TE Vfgh Erkenntnis 1987/9/29 G138/87, G139/87, G140/87, G141/87, G166/87, G167/87, G168/87, G169/87,

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Veröffentlicht am 29.09.1987
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht

Norm

B-VG Art18 Abs1
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art140 Abs5
B-VG Art140 Abs7 zweiter Satz
FrPG §3 idF der Nov 1986
MRK Art8
MRK Art8 Abs2

Leitsatz

FremdenpolizeiG idF BGBl. 555/1986; in allen Fällen Präjudizialität des (gesamten) §3, teils wegen des untrennbaren Zusammenhanges der Bestimmung, teils, weil die den angefochtenen Bescheid vornehmlich tragende Bestimmung des §8 (über die Aufhebung des Aufenthaltsverbotes) ihren Inhalt nur aus dem Zusammenhalt mit §3 gewinnt Eingriff in das durch Art8 MRK gewährleistete Recht schon durch Verhängung eines Aufenthaltsverbotes nach §(Hinweis auf Erk. VfSlg. 10737/1985, mit dem §3 FrPG id Stammfassung aufgehoben wurde); auch §3 idF BGBl. 555/1986 in Widerspruch zu Art8 MRK und Art18 B-VG - Eingriffsschranken, wie sie Art8 Abs2 MRK vorschreibt, nicht mit der für ein "eingriffsnahes" Gesetz erforderlichen Deutlichkeit zu erkennen; zu den Erfordernissen der spezifischen Regelungsdichte; dieser entspricht §3 Abs3 jedenfalls nicht, der lediglich den Wortlaut des Art8 Abs2 MRK übernimmt Herbeiführung der Anlaßfallwirkung für beim VwGH anhängige Beschwerdesachen nach Art140 Abs7; Zurückweisung der Gerichtsanträge, soweit sie eine Aufhebung des §8 begehren, mangels Präjudizialität

Spruch

I. §3 des Fremdenpolizeigesetzes, BGBl. Nr. 75/1954, in der Fassung der Nov. BGBl. Nr. 555/1986, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Diese Aufhebung tritt mit Ablauf des 31. Dezember 1987 in Kraft.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Die aufgehobene Bestimmung ist auch auf jene Tatbestände nicht mehr anzuwenden, die den beim VfGH zu

G 166,167,168,169,170,172,173,174,175,176,177,179 und 180/87 anhängigen Rechtssachen zugrundeliegen.

Der Bundeskanzler ist verpflichtet, diese Aussprüche unverzüglich im Bundesgesetzblatt kundzumachen.

II. In seiner heutigen nichtöffentlichen Sitzung beschlossen:

II. Die zu G 177,179 und 180/87 gestellten Anträge des VwGH, §8 des Fremdenpolizeigesetzes aufzuheben, werden zurückgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Beim VfGH sind zu Zlen. B115/87, B311/87 und B 342/87 Verfahren über Beschwerden (Art144 B-VG) von Fremden gegen im Instanzenzug ergangene Bescheide der jeweils zuständigen Sicherheitsdirektionen anhängig, mit denen über die Bf. gemäß § 3 des Fremdenpolizeigesetzes, BGBl. 75/1954 idF der Nov. BGBl. 555/1986 (im folgenden kurz: FrPG idF der Nov. 1986) ein Aufenthaltsverbot verhängt wurde.

Weiters ist zur Zl. B231/87 das Verfahren über eine gleichfalls von einem Fremden erhobene, auf Art144 B-VG gegründete Beschwerde anhängig, die sich gegen einen Bescheid der Bundespolizeidirektion (BPD) Linz wendet, mit dem der Antrag des Bf., ein über ihn verhängtes Aufenthaltsverbot aufzuheben, gemäß §8 FrPG abgewiesen wurde.

2. Der VfGH beschloß aus Anlaß dieser vier Beschwerden, gemäß Art140 Abs1 B-VG von amtswegen Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §3 FrPG idF der Nov. 1986 einzuleiten.

a) Der VfGH hat mit Erkenntnis vom 12. Dezember 1985, G225/85 u.a. Zlen. = VfSlg. 10737/1985, §3 FrPG in der Stammfassung (Stf.) wegen Widerspruches zu Art8 MRK und zu Art18 B-VG als verfassungswidrig aufgehoben. Für das Inkrafttreten der Aufhebung bestimmte er eine Frist bis 30. November 1986.

