Index
10 VerfassungsrechtNorm
B-VG Art140 Abs7 zweiter SatzLeitsatz
Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist rechtzeitig und begründet - minderer Grad des Versehens Einem Anlaßfall gleichzuhaltender Fall; Aufhebung des angefochtenen Bescheides wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes (nach Aufhebung des §1 Abs1 Z1 GrEStG als verfassungswidrig) - Anwendung dieser Gesetzesstelle offenkundig nachteiligSpruch
I. Den Anträgen auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
wegen Versäumung der Frist zur Erhebung der Beschwerde wird stattgegeben.
II. Die Bf. sind durch die angefochtenen Bescheide wegen
Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden.
Die Bescheide werden aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Finanzen) ist schuldig, den Bf. zu Handen des Beschwerdevertreters die mit je 11.000 S bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Mit ihren am 9. Dezember 1986 beim VfGH überreichten Schriftsätzen beantragten die Bf. die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist und erhoben gleichzeitig Beschwerde gegen Bescheide der Finanzlandesdirektion für Steiermark, mit denen ihnen aus Anlaß des Abschlusses eines Anwartschaftsvertrags auf Übereignung einer von einer Gemeinde errichteten Eigentumswohnung Grunderwerbsteuer gemäß §1 Abs1 Z1 GrEStG 1955 vorgeschrieben und die beantragte Grunderwerbsteuerbefreiung gemäß §4 leg.cit. versagt wurde. Die Zustellung der bekämpften Bescheide erfolgte am 23. Oktober 1986.
II. 1. Zu den (rechtzeitig eingebrachten) Anträgen auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird vorgebracht, daß insgesamt 63 von einer Grunderwerbsteuervorschreibung betroffene Käufer von Wohnungen in einer Wohnanlage nach einvernehmlich abgestimmter Vorgangsweise im gesamten Rechtsmittelverfahren übereinstimmend beschlossen hätten, auch Beschwerde beim VfGH zu erheben. Dabei hätten sie sich des Gemeindeamtes und der Gemeindeangestellten als Koordinations- und Hilfsapparat bedient. Die beim Gemeindeamt gesammelten Unterlagen seien von dort an den Rechtsanwalt übersandt worden, wobei es offenbar auf seiten der Gemeindekanzlei zu einem (nicht aufgeklärten) Versehen gekommen sei, da anstelle von insgesamt 63 Unterlagen für Beschwerden nur insgesamt 59 Unterlagen in der Rechtsanwaltskanzlei eingelangt seien. Ein Versehen in der Rechtsanwaltskanzlei sei auszuschließen, da beim Einlagen von Unterlagen sofort Bestätigungsschreiben mit der Zahl der erhaltenen Unterlagen verfaßt worden seien, was auf äußerste Umsicht schließen lasse. Das Fehlen von Unterlagen für diese Beschwerden sei bei einer Kontrollzählung in der Gemeinde aufgrund eines Bestätigungsschreibens der Rechtsanwaltskanzlei erst am 5. Dezember 1986 hervorgekommen. Die Ursache für das Versehen liege möglicherweise darin, daß in diesem sowie einem weiteren Fall je zwei Ehepaare mit dem gleichen Familiennamen Beschwerden eingebracht hätten; vermutlich seien die Unterlagen des jeweils einen Ehepaares von einem Gemeindeangestellten - in der Meinung es handle sich um doppelte Exemplare - nicht weitergeleitet worden.
2. Die Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist sind begründet.
Da das VerfGG in seinem §33 die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht selbst regelt, sind nach §35 dieses Gesetzes die entsprechenden Bestimmungen des §146 Abs1 ZPO idF der Zivilverfahrens-Nov. 1983, BGBl. 135/1983, sinngemäß anzuwenden: Danach ist einer Partei, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt, auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn sie durch ein "unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis" an der rechtzeitigen Vornahme einer befristeten Prozeßhandlung verhindert wurde und die dadurch verursachte Versäumung für sie den Rechtsnachteil des Ausschlusses von der vorzunehmenden Prozeßhandlung zur Folge hatte. Daß der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt.
Unter "minderem Grad des Versehens" ist nach der Rechtsprechung des VfGH leichte Fahrlässigkeit zu verstehen, die dann vorliegt, wenn ein Fehler unterläuft, den gelegentlich auch ein sorgfältiger Mensch begeht (vgl. VfSlg. 9817/1983).
