TE Vfgh Erkenntnis 1987/10/14 G181/86, G43/87, G44/87, G45/87, G46/87, G121/87, G122/87

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Veröffentlicht am 14.10.1987
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Index

82 Gesundheitsrecht
82/04 Apotheken, Arzneimittel

Norm

B-VG Art20 Abs1
B-VG Art20 Abs2
B-VG Art133 Z4
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsmaßstab
B-VG Art140 Abs3 erster Satz
B-VG Art144 Abs2
ApothekerkammerG §18 ff, §21 Abs3 und Abs4, §23 Abs1
VStG 1950
MRK Art5
MRK Art5 Abs1 lita
MRK Vorbehalt zu Art5
MRK Art6 Abs1
EGVG 1950 ArtII Abs6 litc

Leitsatz

Prüfung der (verfassungsrechtlich bedenklichen)Organisationsnormen anstatt der (ebenfalls bedenklichen)Strafnormen - weniger einschneidende Änderung der Rechtsordnung;Präjudizialität des §21 Abs3 zweiter Satz und §21 Abs4; derVfGH kann eine präjudizielle Norm in jeder Hinsicht auf ihreVerfassungsmäßigkiet - völlig unabhängig vom Anlaßfall - prüfen.Der österreichische Vorbehalt zu Art5 MRK erfaßt nichtDisziplinarverfahren; Strafrecht iS des Art6 MRK ist "autonom"anhand der Konvention entsprechend deren Sinn und Zweck zuverstehen; einige der in §23 Abs1 vorgesehenen Strafen,jedenfalls die dauernde oder zeitliche Entziehung des Rechtes zurLeitung einer Apotheke (lite) und das Verbot zur Ausübung desApothekerberufes (litf) sind Strafen iS des Art6 MRK; dieseStrafen werden von Art6 MRK erfaßtDer Disziplinarberufungssenat (keine Einrichtung derSelbstverwaltung, keine Kollegialbehörde mit richterlichemEinschlag, keine Weisungsfreistellung) ist kein Tribunal iS desArt6 MRK; in dem vom österr. Vorbehalt zu Art5 MRK nichterfaßten Bereich (wie hier) ist in Strafverfahren dienachprüfende Kontrolle durch den VwGH oder VfGH nichtausreichend, um den Garantien des Art6 MRK zu genügen - überdie Stichhaltigkeit von strafrechtlichen Anklagen hat einTribunal selbst zu entscheiden; Widerspruch des §21 Abs3zweiter Satz und des §21 Abs4 zu Art6 MRK

Spruch

1. §21 Abs3 zweiter Satz und §21 Abs4 des BG vom 18. Juni 1947, BGBl. Nr. 152, betreffend die Errichtung einer Apothekerkammer (Apothekerkammergesetz) werden als verfassungswidrig aufgehoben.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 30. September 1988 in Kraft.

Der Bundeskanzler ist verpflichtet, diese Aussprüche unverzüglich im Bundesgesetzblatt kundzumachen.

2. Im übrigen werden die vom VwGH zu G 43, 44, 45, 46/87 gestellten Gesetzesprüfungsanträge zurückgewiesen und die vom VfGH zu G181/86, G121/87 und G122/87 von amtswegen eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahren eingestellt.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Die maßgebenden Gesetzesbestimmungen

Anlaß dieser Gesetzesprüfungsverfahren sind Disziplinarverfahren, die gegen Apotheker geführt worden waren.

Das Disziplinarverfahren gegen Apotheker wird durch die §§18 bis 24 des Apothekerkammergesetzes, BGBl. 152/1947, geregelt. Hier maßgebend ist die Fassung, die im Zeitpunkt der Erlassung der den Gegenstand der Anlaßbeschwerdeverfahren - s.u. II.

- bildenden Bescheide galt, d.i. jene in der Fassung der Novellen BGBl. 173/1957 und 564/1981 sowie des Bundesministeriengesetzes 1973, BGBl. 389 (in der Folge wiederverlautbart als Bundesministeriengesetz 1986, BGBl. 76). Diese Bestimmungen des Apothekerkammergesetzes (ApKG) lauten:

"Disziplinarverfahren.

§18. (1) Ein Mitglied, das die Standesehre oder das Standesansehen der Apothekerschaft beeinträchtigt, macht sich eines Disziplinarvergehens schuldig.

(2) Der disziplinären Verfolgung steht der Umstand nicht entgegen, daß die gleiche Handlung oder Unterlassung auch von einem Gericht oder einer Verwaltungsbehörde zu ahnden ist.

