TE Vwgh Erkenntnis 1990/5/14 90/19/0159

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Veröffentlicht am 14.05.1990
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
19/05 Menschenrechte;
40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AVG §45 Abs2;
AVG §52;
FrPolG 1954 §3 Abs1 idF 1987/575;
FrPolG 1954 §3 Abs2 Z1 idF 1987/575;
FrPolG 1954 §3 Abs3 idF 1987/575;
FrPolG 1954 §3 Abs3;
MRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGG §48 Abs1;
VwGG §49 Abs1;

Betreff

R gegen Sicherheitsdirektion für das Bundesland Vorarlberg vom 21. November 1989, Zl. FrB-4250/89, betreffend Aufenthaltsverbot

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der beschwerdeführenden Partei Aufwendungen in der Höhe von S 10.560,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

I.

1. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Vorarlberg (der belangten Behörde) vom 21. November 1989 wurde der Berufung des Beschwerdeführers gegen den Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Bregenz vom 12. Oktober 1989 keine Folge gegeben und der erstinstanzliche Bescheid bestätigt. Mit diesem war gegen den Beschwerdeführer, einen am 2. März 1942 geborenen türkischen Staatsangehörigen, "gemäß § 3 Abs. 1 und Abs. 2 lit. b in Verbindung mit § 4 des Fremdenpolizeigesetzes, BGBl. Nr. 75/54, i. d.dzt.g.F." ein unbefristetes Aufenthaltsverbot für das ganze Bundesgebiet erlassen worden.

Der Begründung des angefochtenen Bescheides und dem Beschwerdevorbringen läßt sich übereinstimmend (und somit unstrittig) entnehmen, daß der Beschwerdeführer mit Urteil des Landesgerichtes Feldkirch vom 5. September 1989 wegen des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung gemäß § 87 Abs. 1 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Jahren verurteilt wurde, wobei 16 Monate dieser Freiheitsstrafe bedingt nachgesehen wurden. Diese Verurteilung wertete die belangte Behörde dahin, daß der weitere Aufenthalt des Beschwerdeführers eine Gefährdung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit darstelle und somit dem öffentlichen Interesse an einer möglichsten Hintanhaltung solcher Delikte zuwiderliefe. Unter (unausgesprochener) Bezugnahme auf § 3 Abs. 3 des Fremdenpolizeigesetzes, BGBl. Nr. 75/1954 idF BGBl. Nr. 575/1987 (FrPolG), würdigte die belangte Behörde die persönliche und familiäre Situation des Beschwerdeführers und nahm die gesetzlich gebotene Abwägung der maßgebenden öffentlichen Interessen an der Verhängung eines Aufenthaltsverbotes gegen die privaten Interessen des Beschwerdeführers an der Abstandnahme von der Erlassung einer solchen Maßnahme vor. Sie gelangte hiebei zu dem Ergebnis, daß - bei grundsätzlicher Anerkennung der vom Beschwerdeführer ins Treffen geführten persönlichen und familiären Interessen (Aufenthalt im Bundesgebiet seit 18 Jahren, Integration des Beschwerdeführers und seiner Familie im Bundesgebiet, Beeinträchtigung des beruflichen Fortkommens des Beschwerdeführers im Falle eines Aufenthaltsverbotes) - die in der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit sowie in der Verhinderung weiterer strafbarer Handlungen durch den Beschwerdeführer begründeten öffentlichen Interessen - diese würden die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes "dringend notwendig" machen - unverhältnismäßig schwerer wiegen als die negativen Auswirkungen des Aufenthaltsverbotes auf die persönlichen und familiären Verhältnisse des Beschwerdeführers.

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit des Inhaltes sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften behauptende Beschwerde, wobei sich der Beschwerdeführer erkennbar in dem Recht verletzt erachtet, daß gegen ihn kein Aufenthaltsverbot erlassen werde.

3. Die belangte Behörde hat die Akten des Verwaltungsverfahrens vorgelegt und in der von ihr erstatteten Gegenschrift die Abweisung der Beschwerde als unbegründet beantragt.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1. Gemäß § 3 Abs. 1 FrPolG kann gegen einen Fremden ein Aufenthaltsverbot erlassen werden, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, daß sein Aufenthalt im Bundesgebiet die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder anderen im Art. 8 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950, BGBl. Nr. 210/1958 (MRK), genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft.

Gemäß § 3 Abs. 2 Z. 1 FrPolG hat als bestimmte Tatsache im Sinne des Abs. 1 insbesondere zu gelten, wenn ein Fremder von einem inländischen Gericht zu einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten, zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten rechtskräftig verurteilt worden ist ....