Mit BG vom 2. Oktober 1986, BGBl. 555, mit dem das Fremdenpolizeigesetz geändert wird, (Nov. 1986) traf der Gesetzgeber eine - mit 1. Dezember 1986 in Kraft getretene (ArtII Z1 Nov. 1986) - Ersatzregelung. Diese tritt allerdings bereits mit 31. Dezember 1987 wieder außer Kraft (ArtII Z2 Nov. 1986).

Der §3 FrPG idF der Nov. 1986 lautet:

"§3. (1) Gegen Fremde, deren Aufenthalt im Bundesgebiet die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen öffentlichen Interessen zuwiderläuft, kann ein Aufenthaltsverbot erlassen werden.

(2) Insbesondere kann ein Aufenthaltsverbot gegen Fremde erlassen werden,

a) die von einer inländischen Verwaltungsbehörde wegen schwerwiegender oder wiederholter Übertretungen rechtskräftig bestraft worden sind;

b) die von einem in- oder ausländischen Gericht zu einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten oder zu einer Geldstrafe von mehr als 180 Tagessätzen oder die wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhender strafbarer Handlungen wiederholt rechtskräftig verurteilt worden sind;

c) die wegen Finanzvergehen, mit Ausnahme einer Finanzordnungswidrigkeit, oder wegen Zuwiderhandlungen gegen devisenrechtliche Vorschriften rechtskräftig bestraft worden sind;

d) die sich gegen die Republik Österreich und ihre Einrichtungen betätigt oder eine solche Tätigkeit unterstützt oder gefördert haben;

e) die den Besitz oder den redlichen Erwerb der Mittel zu ihrem Unterhalt nicht nachzuweisen vermögen;

f) die im Bundesgebiet verbotene Unzucht betrieben oder diese unterstützt haben;

g) die gegenüber einer österreichischen Behörde oder ihren Organen zum Zwecke der Täuschung unrichtige Angaben über ihre Person oder ihre persönlichen Verhältnisse gemacht haben;

h) die an der rechtswidrigen Einreise von Fremden in das Bundesgebiet, dem rechtswidrigen Aufenthalt in diesem oder an der rechtswidrigen Ausreise aus dem Bundesgebiet mitgewirkt haben.

(3) Die Behörde hat bei Erlassung eines Aufenthaltsverbotes die persönlichen Verhältnisse des Fremden, insbesondere das Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, gegen die für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes sprechenden öffentlichen Interessen abzuwägen. Ein Eingriff in dieses Recht ist nur zulässig, wenn dieser

a) zum Schutz der inneren oder äußeren Sicherheit der Republik Österreich,

b) zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung,

c) zum Schutz des wirtschaftlichen Wohles der Republik Österreich,

d) zur Verhinderung von strafbaren Handlungen,

e) zum Schutz der Gesundheit und der Moral anderer, oder

f) zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist."

b) §8 FrPG (der durch die Nov. 1986 nicht geändert wurde) besagt:

"Das Aufenthaltsverbot ist von der Behörde, die es erlassen hat, auf Antrag oder von Amts wegen aufzuheben, wenn die Gründe für seine Erlassung weggefallen sind."

3. Der VfGH äußerte in den die Gesetzesprüfungsverfahren einleitenden Beschlüssen das Bedenken, daß §3 FrPG idF der Nov. 1986 die gleichen, mangelhafte Regelungsdichte aufweise wie die Vorgängerbestimmung (des §3 FrPG idStf.), die wegen Widerspruches zu Art8 MRK iVm Art18 B-VG mit hg. Erkenntnis VfSlg. 10737/1985, als verfassungswidrig aufgehoben worden war. Hiezu wird sodann ausgeführt:

"Der Gerichtshof vertrat seinerzeit den Standpunkt, daß auch dann, wenn Art8 Abs2 MRK als innerstaatlich unmittelbar geltendes Recht angesehen und im Zusammenhalt mit §3 FrPG gelesen wird, keine ausreichenden Grundsätze normiert sind, wie die gebotene Interessenabwägung vorzunehmen ist; er meinte weiter, daß dies gegen Art8 MRK und Art18 B-VG verstoße.

