TE Vfgh Erkenntnis 1987/10/8 B1094/86

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Veröffentlicht am 08.10.1987
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Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

StGG Art8
PersFrSchG §4
VfGG §88
StPO §175 bis §177
StPO §177 Abs1 Z2

Leitsatz

Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; Verhaftung im Dienste der Strafjustiz; strenger Maßstab für Prüfung der Gefahr im Verzug iSd §177 Abs1 Z2 StPO; Einholung eines richterlichen Haftbefehls wegen Gefahr im Verzug ist im allgemeinen dann nicht untunlich, wenn mit dem Untersuchungsrichter unverzüglich eine fernmündliche Verbindung hergestellt werden kann; Verhaftung und nachfolgende Anhaltung bis zur Einlieferung ins landesgerichtliche Gefangenenhaus (einschließliich einer von der Verwaltungsbehörde zu vertretenen Verzögerung bei der Überstellung) nicht in §177 Abs1 Z2 und §177 Abs2 StPO gedeckt. Kostenzuspruch an die Bf. (Replik der Bf. kein abverlangter Schriftsatz; Gegenäußerung zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung nicht geboten)

Spruch

Die Bf. ist dadurch, daß sie am 4. November 1986 um 14,00 Uhr von Organen der Bundespolizeidirektion Innsbruck festgenommen und sodann bis 6. November 1986, 14,45 Uhr bei dieser Behörde angehalten wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Bf., zu Handen des Beschwerdevertreters, die mit 11.000 S bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die vorliegende, auf Art144 (Abs1 zweiter Satz) B-VG gestützte Beschwerde der S K wendet sich gegen die am 4. November 1986 um 14,00 Uhr durch Organe der Bundespolizeidirektion (BPD) Innsbruck ohne Vorliegen eines richterlichen Befehles erfolgte Festnahme und die bis 6. November 1986, 14,45 Uhr dauernde Anhaltung in Polizeihaft.

Sie behauptet, durch diese Maßnahmen im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden zu sein und begehrt, diese Rechtsverletzung kostenpflichtig festzustellen.

2. Die - durch die Finanzprokuratur vertretene - BPD Innsbruck als bel. Beh. erstattete eine Gegenschrift. Sie begehrt, die Beschwerde kostenpflichtig abzuweisen. Die Behörde rechtfertigt die Festnahme und Anhaltung damit, daß die Bf. des Verbrechens des Mordes bzw. der Beteiligung daran dringend verdächtig gewesen sei. Es seien die Verwahrungsgründe gemäß § 175 Abs1 Z2 und 3 iVm §177 Abs1 Z2 StPO vorgelegen. Trotz mehrerer Versuche sei es nicht gelungen, einen zuständigen Richter zu erreichen.

3. Darauf replizierte die Bf.

II. Der VfGH nimmt aufgrund des vorgelegten Aktes der BPD Innsbruck, Zl. II-1/58/1/86, des Aktes des Landesgerichtes Innsbruck AZ 31 Vr 3875/86, der Stellungnahmen der Richter dieses Gerichtes, Dr. P T und Dr. W E, sowie des weitgehend übereinstimmenden Parteienvorbringens folgenden hier maßgebenden Sachverhalt als erwiesen an:

Am 2. November 1986 gegen 02,00 Uhr wurde die Leiche des H K im Hausflur seines Wohnhauses aufgefunden. Die gerichtsmedizinische Obduktion ergab, daß der Genannte erdrosselt worden war. Im Zuge der von der BPD Innsbruck durchgeführten Erhebungen gerieten im Laufe der nächsten beiden Tage die Gattin des Ermordeten und seine (damals 17-jährige) Tochter S K (die Bf.) in den Verdacht, die Tat begangen oder daran mitgewirkt zu haben. Dieser Verdacht gründete sich insbesondere darauf, daß nach den Angaben von Zeugen - entgegen der Darstellung der beiden Verdächtigen - H K seine Ehefrau und seine Tochter seit geraumer Zeit tyrannisiert habe, wobei es wiederholt auch zu Mißhandlungen gekommen sei, und daß ferner in der Wohnung der Familie K ein Ledergürtel gefunden wurde, der als Tatwerkzeug in Betracht kam; schließlich wiesen Indizien darauf hin, daß die beiden Verdächtigen dem Ermordeten ein Schlafmittel ins Essen gemischt hatten.

Daraufhin wurden die Bf. und ihre Mutter für 4. November 1986, 14,00 Uhr, zur BPD Innsbruck vorgeladen. Der Ladung kam aber bloß die Bf. nach.