(3) Öffentliche Bedienstete unterstehen nicht der Disziplinargewalt der Apothekerkammer. Die Dienstbehörde dieser Mitglieder ist jedoch verpflichtet, die von der Apothekerkammer erstattete Disziplinaranzeige in Behandlung zu nehmen und ihr das Erkenntnis oder den Einstellungsbeschluß zuzustellen.

§19. (1) Über Disziplinarvergehen erkennt der Disziplinarrat:

(2) Der Disziplinarrat besteht aus dem vom Vorstand der Apothekerkammer zu bestellenden Vorsitzenden, der rechtskundig sein muß, und aus zwei weiteren Beisitzern, von denen je einer von jedem der beiden Abteilungsausschüsse bestellt wird. Die Bestellung der Mitglieder des Disziplinarrates bedarf der Genehmigung des Bundesministeriums für Gesundheit und Umweltschutz (§26 Abs2).

(3) Die Mitglieder des Vorstandes sind in den Disziplinarrat nicht wählbar.

(4) Die Mitglieder des Disziplinarrates versehen ihre Aufgaben ehrenamtlich, doch werden ihre Barauslagen vergütet. Die Entschädigung des Vorsitzenden wird durch die Geschäftsordnung geregelt.

§20. Die Anzeige von Disziplinarvergehen sowie die Vertretung der Anzeige beim Disziplinarrat obliegt einem vom Vorstande bestellten Disziplinaranwalt. Über Weisung des Bundesministeriums für Gesundheit und Umweltschutz ist der Disziplinaranwalt verpflichtet, die Disziplinaranzeige zu erstatten und Rechtsmittel zu ergreifen.

§21. (1) Gegen das Erkenntnis des Disziplinarrates sowie gegen einen Beschluß, mit dem die Einleitung des Disziplinarverfahrens abgelehnt wird, ist binnen zwei Wochen die Berufung zulässig.

(2) Die Berufung ist beim Disziplinarrat einzubringen, sie hat aufschiebende Wirkung.

(3) Über Berufungen entscheidet der Disziplinarberufungssenat beim Bundesministerium für Gesundheit und Umweltschutz. Er besteht aus einem rechtskundigen Verwaltungsbeamten aus dem Stande des Bundesministeriums für Gesundheit und Umweltschutz als Vorsitzenden, zwei Beamten aus dem Stande des Bundesministeriums für Gesundheit und Umweltschutz, von denen einer rechtskundig sein muß, sowie aus zwei weiteren Beisitzern, von denen je einer von jedem der beiden Abteilungsausschüsse bestellt wird.

(4) Die Mitglieder des Disziplinarberufungssenates mit Ausnahme der von den Abteilungsausschüssen bestellten Mitglieder werden vom Bundesministerium für Gesundheit und Umweltschutz bestimmt. Mitglieder des Disziplinarrates sowie des Vorstandes können nicht Mitglieder des Disziplinarberufungssenates sein.

§22. (1) Soweit sich aus den Vorschriften dieses BG nichts anderes ergibt, sind die Bestimmungen der §§107 bis 109, sowie der §§111 bis 151 der Dienstpragmatik, RGBl. Nr. 15/1914, sinngemäß anzuwenden.

(2) Nähere Bestimmungen können vom Vorstand in einer Geschäftsordnung für den Disziplinarrat getroffen werden.

(3) Das Bundesministerium für Gesundheit und Umweltschutz kann nähere Bestimmungen für das Verfahren vor dem Disziplinarberufungssenat mit V erlassen.

§23. (1) Disziplinarstrafen sind:

a)

der schriftliche Verweis;

b)

Geldstrafen bis zur Höhe des fünfzehnfachen Betrages der Gehaltskassenumlage, die für einen angestellten Apotheker auf Grund der Bestimmungen des Gehaltskassengesetzes, BGBl. Nr. 23/1928, (nunmehr des Gehaltskassengesetzes 1959, BGBl. 254, idgF) jeweils zu leisten ist;

c)

die zeitliche oder dauernde Entziehung des Rechtes auf Ausbildung von Aspiranten;

d)

die zeitliche oder dauernde Entziehung des Wahlrechtes und der Wählbarkeit zur Apothekerkammer;

e)

die zeitliche oder dauernde Entziehung des Rechtes zur Leitung einer Apotheke;

f)

das Verbot der Ausübung des Apothekerberufes bis zur Dauer von drei Jahren.

(2) Welche dieser Strafen zu verhängen ist, ist nach der Schwere des Verschuldens und der daraus entstandenen oder drohenden Nachteile zu beurteilen. Die Disziplinarstrafen können auch nebeneinander verhängt werden.