Zwar wurden im Abs2 des neuen §3 FrPG die Voraussetzungen für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes anders als bisher umschrieben und wurde im Abs3 erster Satz das Abwägungsgebot ausdrücklich verankert; im folgenden zweiten Satz wird sodann lediglich der im Art8 Abs2 MRK enthaltene materielle Eingriffsvorbehalt wörtlich wiederholt. Das scheint zu bedeuten, daß die Frage der Interessenabwägung in inhaltlich gleicher Weise wie früher - also verfassungsrechtlich unzureichend - geregelt ist.

Art8 MRK und Art18 B-VG scheinen dem Gesetzgeber bei der Regelung des Aufenthaltsverbotes eine spezifische Determinierungspflicht aufzuerlegen."

Dieser Pflicht dürfte der Gesetzgeber - so meint der Einleitungsbeschluß - bei Erlassung des §3 FrPG idF der Nov. 1986 nicht nachgekommen sein.

4. Die Bundesregierung erstattete zu den vier Einleitungsbeschlüssen eine Äußerung, in der sie beantragt, der VfGH wolle §3 FrPG nicht als verfassungswidrig aufheben. Für den Fall der Aufhebung wird begehrt, gemäß Art140 Abs5 B-VG für das Außerkrafttreten eine Frist bis 31. Dezember 1987 zu bestimmen.

Die Bundesregierung verficht die Verfassungsmäßigkeit des §3 FrPG idF der Nov. 1986 mit folgenden Argumenten:

"1. Zur vorläufig angenommenen mangelhaften Regelungsdichte:

Anders als die ursprüngliche Fassung des §3 des Fremdenpolizeigesetzes ist nunmehr in §3 Abs3 ausdrücklich vorgesehen, daß die 'Behörde bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes die persönlichen Verhältnisse des Fremden, insbesondere das Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, gegen die für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes sprechenden öffentlichen Interessen abzuwägen' hat.

Wie der VfGH selbst in den oz. Beschlüssen ausführt, ist es auch bei der Regelung eines fremdenpolizeilichen Aufenthaltsverbotes, bei der eine 'spezifische Eingriffsnähe im Verhältnis zu Art8 MRK anzunehmen ist', nicht unzulässig, der Behörde ein Ermessen einzuräumen oder unbestimmte Rechtsbegriffe zu verwenden. Diese Auffassung deckt sich auch mit der Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in seinem Urteil vom 24. Oktober 1983 im Fall SILVER gegen das Vereinigte Königreich, in dem der Gerichtshof seine bereits früher geäußerte Rechtsauffassung wiederholt, daß 'viele Gesetze unvermeidlich in mehr oder minder vagen Begriffen gefaßt und ihre Interpretation und Anwendung Fragen der Praxis sind'. Weiters hält der Gerichtshof fest: 'Ein Gesetz, das Ermessen einräumt, muß die Reichweite des Ermessens anzeigen. Der Gerichtshof hat jedoch bereits die Unmöglichkeit, zur absoluten Bestimmtheit bei der Gestaltung von Gesetzen zu gelangen und das Risiko erkannt, daß das Streben nach Bestimmtheit zu exzessiver Starrheit führen kann' (vgl. das genannte Urteil, Z88, EuGRZ 1984, S 150).

Das im Abs3 der in Prüfung gezogenen Bestimmung ausdrücklich verankerte Abwägungsgebot stellt nach Auffassung der Bundesregierung in Verbindung mit den in der weiteren Folge ausdrücklich aufgezählten Eingriffsmöglichkeiten die Achtung des durch Art8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten geschützten Bereichs in hinreichender Weise sicher. Die Vielfalt und unterschiedliche Gestaltung all jener Lebenssachverhalte, die für diese Abwägung relevant sein können, lassen es unmöglich erscheinen, eine strenger determinierte Regelung dieses Bereichs zu schaffen. Die Aufnahme aller für die Abwägung relevanten Umstände in das Gesetz würde die Regelung mit einer kasuistischen Aufzählung belasten und die Handhabung im Hinblick auf die mit einer Kasuistik regelmäßig verbundene Unvollständigkeit bedeutend erschweren.

Offenbar ausgehend von derartigen Erwägungen konnte der Europäische Gerichtshof im Fall SILVER auch die Behauptung der Bf. nicht gelten lassen, daß die Bedingungen und Verfahren für die Eingriffe in den Briefverkehr und im besonderen die in den Verfügungen und Richtlinien enthaltenen Direktiven im materiellen Gesetz selbst enthalten sein müßten (vgl. das genannte Urteil, Z 89).