Nach dem glaubhaften Vorbringen des Beschwerdevertreters kann nicht angenommen werden, daß die Bf. oder Bevollmächtigte der Bf. ein leichte Fahrlässigkeit übersteigender Verschuldensgrad trifft. Angesichts der keineswegs alltäglichen Zahl von gleichartigen Verfassungsgerichtshofbeschwerden erscheint es dem VfGH verständlich, daß sich die Bf. und der Beschwerdevertreter einer Hilfs- und Koordinationsstelle, in concreto des Gemeindeamtes bedienten. Der Gerichtshof sieht keinen Grund, das Vorbringen im Wiedereinsetzungsantrag in Zweifel zu ziehen, daß vermutlich die Namensgleichheit von Bf. zu einem Verlust von Unterlagen bei der Übermittlung an die Rechtsanwaltskanzlei geführt habe, was in weiterer Folge die Fristversäumung bewirkt habe. Bei der besonderen Konstellation des Falles kann nicht davon gesprochen werden, daß nicht auch einem sorgfältig arbeitenden Menschen eine derartige Fehlleistung gelegentlich unterlaufen kann.
Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist daher zu bewilligen.
III. 1. Infolge der bewilligten Wiedereinsetzung sind die Rechtsfolgen der Säumnis der Bf. beseitigt. Durch die Bewilligung der Wiedereinsetzung tritt nämlich der Rechtsstreit in die Lage zurück, in welcher er sich vor dem Eintritt der Versäumung befunden hat (§150 Abs1 ZPO). Die - gleichzeitig mit dem Wiedereinsetzungsantrag gesetzte - Prozeßhandlung ist als rechtzeitig gesetzt anzusehen (vgl. Fasching, Lehrbuch des Österreichischen Zivilprozeßrechts, 1984, 273). Dies bedeutet für den vorliegenden Fall, daß die Beschwerden als innerhalb der am 4. Dezember 1986 endenden sechswöchigen Beschwerdefrist eingebracht anzusehen sind.
2. Der VfGH hat mit Erkenntnis vom 10. Dezember 1986, G167/86 (und Folgezahlen) = VfSlg. 11190/1986, §1 Abs1 Z1 des Grunderwerbsteuergesetzes, BGBl. 140/1955, als verfassungswidrig aufgehoben.
Gemäß Art140 Abs7 B-VG ist ein vom VfGH aufgehobenes Gesetz im Anlaßfall nicht mehr anzuwenden. Nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH sind einem Anlaßfall (im engeren Sinne) jene Fälle gleichzuhalten, die im Zeitpunkt des Beginns der mündlichen Verhandlung über eine für das anhängige Verfahren präjudizielle Gesetzesstelle bereits beim VfGH anhängig sind (vgl. zB VfSlg. 10616/1985, 10190/1986).
Die mündliche Verhandlung vor dem VfGH im Verfahren G 167/86 ua hat am 5. Dezember 1986 stattgefunden.
Für die Qualifikation der Rechtssachen als Anlaßfälle im Sinn der wiedergegebenen Judikatur bewirkt die bewilligte Wiedereinsetzung, daß die Beschwerden als am letzten Tag der sechswöchigen Beschwerdefrist, das war nach der Aktenlage in concreto der 4. Dezember 1986, eingebracht anzusehen sind. Es wirkt die Gesetzesaufhebung daher - wie in der Gegenschrift zugestanden wird - auch für diese Rechtssachen.
3. Die angefochtenen Bescheide sind in Anwendung der als verfassungswidrig aufgehobenen Bestimmung ergangen und vermögen sich ausschließlich auf diese Bestimmung zu stützen. Es ist nach Lage des Falles offenkundig, daß sich diese Gesetzesanwendung für die Bf. als nachteilig erweist. Die Bf. sind demnach durch die angefochtenen Bescheide wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden. Die Bescheide waren daher aufzuheben.
IV. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 Z3 und §33 VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG. Im zugesprochenen Kostenbetrag ist Umsatzsteuer in der Höhe von je 1.000 S enthalten.
Schlagworte
VfGH / Wiedereinsetzung, VfGH / FristenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1987:B1193.1986Dokumentnummer
JFT_10128997_86B01193_00