(3) Disziplinarstrafen nach Abs1 litb bis f können bedingt unter Festsetzung einer Bewährungsfrist von einem bis zu drei Jahre verhängt werden, sofern über den Beschuldigten bisher keine andere Disziplinarstrafe als die des schriftlichen Verweises verhängt worden ist oder eine andere Disziplinarstrafe bereits getilgt ist.

(4) Jede in Rechtskraft erwachsene Disziplinarstrafe ist in eine vom Kammeramt zu führende Vormerkung einzutragen. Disziplinarstrafen nach Abs1, litc, e und f sind der zuständigen Bezirksverwaltungsbehörde sowie dem Landeshauptmann mitzuteilen. Im Disziplinarerkenntnis kann auf Veröffentlichung desselben in den Mitteilungen der Apothekerkammer erkannt werden.

(5) Auf Ansuchen des disziplinär Bestraften kann jene Stelle (Disziplinarrat oder der Disziplinarberufungssenat), die das Disziplinarerkenntnis in letzter Instanz gefällt hat, die Tilgung einer Disziplinarstrafe verfügen, wenn seit der Rechtskraft des Erkenntnisses mindestens fünf Jahre verstrichen sind und der Antragsteller innerhalb dieser Zeit keines neuerlichen Disziplinarvergehens schuldig erkannt worden ist.

§24. (1) Die Kosten des Disziplinarverfahrens sind im Falle des Schuldspruches vom Verurteilen, im Falle des Freispruches von der Apothekerkammer zu tragen.

(2) Die verhängten Geldstrafen sowie die Kosten des Disziplinarverfahrens werden im Verwaltungswege eingebracht."

II. Der Sachverhalt

A. 1. Die Anlaßverfahren des VfGH, 2. die Prüfungsbeschlüsse
des VfGH, 3. die Äußerung der Bundesregierung

1. Beim VfGH sind zu B695/84, B35/87 und B202/87 Verfahren über auf Art144 B-VG gegründete Beschwerden gegen drei Berufungsbescheide des Disziplinarberufungssenates (der Österreichischen Apothekerkammer) beim damaligen Bundesministerium für Gesundheit und Umweltschutz (künftig: Disziplinarberufungssenat) anhängig, denen folgender Sachverhalt zugrundeliegt:

a) Der Bf. zu B695/84 war bis zum 31. Jänner 1980 Angestellter einer Apotheke; seit 1. Feber 1980 ist er deren Konzessionär und verantwortlicher Leiter.

Der Disziplinarrat der Österreichischen Apothekerkammer (künftig: Disziplinarrat) erkannte ihn mit Bescheid vom 24. Feber 1982 schuldig, durch bestimmte Handlungen die Standesehre und das Standesansehen der Apothekerschaft beeinträchtigt und sich sohin eines Disziplinarvergehens im Sinne des §18 Abs1 ApKG schuldig gemacht zu haben. Über den Bf. wurde gemäß §23 Abs1 litb ApKG eine Geldstrafe von S 18.000,-- verhängt.

Der Disziplinarberufungssenat gab der dagegen erhobenen Berufung mit Bescheid (Disziplinarerkenntnis) vom 5. Juni 1984 insofern Folge, als die Geldstrafe auf S 9.000,-- herabgesetzt wurde; im übrigen wurde der erstinstanzliche Bescheid bestätigt.

b) Der Disziplinarrat erkannte den Bf. zu B35/87 damals Konzessionär einer öffentlichen Apotheke - mit Bescheid vom 11. Dezember 1985 schuldig, durch bestimmte Verhaltensweisen die Standesehre und das Standesansehen der Apothekerschaft beeinträchtigt und sohin ein Disziplinarvergehen nach §18 Abs1 ApKG begangen zu haben. Über den Bf. wurde gemäß §23 Abs1 litb ApKG idF der Nov. BGBl. 564/1986 eine Geldstrafe von 100.000 S verhängt und ihm gemäß §23 Abs1 lite leg.cit. das Recht zur Leitung einer Apotheke auf die Dauer von drei Jahren entzogen.

Gegen diesen Bescheid erhoben sowohl der Disziplinaranwalt als auch der Bf. Berufung.