2. Zur vorläufig angenommenen unzureichenden Regelung der Interessensabwägung:

Der VfGH vertrat in seinem Erkenntnis vom 12. Dezember 1985, G225/85 u.a. den Standpunkt, 'daß auch dann, wenn Art8 Abs2 MRK als innerstaatlich unmittelbar geltendes Recht angesehen und im Zusammenhang mit §3 FrPG gelesen wird, keine ausreichenden Grundsätze normiert sind, wie die gebotenen, Interessenabwägung vorzunehmen ist; er meinte weiters, daß dies gegen Art8 MRK und Art18 B-VG verstoße' (vgl. Seite 7 des Beschlusses B231/87-10).

Nach Auffassung der Bundesregierung erscheint durch die ausdrückliche Aufnahme der in Art8 Abs2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten enthaltenen Eingriffsvorbehalte in Abs3 des Fremdenpolizeigesetzes sichergestellt, daß diese Eingriffsvorbehalte so zu handhaben sind, wie dies dem Art8 leg.cit. entspricht. Der Inhalt dieser Bestimmung ist aus der Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hinlänglich bekannt. Ein Eingriff in das Privat- und Familienleben muß nach dieser Rechtssprechung gesetzlich vorgesehen sein, er muß den in Art8 Abs2 leg.cit. angegebenen Zielvorstellungen entsprechen und er muß zur Erreichung dieser Ziele 'in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein' (vgl. die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Fall SUNDAY TIMES gegen das Vereinigte Königreich vom 24. April 1979, sowie das bereits genannte Urteil im Fall SILVER u.a.).

Auch das in §3 des Fremdenpolizeigesetzes verwendete Wort 'notwendig' ist im Sinne dieser Rechtssprechung auszulegen:

das bedeutet, daß der Eingriff, um mit der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vereinbar zu sein, einem 'zwingenden sozialen Bedürfnis' entsprechen und 'in einem angemessenen Verhältnis zu dem damit verfolgten, berechtigten Zweck' stehen muß (vgl. das genannte Urteil im Fall Silver, Z97c). Eine ausdrückliche Verpflichtung, eine weitere Determinierung gesetzlich vorzusehen, ist nach Auffassung der Bundesregierung aus Z97 des Urteils im Fall Silver und anderen in gleicher Weise formulierten Aussagen des Europäischen Gerichtshofs nicht abzuleiten.

Vielmehr ist davon auszugehen, daß die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten nicht in allen Mitgliedsstaaten - so wie in Österreich vorgesehen - unmittelbar anwendbares Recht darstellt. Eine gesetzliche Normierung dieser Grundsätze ist daher offenbar nur in den Fällen geboten, in denen eine unmittelbare Anwendung des Art8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten nicht in Betracht kommt.

3. Zu der vom VfGH vorläufig angenommenen spezifischen Determinierungspflicht:

Art8 EMRK und Art18 B-VG scheinen dem Gesetzgeber nach Auffassung des VfGH bei der Regelung des Aufenthaltsverbotes eine spezifische Determinierungspflicht aufzuerlegen.

Anknüpfend an die unter Pkt. 2 angestellten Erwägungen erscheint nach Auffassung der Bundesregierung die von der in Prüfung gezogenen Gesetzesstelle eingeschlagene Vorgangsweise sowohl im Lichte der in Österreich gebräuchlichen Rechtssetzungstechnik - schon im Hinblick auf eine mögliche Änderung der Auslegung des Begriffes 'notwendig' durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - erforderlich als auch im Lichte dese Art18 B-VG zulässig; letzteres ergibt sich auch daraus, daß es sich - wie bereits erwähnt - beim Art8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten um innerstaatlich unmittelbar anwendbares Recht handelt.

Eine abstrakte Umschreibung entspricht daher der auf Art18 B-VG basierenden Rechtssetzungstechnik in der österreichischen Rechtsordnung.

Die Bezeichnung bestimmter Fallgruppen, in denen das öffentliche Interesse deutlich überwiegt und in denen die Erlassung von Aufenthaltsverboten ohne Durchführung einer Interessenabwägung zulässig wäre, erscheint nach Auffassung der Bundesregierung nicht zielführend, weil für ein Aufenthaltsverbot jeweils das Einfließen von Prognoseelementen aufgrund der Umstände des Einzelfalls für die von der Behörde zu treffende Beurteilung essentiell ist und eine zwingende Automatik der Erlassung von Aufenthaltsverboten aufgrund kasuistisch vorgegebenen Voraussetzungen dem Sinne dieses Rechtsinstitutes nicht adäquat wäre."