Inzwischen hatten Beamte der BPD Innsbruck in der Zeit zwischen 13,00 Uhr und 14,00 Uhr wiederholt versucht, den Journaldienst versehenden Untersuchungsrichter des Landesgerichtes (LG) Innsbruck, Dr. T, telefonisch zu erreichen, um ihm den Sachverhalt bekanntzugeben. Diese Versuche schlugen jedoch fehl. Der Richter erklärt seine Abwesenheit damit, daß er Mittagspause gemacht habe; er sei während dieser Zeit lediglich über Funkruf ("Piepser") erreichbar gewesen. Ab 14,00 Uhr sei er aber wieder im Amtszimmer gewesen.

Gegen 14,00 Uhr nahmen Kriminalbeamte der BPD Innsbruck - ohne Vorliegen eines richterlichen Haftbefehles - die bei der Behörde aufgrund der Ladung erschienenen Bf. fest, befragten sie und hielten sie schließlich im Polizeigefangenenhaus an.

Am 4. November 1986 um 15,40 Uhr informierten Beamte der BPD Innsbruck telefonisch den Richter Dr. T über das bisherige Geschehen. Er traf keine Verfügung, sondern verwies lediglich auf die 48-stündige Verwahrungsfrist, die für die polizeilichen Ermittlungen offenstehe.

Diese Erhebungen wurden in der Folge fortgeführt.

Am 5. November 1986 fand über die Angelegenheit ein Gespräch zwischen dem Untersuchungsrichter Dr. S und Kriminalbeamten der BPD Innsbruck statt. Eine richterliche Anordnung wurde auch aus diesem Anlaß nicht getroffen.

Am 6. November 1986 um 13,00 Uhr stellte der Staatsanwalt an den Untersuchungsrichter Dr. E den Antrag auf Einleitung der Voruntersuchung und Verhängung der Untersuchungshaft gegen die Bf. und deren Mutter. Unmittelbar danach erteilte der Richter der BPD Innsbruck telefonisch den Auftrag, die beiden Verdächtigen ins landesgerichtliche Gefangenenhaus einzuliefern. Die Polizeibeamten erklärten, daß möglicherweise die 48-stündige Frist, die um 14,00 Uhr ablief, nicht eingehalten werden könne. Der Richter erwiderte, die Einlieferung möge ehestmöglich erfolgen.

Am 6. November 1986 um 14,45 Uhr wurde die Bf. dann dem landesgerichtlichen Gefangenenhaus übergeben, wo sie bis 23. Jänner 1987 in Untersuchungshaft gehalten wurde. Am selben Tag wurde das gegen sie wegen Verdachtes des Verbrechens des Mordes (§75 StGB) geführte Verfahren gemäß §109 StPO eingestellt.

III. Der VfGH hat erwogen:

1. Die Beschwerde ficht die von der BPD Innsbruck verfügte Festnahme und Anhaltung bis zur Einlieferung ins landesgerichtliche Gefangenenhaus der Bf. an. Die Behörde traf diese Maßnahmen - wie sich aus dem im vorstehenden Abschnitt II geschilderten Sachverhalt und den folgenden Ausführungen unter III.2.c ergibt - aus eigener Macht; sie sind allein ihr zuzurechnen und von ihr zu verantworten.

Diese Maßnahmen erfolgten in Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt. Sie sind nach Art144 Abs1 zweiter Satz beim VfGH bekämpfbar (vgl. zB VfSlg. 10448/1985).

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde zulässig.

2.a) Das Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, bestimmt in seinem §4, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen. Gesetzliche Bestimmungen iS des §4 leg.cit. sind u.a. die §§175 bis 177 StPO.

Der VfGH geht bei der rechtlichen Beurteilung des festgestellten Sachverhaltes (s.o. II) aus dem Blickwinkel der geltend gemachten Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf persönliche Freiheit davon aus, daß die Bf. im Dienste der Strafjustiz ohne richterlichen Haftbefehl festgenommen und verwahrt wurde. Es ist daher zu prüfen, ob diese Freiheitsbeschränkung nach §177 (§10 Z1) StPO iVm §175 StPO zulässig war. Gemäß §177 Abs1 (§10 Z1) StPO darf die vorläufige Verwahrung einer Person, die eines Verbrechens oder eines - nicht den Bezirksgerichten zur Aburteilung zugewiesenen - Vergehens verdächtig ist, in dem hier allein in Betracht kommenden Fall der Haftgründe nach §175 Abs 1 Z2 und 3 StPO (s. §177 Abs1 Z2 StPO) zum Zwecke der Vorführung vor den Untersuchungsrichter ausnahmsweise auch durch Organe der Sicherheitsbehörden ohne schriftliche Anordnung vorgenommen werden, wenn die Einholung eines richterlichen Befehles wegen Gefahr im Verzuge nicht tunlich ist.

