichte der im Beschwerdefall auslegungsbedürftigen Norm zeigt nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes, daß die historische Methode der Interpretation nicht zu einem dem Wortlaut und der Systematik des Gesetzes widersprechenden Ergebnis führt.
Das Übereinkommen, zu dessen Erfüllung die Novellierung des Mutterschutzgesetzes zunächst erforderlich war, unterscheidet in seinem Art. 3 deutlich zwischen MUTTERSCHAFTSURLAUB nach Z. 1 (verbindlicher Text: "period of maternity leave" - "conge de maternite") und ZUSÄTZLICHEM URLAUB IM FALLE EINER KRANKHEIT, die laut ärztlichem Zeugnis eine Folge der Schwangerschaft ist, für die nach Z. 5 vor der Niederkunft vorzusehen ist (verbindlicher Text: "additional leave" - "conge prenatal supplementaire"). Daraus ist zu erschließen, daß der spezifische Mutterschaftsurlaub im Sinne der Z. 1 der Bestimmung dem Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 1 MSchG gleichzuhalten ist. Eine Anrechnung der Zeiten eines Beschäftigungsverbotes nach § 3 Abs. 3 MSchG auf die Zeit des Mutterschaftsurlaubes würde gegen das zitierte Abkommen verstoßen, soweit dadurch das Mindestausmaß an Mutterschaftsurlaub nicht gewährleistet wäre (vgl. in diesem Sinne Knöfler-Martinek, Mutterschutzgesetz8, S. 91). Daß das Übereinkommen keine Regelung für den Fall enthält, daß sich die Schutzfrist vor der Entbindung verkürzt, weil diese vor dem angenommenen Zeitpunkt erfolgt, läßt entgegen der Rechtsmeinung des Obersten Gerichtshofes in der zitierten Entscheidung noch nicht den Schluß zu, es verbiete sich nicht, den wegen Krankheit der Frau gebührenden "Urlaub" auf die Mindestdauer des Mutterschaftsurlaubes anzurechnen. Eine solche Auslegung widerspräche wohl dem offenbaren Schutzgedanken des Übereinkommens, der Mutter jedenfalls und unabhängig von allfälliger Krankheit einen besonderen "Mutterschaftsurlaub" zu gewährleisten.
Der Verwaltungsgerichtshof vermag sich auch nicht der Ansicht des Obersten Gerichtshofes anzuschließen, daß der Gesetzgeber bei der Anpassung des Mutterschutzgesetzes an das internationale Übereinkommen Dienstnehmerinnen keinesfalls günstiger habe stellen wollen, als dies nach dem Abkommen erforderlich war. Allein aus dieser Überlegung ein "Redaktionsversehen" anzunehmen, das im Wege der Auslegung zu berichtigen wäre, widerspricht der hiezu zitierten Lehrmeinung; danach spricht man von "Redaktionsversehen", wenn die Formulierung des Gesetzes durch einen Fehler in der technischen Ausarbeitung NACHWEISLICH mit dem zugrundeliegenden Willen nicht übereinstimmt (Bydlinski in Rummel, Kommentar ABGB I2, S. 27). Von einem Redaktionsversehen in diesem Sinne kann aber nach der dargestellten Entstehungsgeschichte der hier maßgeblichen Norm keine Rede sein. Auch wenn der Sinn der Novellierung des § 5 Abs. 1 MSchG die Anpassung dieser Bestimmung an das mehrfach genannte Übereinkommen gewesen ist, so läßt dies noch nicht den Schluß zu, daß der Gesetzgeber nur den Mindesterfordernissen der völkerrechtlich verbindlichen Norm entsprechen wollte. Dies umsoweniger als - wie bereits ausgeführt - der Inhalt der entsprechenden Bestimmung des Art. 3 des Übereinkommens nicht den Schluß zuläßt, durch die Einbeziehung der Beschäftigungsverbotszeit nach § 3 Abs. 3 MSchG werde dem Erfordernis der insgesamt zwölfwöchigen Mutterschutzfrist in jedem Fall entsprochen. Ein Grundsatz, nach dem bei Anpassung des inländischen Rechtes an völkerrechtliche Verträge davon auszugehen sei, der Gesetzgeber wolle nur das Mindesterfordernis gewährleisten, ist der österreichischen Rechtsordnung fremd. Diese Auffassung widerspricht aber darüberhinaus dem erklärten Willen des historischen Gesetzgebers, die Bestimmungen des Mutterschutzes in Österreich, das als eines der auf sozialpolitischem Gebiet fortschrittlichsten Länder bezeichnet wird, so zu gestalten, daß den Dienstnehmerinnen in ALLEN FÄLLEN eine SCHUTZFRIST vor und nach der Niederkunft von INSGESAMT nicht weniger als zwölf Wochen gewährt wird. Konnte dieses Ergebnis aber bei der von der belangten Behörde vertretenen Auslegung und schon früher in der geübten Praxis zweifelhaft sein, so entsprach diese Übung und entspricht diese Auslegung nicht dem erklärten Willen des Gesetzgebers.
Hiezu kommt aber, daß die Bestimmung des § 5 Abs. 1 letzter Satz MSchG in der Folge - wie bereits ausgeführt - zum weitergehenden Schutz der Mütter novelliert worden ist, ohne daß der Gesetzgeber sich veranlaßt gesehen hätte, ein angeblich unterlaufenes Redaktionsversehen zu korrigieren. Die Motive dieser neuen Novellierung, die über die Mindesterfordernisse der inzwischen ratifizierten internationalen Übereinkommen weit hinausgehen, verbieten geradezu die Auffassung, der Gesetzgeber wolle gerade nur den Mindesterfordernissen des völkerrechtlich verbindlichen Rechtes auf diesem sozialpolitisch wichtigen Gebiet entsprechen.
Der Verwaltungsgerichtshof vermag aber auch nicht die Auffassung des Obersten Gerichtshofes zu teilen, die von diesem Höchstgericht vorgenommene Interpretation sei als verfassungskonform geboten. Vielmehr entspricht es durchaus dem Gleichheitsgebot, eine Verkürzung der Schutzfrist vor der Entbindung nach deren vorzeitigem Eintritt durch eine entsprechende Verlängerung der Schutzfrist nach der Entbindung auszugleichen, um eine Verkürzung der gesamten Mutterschutzfrist zu vermeiden. Dies auch dann, wenn die Mutter vor der Entbindung wegen einer Gefährdung von Leben oder Gesundheit von Mutter oder Kind durch das Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs. 3 MSchG während der vollen achtwöchigen Frist faktisch nicht beschäftigt war. Dieses Beschäftigungsverbot knüpft an andere Voraussetzungen an, die es als sachlich gerechtfertigt erscheinen lassen, der Mutter daneben auch die volle Schutzfrist nach § 5 Abs. 1 MSchG zu gewähren.
Auf Grund der dargestellten Rechtslage mußte der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufgehoben werden.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 206/1989.
Schlagworte
Auslegung Allgemein authentische Interpretation VwRallg3/1 Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2 Definition von Begriffen mit allgemeiner Bedeutung VwRallg7 Verwaltungsrecht Internationales Rechtsbeziehungen zum Ausland VwRallg12European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1990:1990120090.X00Im RIS seit
27.11.2001