Der Disziplinarberufungssenat gab der Berufung des Disziplinaranwaltes mit Bescheid (Disziplinarerkenntnis) vom 4. November 1986 insofern Folge, als die Disziplinarstrafe der Entziehung des Rechtes zur Leitung einer Apotheke auf die Dauer von vier Jahren erhöht wurde. Die Berufung des Bf. wurde abgewiesen.

c) Der Disziplinarrat erkannte den Bf. zu B202/87 einen angestellten Apotheker - mit Bescheid vom 16. September 1986 schuldig, durch bestimte Verhaltensweisen die Standesehre und das Standesansehen der Apothekerschaft beeinträchtigt und somit ein Disziplinarvergehen nach §18 Abs1 ApKG begangen zu haben. Über den Bf. wurde gemäß §23 Abs1 litb ApKG idF der Nov. BGBl. 564/1981 eine Geldstrafe von 45.000 S verhängt und ihm gemäß §23 Abs1 lite leg.cit. das Recht zur Leitung einer Apotheke auf die Dauer von drei Jahren entzogen. Der Vollzug der zuletzt genannten Strafe wurde gemäß §23 Abs3 ApKG für einen Zeitraum von drei Jahren vorläufig aufgeschoben.

Gegen diesen Bescheid erhob der Disziplinaranwalt hinsichtlich dieses vorläufigen Aufschubes Berufung.

Der Disziplinarberufungssenat gab der Berufung des Disziplinaranwaltes mit Bescheid (Disziplinarerkenntnis) vom 3. März 1987 Folge und änderte den erstinstanzlichen Bescheid dahin ab, daß der Aufschub des Vollzuges der gemäß §23 Abs1 lite ApKG verhängten Disziplinarstrafe ersatzlos entfiel.

2.a) Der VfGH beschloß aus Anlaß der zu B695/84 erhobenen Beschwerde am 9. Oktober 1986, gemäß Art140 Abs1 B-VG von amtswegen die Verfassungsmäßigkeit des §21 Abs3 und 4 ApKG zu prüfen (G181/86). Gleichartige Beschlüsse faßte er am 11. Juni 1987 zu B35/87 und B202/86 (G121,122/87).

b) Er begründete den Beschluß B695/84 wie folgt:

"1. Der VfGH hat bei Entscheidung über die vorliegende - anscheinend zulässige - Beschwerde auch die Frage zu beurteilen, ob der Bf. etwa im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt wurde; der Gerichtshof hat hiebei zu untersuchen, ob die bel. Beh. (der Disziplinarberufungssenat) zur Entscheidung zuständig war und ob diese Kollegialbehörde in der gesetzmäßigen Zusammensetzung entschieden hat. Dabei hätte der VfGH u.a. §21 Abs3 und 4 des ApothekerkammerG anzuwenden. Diese bundesgesetzlichen Vorschriften scheinen daher präjudiziell zu sein.

2. Gegen sie hat der VfGH das Bedenken, daß sie dem auf Verfassungsstufe stehenden Art6 Abs1 MRK widersprechen, wonach jedermann Anspruch darauf hat, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar 'von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht' (tribunal), 'das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat'.

Der VfGH geht vorläufig davon aus, daß der österreichische Vorbehalt zu Art5 MRK Disziplinarverfahren nicht erfaßt, und zwar auch dann nicht, wenn dem Vorbehalt der Inhalt zukommt, den ihm der VfGH in seiner bisherigen Judikatur (siehe etwa VfSlg. 3806/1960, 3917/1961, 6275/1970, 6552/1971, 6577/1971, 7210/1973, 7814/1976, 7874/1976, 8087/1977, 8234/1978, 8428/1978, 8654/1979, 8685/1979, 8900/1980, 8930/1980, 9158/1981, 12.3.1982 B333/77, 9409/1982, 27.2.1986 B457/85) beigemessen hat. Es scheint, daß Sanktionen für die Verletzung von Standespflichten niemals als Strafen iS des VStG 1950 angesehen wurden (vgl. ArtII Abs6 litc EGVG 1950).

Der VfGH hat in Übereinstimmung mit der älteren Rechtsprechung des EGMR (vgl. die Nachweise bei Kopetzki, JBl. 1981, 468 FN 3) die Meinung vertreten, daß die Ahndung von Verstößen gegen die Standes- oder Berufspflichten (Disziplinarrecht) nicht unter Art6 MRK fällt (vgl. zB VfSlg. 4710/1964, 5033/1965, 5657/1968, 6239/1970, 7366/1974, 7907/1976).