II. 1.a) Beim VwGH sind zehn Beschwerdesachen anhängig; die Beschwerden richten sich gegen je einen von der örtlich zuständigen Sicherheitsdirektion im Instanzenzug erlassenen Bescheid, mit dem gegen den jeweiligen Bf. des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ein Aufenthaltsverbot nach § 3 FrPG idF der Nov. 1986 erlassen wurde.

Aus Anlaß dieser Beschwerdefälle stellt der VwGH (zu A 24/87, A25/87, A26/87, A28/87, A29/87, A31/87, A32/87, A 27/87, A33/87 und A34/87), die (hg. unter G166/87, 167/87, 168/87, 169/87, 170/87, 172/87, 173/87, 174/87, 175/87 und 176/87 protokollierten) Anträge, §3 FrPG idF der Nov. 1986 als verfassungswidrig aufzuheben.

Diese Anträge sind beim VfGH am 21. und 22. September 1987 eingelangt.

b) Beim VwGH sind drei weitere Verfahren über Beschwerden anhängig, die sich gegen je einen von der örtlich zuständigen Bezirkshauptmannschaft oder Bundespolizeidirektion erlassenen Bescheid wenden, mit dem der Antrag des jeweiligen Bf., ein über ihn verhängtes Aufenthaltsverbot aufzuheben, gemäß §8 FrPG abgewiesen wurde.

Aus Anlaß dieser Beschwerdefälle stellt der VwGH (zu A 35/87, A36/87 und A37/87) die (hg. unter G177/87, 179/87 und G 180/87 eingetragenen) Anträge, die §§3 und 8 FrPG idF der Nov. 1986 als verfassungswidrig aufzuheben.

Diese Anträge sind beim VfGH am 23. und 24. September 1987 eingelangt.

III. Der VfGH hat erwogen:

A. Zu den von amtswegen eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahren (s.o. I.)

1. Bei allen Anlaß-Beschwerden ist der administrative Instanzenzug erschöpft; so auch bei der zu B231/87 erhobenen Beschwerde, die sich gegen einen von der BPD Linz gemäß §8 FrPG erlassenen Bescheid wendet (siehe §11 Abs4 leg.cit.).

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, sind alle Anlaß-Beschwerden zulässig.

Der VfGH wird demnach über sie in der Sache zu entscheiden haben.

Die Beschwerden B115/87, B311/87 und B342/87 (Gesetzesprüfungsverfahren G138/87, G140/87 und G141/87) wenden sich gegen Bescheide, mit denen Aufenthaltsverbote, gestützt auf bestimmte, im §3 FrPG idF der Nov. 1986 vorgesehene Tatbestände, erlassen wurden. Der VfGH hätte also bei seinen Entscheidungen die entsprechenden Stellen dieser Gesetzesbestimmung anzuwenden. Präjudiziell in der Bedeutung des Art140 Abs1 B-VG ist aber wegen seines untrennbaren Zusammenhanges der gesamte §3 (vgl. auch hiezu das wiederholt zitierte Erkenntnis VfSlg. 10737/1985, dem im Hinblick auf die Präjudizialität eine ähnliche Konstellation zugrundelag).

Die Beschwerde B231/87 (Gesetzesprüfungsverfahren G139/87) bekämpft einen Bescheid, mit dem - gestützt auf §8 FrPG - die beantragte Aufhebung eines Aufenthaltsverbotes abgelehnt wurde. Der VfGH hätte bei seiner Entscheidung zunächst diese, den angefochtenen Bescheid materiell-rechtlich vornehmlich tragende Vorschrift, aber auch §3 FrPG in der zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung geltenden Fassung (jener der Nov. 1986) anzuwenden; §8 FrPG über die Aufhebung des Aufenthaltsverbotes gewinnt nämlich seinen Inhalt nur aus dem Zusammenhalt mit §3 FrPG über das Aufenthaltsverbot (vgl. zB VfSlg. 11042/1986).

Die in Prüfung gezogene bundesgesetzliche Bestimmung ist also in allen Anlaßverfahren präjudiziell.

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, sind die Gesetzesprüfungsverfahren zulässig.