Abs. 3 der zitierten Gesetzesstelle bestimmt folgendes:

"Würde durch ein Aufenthaltsverbot in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist seine Erlassung nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 genannten Ziele dringend geboten ist. In jedem Fall ist ein Aufenthaltsverbot nur zulässig, wenn nach dem Gewicht der maßgebenden öffentlichen Interessen die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes unverhältnismäßig schwerer wiegen, als seine Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie. Bei dieser Abwägung ist insbesondere auf folgende Umstände Bedacht zu nehmen:

1) die Dauer des Aufenthaltes und das Ausmaß der Integration des Fremden oder seiner Familienangehörigen:

2)

die Intensität der familiären und sonstigen Bindungen;

3)

die mögliche Beeinträchtigung des beruflichen oder persönlichen Fortkommens des Fremden oder seiner Familienangehörigen."

Gemäß Art. 8 Abs. 2 MRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung des Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutze der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

2.1.In Ausführung des Beschwerdepunktes bringt der Beschwerdeführer zunächst vor, daß die belangte Behörde ihrer Entscheidung "einzig und allein" das Faktum seiner Verurteilung durch das Landesgericht Feldkirch zu zwei Jahren Freiheitsstrafe wegen des Verbrechens der absichtlich schweren Körperverletzung zugrunde gelegt habe. Sowohl unter dem Titel inhaltlicher Rechtswidrigkeit als auch unter dem Gesichtspunkt der Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften rügt die Beschwerde, daß die belangte Behörde das (im gerichtlichen Verfahren erstellte) Sachverständigengutachten des Prim. Dr. A vollkommen außer acht gelassen habe. Danach sei der Beschwerdeführer zum Tatzeitpunkt in einem psychogenen Ausnahmezustand gewesen, der infolge einer länger dauernden depressiven Reaktion zustande gekommen sei und - durch Alkoholeinfluß begünstigt - vor bzw. bei der Tat zu einem "Affektsturm, einer eruptiven Entladung des lange aufgestauten Hasses", geführt habe. Dieser "Affektsturm" sei allein auf das Opfer bezogen gewesen. Ansonsten stelle der Beschwerdeführer nach dem Urteil des Sachverständigen keine Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit dar. Die belangte Behörde meine hingegen, bei Einbeziehung der "orientalischen Mentalität" sei der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, daß der Beschwerdeführer bei einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet erneut einschlägig handeln könnte. Damit setze sie sich in krassen Widerspruch zur Aussage des gerichtlichen Psychiaters und desser positiver Zukunftsprognose.

2.2. Die belangte Behörde hat die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung (§ 87 Abs. 1 StGB) zu einer Freiheitsstrafe, die den im § 3 Abs. 2 Z. 1 FrPolG genannten Zeitraum wesentlich übersteigt, als "bestimmte Tatsache im Sinne des Abs. 1" gewertet. Dies - unter Zugrundelegung des eindeutigen Gesetzeswortlautes - zu Recht. Damit ist davon auszugehen, daß die Annahme gerechtfertigt ist, der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet gefährde die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit oder laufe anderen im Art. 8 Abs. 2 MRK genannten öffentlichen Interessen zuwider (§ 3 Abs. 1 FrPolG). Allerdings kommt nicht jedem durch eine bestimmte Tatsache im Sinne des § 3 Abs. 1 FrPolG begründetem öffentlichen Interesse an der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes das gleiche Gewicht zu.

Im Beschwerdefall lag der belangten Behörde nach Ausweis der Akten zu dieser Frage das Gutachten des vom Gericht im Verfahren gegen den Beschwerdeführer herangezogenen Sachverständigen Prim. Dr. med. A vor (vgl. Protokoll über die Hauptverhandlung vom 5. September 1989). Diesem sachverständigen Urteil zufolge habe (beim Beschwerdeführer) ein Affektstau existiert, der sich dann (gemeint offenbar bei der Tat) wieder entladen habe. Auslöser sei wahrscheinlich auch der Alkohol gewesen. Es sei durchaus möglich, daß der Affektsturm durch die Worte "Tier" und "Arschgeber" (seitens des Opfers) ausgelöst worden sei. Ein Affektstau könne sich über Jahre hin erstrecken, bis es zur Explosion komme. Man könne sagen, daß das Verhalten des Angeklagten (des Beschwerdeführers) ein großer Gegensatz zu seiner sonstigen Lebensführung und seiner sonstigen Lebensart gewesen sei. Er (der Sachverständige) habe den Eindruck gewonnen, daß der Angeklagte (der Beschwerdeführer) von einer Last befreit sei, seine Depression sei abgeklungen. Das Problem sei für ihn eigentlich erledigt. Es könne eine positive Zukunftsprognose getroffen werden. Der Angeklagte (der Beschwerdeführer) - so der Sachverständige abschließend - sei sicher keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, Ruhe und Sicherheit.