Die dieser Judikatur zugrundeliegende Auffassung dürfte jedoch in dieser Allgemeinheit nicht zutreffen. Die Garantien (insbesondere die Organisationsgarantien) des Art6 MRK scheinen immer dann zum Tragen zu kommen, wenn schwere Strafen vorgesehen sind (vgl. die neue Judikatur des EGMR, etwa im Fall Engel, EuGRZ 1976, 221 ff.), also auch dann, wenn sie im Disziplinarbereich verhängt werden (vgl. die neue Judikatur des EGMR, Fall Engel, EuGRZ 1976, 221 ff.; Fall Campbell und Fell, EuGRZ 1985, 535 ff.), ferner dann, wenn über zivile Rechte (civil rights) abgesprochen wird, wie etwa die - beispielsweise in einem Disziplinarverfahren erfolgte - Aberkennung einer Berufsausübungsbefugnis (vgl. hiezu die neuere Judikatur des EGMR in den Fällen König, EuGRZ 1978, 406 ff., Le Compte I, EuGRZ 1981, 551 ff., Albert und Le Compte, EuGRZ 1983, 190 ff.).

§23 Abs1 ApothekerkammerG sieht - wie der VfGH vorläufig annimmt - auch vom Begriff 'strafrechtliche Anklage' iS des Art6 Abs1 MRK erfaßte schwere Strafen (ausgenommen lita) oder (auch) in zivile Rechte des Betroffenen eingreifende Verbote (so das Verbot, einen bestimmten Beruf auszuüben) vor (zum Begriff 'civil rights' vgl. etwa VfSlg. 8856/1980 und 9887/1983). Im Gesetzesprüfungsverfahren kommt es anscheinend nicht darauf an, welche Sanktion im Beschwerdeverfahren verhängt wurde (9.000,-- S Geldstrafe), sondern darauf, welche Rechtsfolgen das Gesetz kennt (vgl. EGMR, Fall Öztürk, EuGRZ 1985, 67).

Sollten diese vorläufigen Annahmen zutreffen, so müßte zumindest letztlich ein 'Tribunal' iS des Art6 MRK zur Entscheidung berufen sein.

Als höchste Administrativinstanz ist hier der Disziplinarberufungssenat vorgesehen (§21 Abs3 ApothekerkammerG). Dieser ist keine 'Kollegialbehörde mit richterlichem Einschlag' iS des Art133 Z4 B-VG. Selbst wenn jedoch die Unabhängigkeit des Disziplinarberufungssenates aus dem Gesamtzusammenhang der diesen betreffenden Regelungen oder aus der sinngemäßen Anwendung der disziplinarrechtlichen Vorschriften der Dienstpragmatik oder des Beamten-Dienstrechtsgesetzes als gesetzlich gewollt zu unterstellen ist, fehlt es an einer gesetzlichen Regelung der Funktionsdauer der Mitglieder des Disziplinarberufungssenates, sodaß die kraft Art6 Abs1 MRK zu garantierende Unabhängigkeit dieser Mitglieder auf keinen Fall ausreichend gewährleistet erscheint (vgl. zB VfGH 5. 3. 1986 G232/85). Der Disziplinarberufungssenat scheint also keinesfalls als 'unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht (Tribunal)' iS des Art6 Abs1 MRK zu qualifizieren zu sein.

Der VfGH hat in seiner mit VfSlg. 5100/1965 begonnenen und der darauf aufbauenden Rechtsprechung (etwa VfSlg. 9887/1983 und die dort zitierte weitere Judikatur) zum Ausdruck gebracht, daß kein Widerspruch zu Art6 Abs1 MRK bestehe, wenn eine mit administrativen Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbare behördliche Entscheidung sowohl vor dem VwGH als auch vor dem VfGH in Beschwerde gezogen werden kann.

Es scheint, daß diese Judikatur im Licht der neueren Rechtsprechung der Straßburger Instanzen (zB EGMR, Fall Le Compte I, EuGRZ 1981, 551; EGMR, Fall Sramek, EuGRZ 1985, 336; EKMR, Fall Ettl, EuGRZ 1985, 364; vgl. hiezu etwa auch Holzinger, Die erste Grundrechts-Enquete, EuGRZ 1986, 269, insbes. 273) nicht mehr im vollen Umfang aufrecht erhalten werden kann: Aufgabe des VfGH ist es zu prüfen, ob verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte (also nicht bloß einfachgesetzliche Rechte) oder Rechte wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm verletzt wurden. Aber auch der VwGH scheint nicht mit einer den Erfordernissen des Art6 Abs1 MRK genügenden Entscheidungskompetenz ausgestattet zu sein. Art6 Abs1 MRK scheint den 'Anspruch auf ein Gericht (Tribunal)' und auf eine gerichtliche Entscheidung in der Sache selbst sowohl hinsichtlich der dieser zugrundeliegenden Tat - als auch hinsichtlich der Rechtsfrage zu gewährleisten (vgl. EGMR, Fall Le Compte I, EuGRZ 1981, 551, insbes. 553; Kopetzki, in Ermacora/Nowak/Tretter, Die Europäische Menschenrechtskonvention, S 257 ff., und die dort zitierte weitere Literatur). Der VfGH hegt das Bedenken, daß die begrenzte Entscheidungsbefugnis des VwGH in der Sache selbst ebensowenig diesen Anforderungen genügt wie die auf Verfahrensfehler der Behörde beschränkte Sachverhaltsprüfung des VwGH unter Ausschluß einer umfassenden Kontrolle der behördlichen Beweiswürdigung.