2. Die gegen §3 FrPG idF der Nov. 1986 geäußerten Bedenken haben sich als zutreffend herausgestellt; das Vorbringen der Bundesregierung ist nicht geeignet, sie zu zerstreuen:

Wie der VfGH bereits im Erkenntnis VfSlg. 10737/1985 mit dem er §3 FrPG id Stf. als verfassungswidrig aufhob, betonte, kann bereits die Verhängung eines Aufenthaltsverbotes gegen einen Fremden - und nicht erst die Ablehnung eines Vollstreckungsaufschubes - in das durch Art8 MRK gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens eingreifen.

§3 (allenfalls iVm §4) FrPG sieht also Maßnahmen vor, die geeignet sind, in die durch Art8 Abs1 MRK geschützten Güter einzugreifen.

Ein solcher Eingriff ist nur unter den im Art8 Abs2 MRK genannten Voraussetzungen zulässig. In formeller Hinsicht verlangt diese Verfassungsbestimmung, daß der Eingriff gesetzlich vorgesehen ist ("is in accordance with the law", "est prevue par la loi"). In materieller Hinsicht muß der Eingriff ein Ziel haben, das nach Art8 Abs2 MRK gerechtfertigt ist; er muß zur Erreichung dieses Zieles "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" sein (vgl. zB die Urteile des EGMR in den Fällen Sunday Times und Silver, EuGRZ 1979, 387 und 1984, 149).

Wenn ein Gesetz eine Maßnahme - wie hier ein Aufenthaltsverbot - vorsieht, die nicht bloß zufällig und ausnahmsweise, sondern geradezu in der Regel schwerwiegend in das Familienleben, vielfach auch sonst in das Privatleben, eingreift, wenn also der Effekt des Gesetzes (mag dies auch gar nicht intendiert sein) sehr eingriffsintensiv ist, müssen die Eingriffstatbestände - anders als bei weniger eingriffsnahen Gesetzen - besonders deutlich umschrieben sein. Diesen Anforderungen genügt auch der nun geltende §3 FrPG nicht:

Was unter "gesetzlich" iS des Art8 Abs2 MRK zu verstehen ist, ergibt sich aus dem Rechtssystem des Vertragsstaates (vgl. das Urteil des EGMR im Fall Sunday Times, EuGRZ 1979, 387). In Österreich müssen dem Art18 B-VG zufolge die Eingriffsmöglichkeiten in einer auf Gesetzesstufe stehenden Norm vorgesehen sein.

Das den Grundrechtseingriff erlaubende Gesetz muß das Verhalten der Behörde derart ausreichend vorausbestimmen, daß es für den Normadressaten vorausberechenbar ist und die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes in der Lage sind, die Übereinstimmung des Verwaltungsaktes mit dem Gesetz zu überprüfen (vgl. die ständige Rechtsprechung des VfGH zu Art18 B-VG, zB VfSlg. 8792/1980, 8802/1980, 9609/1983, 9720/1983); oder - wie dies der EGMR in dem (u.a.) zu Art8 MRK ergangenen Urteil im Fall Silver, EuGRZ 1984, 150, ausgedrückt hat - das Gesetz muß so präzise formuliert sein, daß der Bürger sein Verhalten danach einrichten kann; er muß - gegebenenfalls aufgrund entsprechender Beratung - in der Lage sein, die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewißheit zu erkennen. Daß damit grundsätzlich weder ausgeschlossen wird, der Behörde ein Ermessen einzuräumen, noch sogenannte unbestimmte Rechtsbegriffe zu verwenden, ist in der ständigen Judikatur des VfGH zu Art18 B-VG (zB VfSlg. 8792/1980; 9627/1983, 9665/1983) festgehalten und wird auch vom EGMR in der Rechtsprechung zu Art8 MRK (siehe zB den Fall Silver, aaO, S 150) zugestanden. Eingriffsnahe Gesetze, wie etwa Bestimmungen über das Aufenthaltsverbot, müssen deutlich die Eingriffsschranken, wie sie die MRK (hier Art8 Abs2) vorschreibt, erkennen lassen. Ein solches Gesetz muß also mit der soeben dargelegten Bestimmtheit zu erkennen geben, unter welchen Voraussetzungen bei Erlassung eines Aufenthaltsverbotes die aufgrund des jeweiligen Tatbestandes zu erwartenden öffentlichen Interessen daran, daß der Fremde das Bundesgebiet verläßt, gegen die familiären (allenfalls sonstigen privaten) Interessen am Verbleib des Fremden in Österreich abzuwägen sind (wobei das Gesetz die jeweiligen Grundsätze für diese Interessenabwägung festlegen und dabei auf eine angemessene Verhältnismäßigkeit Bedacht nehmen muß; vgl. Urteil des EGMR im Fall Silver, a.a.O. S 152 - §97c), sowie allenfalls - nämlich dann, wenn das Gesetz dies ermöglichen will - unter welchen bestimmten anderen Voraussetzungen das Aufenthaltsverbot ohne jede Rücksichtnahme auf familiäre Beziehungen des Fremden verhängt werden darf - was Art8 MRK nicht ausschließt.