Nun hat zwar die belangte Behörde dieses Gutachten nicht - wie die Beschwerde meint - "vollkommen außer acht gelassen". Sie hat vielmehr im vollen Bewußtsein dessen, daß sie damit "in Widerspruch zur Aussage des gerichtlichen Psychiaters steht", in der Begründung des angefochtenen Bescheides die Ansicht vertreten, daß bei Einbeziehung der "orientalischen Mentalität" sowie unter Bedachtnahme darauf, daß sowohl die Ehegattin des Beschwerdeführers als auch sein Opfer nach wie vor in unmittelbarer Nachbarschaft im Lande lebten, der "Verdacht nicht von der Hand zu weisen (ist), daß der Fremde bei einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet erneut einschlägig handeln könnte". Gegen die Annahme des Sachverständigen, daß der Beschwerdeführer aufgrund seiner "friedfertigen Einstellung" nicht mehr rückfällig werden dürfte, sprächen die "Erfahrungswerte, daß familiäre Auseinandersetzungen in der Türkei oft über Jahre und Generationen hinweg ausgetragen werden".

Solcherart hat die belangte Behörde die für die Gewichtung des öffentlichen Interesses an der Verhängung eines Aufenthaltsverbotes über den Beschwerdeführer maßgebende Sachverhaltsannahme unter ausdrücklicher Ablehnung der von Fachwissen getragenen Äußerung des Sachverständigen auf eigene Kenntnisse und Erfahrungen gestützt. Diese Vorgangsweise war im vorliegenden Fall nicht zulässig. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. dazu die bei RINGHOFER, Verwaltungsverfahrensgesetze I, 1987, S. 450 f. unter E 15., 20., 21. angeführten Entscheidungen) darf die Behörde Fachfragen ohne Sachverständigenbeweis nur dann selbst beurteilen, wenn ihr die Kenntnisse und Erfahrungen zu eigen sind, die für eine selbständige fachliche Beurteilung von Fragen eines außerhalb des engeren Berufskreises liegenden Wissensgebietes vorausgesetzt werden müssen. Weder der Begründung des bekämpften Bescheides noch dem sonstigen Akteninhalt kann entnommen werden, daß die belangte Behörde (bzw. der für sie tätig gewordene Organwalter) über jene Fachkenntnisse verfügt hätte, die es erlauben, eigenständig eine Beurteilung vorzunehmen, die das vorliegende Gutachten des Psychiaters zu entkräften vermag. Von da her gesehen genügte es nicht, daß die belangte Behörde ihre eigenen Kenntnisse und Erfahrungen ins Treffen führte und diesen gegenüber den Aussagen des medizinischen Sachverständigen den Vorzug gab. Um die Aussagen des Sachverständigen Prim. Dr. med. A in rechtlich unbedenklicher Weise verwerfen zu können, hätte die belangte Behörde im Sinne der vorstehend wiedergegebenen Judikatur gegen jene auf gleicher fachlicher Ebene argumentieren, d.h. das Fachurteil des Genannten unter Heranziehung des Gutachtens eines einschlägigen medizinischen Sachverständigen entkräften müssen. Da dies nicht geschehen ist, war die belangte Behörde im Zeitpunkt der von ihr getroffenen Entscheidung (noch) nicht in der Lage, die von ihr vorzunehmende Gewichtung des öffentlichen Interesses an der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen den Beschwerdeführer auf einen ausreichend ermittelten Sachverhalt zu stützen. Als Folge dessen war sie auch außerstande, eine einwandfreie Interessenabwägung gemäß § 3 Abs. 3 FrPolG - Abwägung des für die Verhängung eines Aufenthaltsverbotes sprechenden öffentlichen Interesses mit den auch von ihr als gewichtig angenommenen privaten Interessen des Beschwerdeführers an der Abstandnahme dieser Maßnahme - durchzuführen.

3. Nach dem Gesagten war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

4. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 und 48 Abs. 1 Z. 1 und 2 VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 206/1989. Die Abweisung des Mehrbegehrens beruht zum einen darauf, daß neben dem pauschalierten Schriftsatzaufwandersatz die Vergütung von Umsatzsteuer im Gesetz nicht vorgesehen ist, zum anderen darauf, daß an Stempelgebühren zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung lediglich S 450,-- zu entrichten waren.

Schlagworte

Beweismittel Sachverständigenbeweis Besonderes Fachgebiet Sachverständiger Entfall der Beiziehung Schriftsatzaufwand Verhandlungsaufwand des Beschwerdeführers und der mitbeteiligten Partei Inhalt und Umfang des Pauschbetrages

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1990:1990190159.X00

Im RIS seit

18.01.2001
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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