Da die nachprüfende Kontrolle durch die beiden Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes allein nicht ausreichen dürfte, um dem Art6 Abs1 MRK zu entsprechen, müßte - wie der VfGH vorläufig annimmt - der Disziplinarberufungssenat als 'Tribunal' eingerichtet sein, um der Organisationsgarantie iS dieser Verfassungsbestimmung zu entsprechen. §21 Abs3 und 4 des ApothekerkammerG organisieren nun aber - wie dargetan offenbar den Disziplinarberufungssenat nicht als 'Tribunal'."

3. Die Bundesregierung erstattete in dem von amtswegen zu G181/86 eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahren am 27. Jänner 1987 eine Äußerung:

"I.

1) Zum Anwendungsbereich des Art6 Abs1 MRK unter dem Aspekt der 'strafrechtlichen Anklage'

Im Sinne der neueren Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (in der Folge: EGMR) vertritt der VfGH die Auffassung, daß Art6 Abs1 MRK auch in Disziplinarverfahren zur Anwendung zu kommen hat, wenn die Verhängung schwerer Strafen vorgesehen ist. Aufbauend auf dieser Überlegung nimmt der VfGH im vorliegenden Unterbrechungsbeschluß an, daß §23 Abs1 Apothekerkammergesetz (im folgenden: ApKG) 'auch vom Begriff `strafrechtliche Anklage` iS des Art6 Abs1 MRK erfaßte schwere Strafen (ausgenommen lita)' vorsehe.

Dazu möchte die Bundesregierung schon an dieser Stelle vorausschicken, daß sie es nicht für zulässig hält, alle im §23 Abs1 ApKG normierten Sanktionsbefugnisse des Disziplinarberufungssenates aus Anlaß des die Gesetzesprüfung auslösenden Beschwerdefalles in Prüfung zu ziehen (dazu Näheres unter Pkt. 2).

Abgesehen davon kann sie bei genauer Betrachtung der Ausführungen in den einschlägigen Urteilen des EGMR auch der Annahme nicht folgenden, daß es sich bei den im §23 Abs1 ApKG genannten Sanktionen mit Ausnahme der lita um schwere Strafen handelt. Der EGMR sieht disziplinarrechtliche Sanktionen, die so schwerwiegend sind, daß auch ein disziplinarrechtliches Verfahren unter den Begriff 'strafrechtliche Anklage' fällt, in 'Freiheitsentziehungen, die als Bestrafungen verhängt werden können, mit Ausnahme derer, die nach ihrer Art, Dauer oder Art und Weise ihrer Vollstreckung einen wesentlichen Nachteil nicht verursachen können' (Fall ENGEL EuGRZ 1976, 221ff, insb. 232, Pkt. 82). Im Fall CAMPBELL und FELL (EuGRZ 1985, 534ff, insb. 539, Pkt. 72) hat der EGMR diese Auffassung insofern erweitert, als er auch die Verwirkung der Strafnachsicht als zum Strafrechtsbereich gehörig beurteilt hat, weil diese Sanktion, wenn sie auch keinen eigentlichen Freiheitsentzug darstellt, der Sanktion des Freiheitsentzuges nahekommt.