Diesen Anforderungen entsprechen die geltenden Bestimmungen über das Aufenthaltsverbot nicht. Abs1 des §3 FrPG idF der Nov. 1986 umschreibt in Form einer weitmaschigen Generalklausel die Voraussetzungen für eine solche Maßnahme. Abs2 zählt (demonstrativ) einzelne Tatbestände auf, bei deren Zutreffen - unter Abwägung nach Abs3 - ein Aufenthaltsverbot verhängt werden darf. Abs3 erster Satz enthält ein Abwägungsgebot; im folgenden Satz wird sodann der im Art8 Abs2 MRK enthaltene materielle Eingriffsvorbehalt nahezu wörtlich wiederholt. Die damit erzielte Regelungsdichte ist genau dieselbe wie wenn anstelle des §3 Abs3 FrPG idF der Nov. 1986 der Art8 MRK als unmittelbar anzuwendende Vorschrift im Zusammenhalt mit §3 Abs1 und 2 FrPG gelesen würde. Genau einem derartigen Normenkomplex hat der VfGH im Erkenntnis VfSlg. 10737/1985 (mit dem §3 FrPG id Stf. aufgehoben wurde) vorgeworfen, daß er die Eingriffstatbestände verfassungsrechtlich ungenügend umschreibe.

Der VfGH bleibt bei dieser Judikatur. Art8 MRK und Art18 B-VG legen dem Gesetzgeber bei der Regelung des Aufenthaltsverbotes eine spezifische Determinierungspflicht auf. Sie ist - entgegen der offenbaren Meinung der Bundesregierung nicht dahin zu verstehen, daß sie den Gesetzgeber dazu verhält, keine unbestimmten Rechtsbegriffe zu verwenden, der Verwaltung kein freies Ermessen einzuräumen oder sich einer kasuistischen Regelungstechnik zu bedienen. Dem Gesetz muß aber mit hinlänglicher Genauigkeit der vom Gesetzgeber gewollte Inhalt derart entnommen werden können, daß das Verhalten der Behörde vom Adressaten vorausberechenbar und von den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechtes nachprüfbar ist, wobei im gegebenen Zusammenhang - wie dargetan - strenge Anforderungen zu stellen sind. Diese Anforderungen erfüllt §3 Abs3 FrPG idF der Nov. 1986, der lediglich den Wortlaut des Art8 Abs2 MRK übernimmt, bei einer Gesamtschau der Norm nicht; insbesondere reicht es entgegen der Argumentation der Bundesregierung - nicht hin, wenn das dort verwendete Wort "notwendig" an sich auslegungsfähig sein mag.

Die vorläufigen Annahmen der Einleitungsbeschlüsse haben sich sohin als zutreffend erwiesen: Das Gesetz muß die Verwaltungsorgane ausreichend konkretisiert anleiten, wie sie bei der gebotenen Interessenabwägung vorzugehen haben. Dies etwa derart, daß es klarstellt, welche Fallgruppen es allenfalls gibt, in denen das öffentliche Interesse so sehr überwiegt, daß eine Interessenabwägung von vornherein ausgeschlossen ist; vor allem aber derart, daß das Gesetz klärt, welche für den Verbleib des Fremden im Bundesgebiet sprechenden Aspekte im gegebenen Zusammenhang bedeutsam sind (allenfalls mit welchem Gewicht) und gegen das öffentliche Interesse daran, daß der Fremde das Bundesgebiet verläßt, abzuwägen sind.

All dies aber läßt die geltende Regelung des Aufenthaltsverbotes vermissen.