Für die Prüfung der Frage, ob Gefahr im Verzug besteht, gilt ein strenger Maßstab: Von der grundsätzlichen Regel, daß ein richterlicher (Haft-)Befehl einzuholen ist, darf nur in besonderen (Ausnahms-)Fällen, dh. wenn die besonderen Umstände eine Einholung nicht erlauben, abgegangen werden (vgl. VfSlg. 9934/1984). Untunlich - wegen Gefahr im Verzug - ist die Einholung eines richterlichen Befehls im allgemeinen dann nicht, wenn mit dem Untersuchungsrichter des zuständigen Gerichts während der Dienst- und Journaldienststunden unverzüglich eine fernmündliche Verbindung hergestellt werden kann (VfSlg. 4450/1963, 4624/1963, 9934/1984).

b) Diese Möglichkeit war hier gegeben:

Die polizeilichen Vorerhebungen hatten bereits etwa zwei Tage gewährt. Die gegen die Bf. sprechenden Verdachtsmomente hatten sich zwar im Laufe dieser Ermittlungen verdichtet; es trat aber keine Situation ein, die es erfordert hätte, gegen die Bf. gleichsam von einer Minute auf die andere eine Untersuchungshandlung zu setzen und sie in Haft zu nehmen. Das ergibt sich schon daraus, daß die Beamten es zunächst für ausreichend erachteten, die Bf. und ihre Mutter zur BPD Innsbruck vorzuladen, und zwar für 4. November 1986, 14,00 Uhr. Erst als dieser Ladung bloß die Bf., nicht aber deren Mutter folgte, erachteten die Polizeibeamten die Verhaftung der Bf. für erforderlich, offenbar um eine (weitere) Absprache zwischen den beiden Verdächtigen zu verhindern. Irgendwelche neue Verdachtsmomente hatten sich aber nicht ergeben.

Auszugehen ist davon, daß dem §176 Abs1 StPO zufolge für die Zulässigkeit einer Verhaftung der schriftliche richterliche Haftbefehl die Regel ist. Unter den geschilderten Umständen wäre es den Polizeibeamten, nachdem sich der Verdacht gegen die Bf. und deren Mutter verdichtet hatte, möglich gewesen, ohne den Erfolg der Amtshandlung zu gefährden, sich ins Landesgericht Innsbruck zu begeben. In diesem Fall hätten sie von der bloß vorübergehenden Abwesenheit des Journalrichters Kenntnis erlangt; sie hätten dann mit ihm allenfalls über Funk in Verbindung treten können, auch wenn sie der Journalrichter möglicherweise an den nach der Geschäftseinteilung zuständigen Untersuchungsrichter - sofern dieser erreichbar gewesen wäre verwiesen hätte.

Die Verhaftung ging demnach nicht gesetzmäßig vonstatten; die Voraussetzungen des §4 des Gesetzes zum Schutze der persönlichen Freiheit, wonach die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt eine Person nur in den vom Gesetz bestimmten Fällen in Verwahrung nehmen dürfen, treffen also nicht zu. Die Bf. wurde somit - Art8 StGG schützt vor rechtswidriger Verhaftung - in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt.

c) Da die am 4. November 1986 erfolgte Festnahme der Bf. gesetzwidrig erfolgte, war auch die folgende Verwahrung rechtswidrig, und zwar solange die Anhaltung der BPD Innsbruck und nicht dem LG Innsbruck zuzurechnen war.

Anläßlich der am 5. November 1986 im Gegenstand stattgefundenen Besprechung zwischen dem Untersuchungsrichter und Polizeibeamten wurde keine richterliche Anordnung getroffen; eine Verantwortlichkeit des Gerichtes trat dadurch also nicht ein.

Am 6. November 1986 um etwa 13,00 Uhr erteilte der Untersuchungsrichter Beamten der BPD Innsbruck telefonisch den Auftrag, die Bf. dem LG zu überstellen. Diesem Auftrag kamen die Beamten nicht unverzüglich nach; vielmehr lieferten sie die Bf. erst um 14,45 Uhr dem landesgerichtlichen Gefangenenhaus ein. Diese Verzögerung hat die BPD Innsbruck zu verantworten; sie war durch die von Beginn der Haft an mangelhafte Tätigkeit dieser Behörde verursacht.

Auch die bis 6. November 1986, 14,45 Uhr, erfolgte Anhaltung der Bf. in Verwaltungshaft stellt sich sohin als Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf persönliche Freiheit dar.

3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von 1.000 S enthalten.

Die von der Bf. für die Erstattung der Replik begehrten Kosten waren nicht zuzusprechen, da es sich um keinen abverlangten Schriftsatz handelt und die Erstattung der Gegenäußerung, die bloß Rechtsausführungen enthält, zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung nicht geboten war.

4. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung beschlossen werden.

Schlagworte

VfGH / Kosten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1987:B1094.1986

Dokumentnummer

JFT_10128992_86B01094_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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