3. §3 FrPG idF der Nov. 1986 war daher wegen Widerspruches zu Art8 MRK und Art18 B-VG aufzuheben.

Die Bestimmung einer Frist für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Gesetzesstelle gründet sich auf Art140 Abs5 dritter und vierter Satz B-VG. Die Frist wurde nur bis 31. Dezember 1987 bemessen, weil mit diesem Zeitpunkt die aufgehobene Bestimmung ohnehin außer Kraft getreten wäre (siehe ArtII Z2 der FrPG-Nov. 1986).

Der Ausspruch, daß frührere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit treten, beruht auf Art140 Abs6 erster Satz B-VG.

Die Verpflichtung des Bundeskanzlers zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung erfließt aus Art140 Abs5 erster Satz B-VG und §64 Abs2 VerfGG.

B. Zu den Anträgen des Verwaltungsgerichtshofes (s. o. II)

1. Eine Einbeziehung dieser Anträge, soweit mit ihnen die Aufhebung des §3 FrPG idF der Nov. 1986 begehrt wird, in die von amtswegen eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahren war im Hinblick auf das fortgeschrittene Prozeßgeschehen (Einlangen der Anträge zwischen 21. und 24. September 1987; Anberaumung der mündlichen Verhandlung für den 29. September 1987) nicht mehr möglich.

Der VfGH hat jedoch beschlossen, von der ihm gemäß Art140 Abs7 zweiter Satz B-VG eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen und (mit dem vorletzten Absatz des Abschnittes I des Spruches) die Anlaßfallwirkung auch für diese beim VwGH anhängigen Beschwerdesachen herbeizuführen (vgl. zB VfSlg. 10737/1985).

Damit erübrigt sich eine weitere Erledigung der vom VwGH gestellten Gesetzesprüfungsanträge, sofern sie sich auf § 3 FrPG idF der Nov. 1986 beziehen.

2. Soweit die zu G 177, 179 und 180/87 gestellten Anträge den §8 FrPG zum Gegenstand haben, waren sie zurückzuweisen (Abschnitt II des Spruches):

Das Ziel eines auf Antrag eines (anderen) Gerichtes eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahrens ist in gleicher Weise wie jenes eines vom VfGH von amtswegen eingeleiten Verfahrens, dem Gericht eine verfassungsrechtlich einwandfreie Grundlage für seine Entscheidung zu geben. Hiebei soll einerseits nicht mehr aus dem Rechtsbestand ausgeschieden werden, als Voraussetzung für den Anlaßfall ist, andererseits soll der verbleibende Text möglichst wenig Veränderung seiner Bedeutung erfahren (vgl. zB VfSlg. 7376/1974, 7726/1975, 8155/1977, 9374/1982).

Auch für die nun behandelte Fallgruppe wurde im Wege des auf Art140 Abs7 B-VG gestützten Ausspruches (Abschnitt I vorletzter Absatz des Spruches) die Anlaßfallwirkung in Ansehung des §3 FrPG idF der Nov. 1986 erweitert. Es wird daher dem VwGH möglich sein, auch bei Entscheidung über diese Beschwerden so vorzugehen, als ob die zuletzt zitierte Gesetzesbestimmung bereits zur Zeit der Verwirklichung der den angefochtenen Bescheiden zugrundeliegenden Tatbestände nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte. Da nun aber - wie oben zu III. A 1. dargetan wurde - §8 FrPG (der die Aufhebung eines verhängten Aufenthaltsverbotes behandelt) seinen Inhalt nur aus dem Zusammenhalt mit §3 leg. cit. (betreffend das Aufenthaltsverbot) gewinnt, ist eine Aufhebung auch des §8 FrPG nicht erforderlich, um für die Anlaßfälle eine mit den vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken nicht mehr belastete Rechtslage herbeizuführen.

Die Anträge, auch §8 FrPG aufzuheben, waren daher mangels Präjudizialität zurückzuweisen.

Dies konnte gemäß §19 Abs3 Z2 lite VerfGG ohne weiteres Verfahren und ohne vorangegangene Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Schlagworte

VfGH / Präjudizialität, Fremdenpolizei, Aufenthaltsverbot, Grundrechte, Legalitätsprinzip, Gesetzesvorbehalt, Ermessen, VfGH / Prüfungsumfang

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1987:G138.1987

Dokumentnummer

JFT_10129071_87G00138_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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