Ausgehend davon hat der EGMR im Fall ENGEL (Pkt. 85) ausgesprochen, daß die im Zusammenhang mit disziplinarrechtlichen Maßnahmen erfolgte Verhängung von vier Tagen einfachen Arrestes überhaupt keinen Freiheitsentzug darstellt und die Verhängung einer Freiheitsstrafe von zwei Tagen strengen Arrestes von zu kurzer Dauer sei, um in den Bereich des Strafrechtlichen zu fallen. Als so gravierende Sanktionen, daß sie ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zum Disziplinarrecht zum Gegenstand einer 'strafrechtlichen Anklage' wurden, wurde die Strafe der Auferlegung des Aufenthaltes in der Strafkompanie für drei bzw. vier Monate und die Strafe von zwölf Tagen verschäften Arrestes beurteilt. Letztere Strafe wurde, obwohl sie an sich kein Freiheitsentzug ist, auf Grund der Bedeutung dessen, 'was auf dem Spiele stand', als so schwere Sanktion eingestuft, daß das Verfahren als in den Bereich des 'Strafrechtlichen' fallend qualifiziert wurde. Im Fall CAMPBELL und FELL wurden die mögliche Sanktion der Verwirkung der gesamten im Zeitpunkt des Spruches des Ausschusses verfügbaren Strafnachsicht (von etwas weniger als drei Jahren) und die tatsächlich ausgesprochene Verwirkung von 570 Tagen Strafnachsicht als im Hinblick auf die Dauer der Verwahrung des Bf. so schwerwiegende Konsequenzen beurteilt, daß diese Sanktionen für den Bereich der Konvention als 'strafrechtlich' angesehen wurden. Die Rechtsfolgen, auf die es bei der Beurteilung, ob eine strafrechtliche Angelegenheit vorliegt, entscheidend ankommt, und auf die auch der VfGH verweist, wenn er den Fall ÖZTÜRK zitiert, sind also im Hinblick auf Disziplinarstrafen in diesem Sinne durch den EGMR konkretisiert und nicht derart allgemein wie im Fall ÖZTÜRK zu verstehen, in dem es nicht um disziplinarrechtliche Maßnahmen ging.

Bei den im §23 Abs1 litb bis f ApKG genannten Sanktionen handelt es sich in keinem Fall um einen Freiheitsentzug oder um eine dem Freiheitsentzug nahestehende Sanktion. Unter dem Aspekt der 'strafrechtlichen Anklage' ist Art6 Abs1 MRK nach Auffassung der Bundesregierung auf §21 Abs3 und 4 iVm §23 Abs1 ApKG, insbesondere auch iVm der in litb vorgesehenen Sanktion, somit keinesfalls anwendbar.

2) Zur Anwendung des Art6 Abs1 MRK unter dem Aspekt der 'civil rights'

Der VfGH begründet die Anwendbarkeit des Art6 Abs1 MRK auf §21 Abs3 und 4 ApKG iS der Judikatur des EGMR ferner auch damit, daß in §23 Abs1 ApKG in zivile Rechte des Betroffenen eingreifende Verbote vorgesehen sind, so das Verbot, einen bestimmten Beruf auszuüben.

Dem hat die Bundesregierung folgendes entgegenzuhalten:

Es ist dem VfGH darin zuzustimmen, daß die im §23 Abs1 lite und f ApKG vorgesehenen Sanktionen Eingriffe in Berufsausübungsbefugnisse bewirken, die im Sinne der neueren Judikatur des EGMR (Fall KÖNIG, LE COMPTE I und ALBERT und LE COMPTE) bei tatsächlicher Verhängung Eingriffe in zivile Rechte darstellen würden. In diesem Zusammenhang ist nun im besonderen auf folgende - in Frage zu stellende - Überlegung des VfGH einzugehen (S 7 zweiter Absatz letzter Satz):

'Im Gesetzesprüfungsverfahren kommt es anscheinend nicht darauf an, welche Sanktion im Beschwerdeverfahren verhängt wurde (9.000,--S Geldstrafe), sondern darauf, welche Rechtsfolgen das Gesetz kennt (vgl. EGMR, Fall ÖZTÜRK, EuGRZ 1985, 67).'

Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Disziplinarverfahren unter den Begriff 'strafrechtliche Anklage' fällt, stellt der EGMR sowohl auf die vom Gesetz vorgesehenen, möglichen Sanktionen, als auch auf die tatsächlich verhängte Sanktion ab. Bei der Beurteilung der Frage aber, ob ein Disziplinarverfahren für zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen bestimmend gewesen ist, stellt der EGMR gerade nicht auf die potentiell möglichen Eingriffe in die Berufsausübung ab. Nach der Judikatur des EGMR ist es im Hinblick auf die Anwendung des Art6 MRK wegen der Betroffenheit von zivilrechtlichen Ansprüchen und Verpflichtungen erforderlich, daß eine konkrete ernsthafte Streitigkeit über derartige Ansprüche vorliegt (vgl. u.a. Fall SPORRONG-LÖNNROTH, Urteil vom 23. September 1982, Punkt 79ff, insbesondere 81, und Fall BENTHEM, Urteil vom 23. Oktober 1985, Punkt 32ff, insbesondere 33). In diesem Sinne führt der EGMR u.a. im Falle LE COMPTE I (EuGRZ 1981, 551ff, insb. 553, Pkt. 49, 50) aus:

'Im Gegensatz zu anderen Disziplinarmaßnahmen, denen sich die Bf. aussetzten (wie etwa Ermahnung, Tadel und Rüge, ....), stellt das von ihnen gerügte befristete Berufsverbot zweifellos einen unmittelbaren und nachhaltigen Eingriff in ihr

Recht zur weiteren ärztlichen Berufstätigkeit dar ...... Die von

Art6 Abs1 gemeinten `Streitigkeiten` können nämlich nicht nur das Bestehen eines zivilrechtlichen Anspruches schlechthin, sondern auch dessen Tragweite oder die Umstände zum Gegenstand haben, unter denen sein Inhaber von ihm Gebrauch machen darf.

Da sich die Anfechtung der gegen den Bf. ergriffenen Maßnahmen auf `zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen` bezog, hatten die Bf Anspruch auf Untersuchung ihrer Sache durch ein den Anforderungen des Art6 Abs1 genügendes `Gericht`.'

Aus diesen Ausführungen und aus den angeführten Urteilen ist klar erkennbar, daß die Anwendung der Grundsätze des Art6 Abs1 MRK aus dem Grund, daß durch den Ausgang des Disziplinarverfahrens zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen entscheidend berührt werden, auf Disziplinarmaßnahmen immer nur dann erfolgt, wenn es in dem konkreten Verfahren um eine solche zivile Rechte berührende Sanktion geht. Nach Auffassung der Bundesregierung scheint es daher nicht zulässig, unter dem Aspekt der unmittelbaren Betroffenheit von zivilrechtlichen Ansprüchen und Verpflichtungen §21 Abs3 und 4 ApKG im Lichte des Art6 MRK zu prüfen, weil es sich bei der konkret verhängten Geldstrafe eben gerade um keine die Berufsausübung beeinträchtigende Maßnahme handelt.

Der oben zitierte Satz könnte allerdings auch unabhängig von der Judikatur des EGMR - von der grundsätzlichen Position des VfGH in Gesetzesprüfungsverfahren getragen sein, daß er nicht nur die im Anlaßfall sich gegen eine angewendete Gesetzesbestimmung ergebenden Bedenken relevieren kann. Diese Auffassung teilt die Bundesregierung, allerdings verläßt der VfGH im vorliegenden Fall diese Position. Im vorliegenden Fall geht es nämlich nicht um verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine anzuwendende Bestimmung, die im Anlaßfall selbst keine Rolle spielen, sondern um die - vom VfGH als möglich erachtete Verfassungswidrigkeit von Bestimmungen, die nicht präjudiziell sind. Präjudiziell sind im Anlaßfall §21 Abs3 und 4 ApKG und die - nicht in Prüfung gezogene - Vorschrift des §23 Abs1 litb ApKG. Die unter dem Aspekt der unmittelbaren Berührung zivilrechtlicher Ansprüche gegen §21 Abs3 und 4 gerichteten Bedenken könnten sich aber nur im Zusammenhang mit den im vorliegenden Anlaßfall keinesfalls präjudiziellen §23 Abs1 lite und f ApKG ergeben.

Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß der VfGH den Bereich, aus dem er Bedenken schöpft, jedenfalls zu weit faßt, wenn er - wie er es im Unterbrechungsbeschluß andeutet sämtliche Sanktionsbefugnisse einer Behörde, die im Anlaßfall in letzter Instanz entschieden hat, auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft. Zwar ist es aus rechtstheoretischer Sicht zutreffend, daß eine Behörde als eine Summe von Zuständigkeiten gesehen werden kann, doch scheint es im Hinblick auf Art140 Abs1 B-VG (arg.: '..., sofern aber der VfGH ein solches Gesetz in einer anhängigen Rechtssache anzuwenden hätte, von Amts wegen.') unzulässig, daß der VfGH in einem von einem Anlaßfall ausgehenden Gesetzesprüfungsverfahren sämtliche - u.U. auch auf verschiedene Gesetze verstreute - Zuständigkeiten der Behörde in Prüfung zieht, auch wenn sie im Anlaßverfahren keine Rolle spielen.

Letztlich spricht gegen die im Unterbrechungsbeschluß angestellten Erwägungen auch, daß bei einem solchen Vorgehen immer nur der viel gravierendere Eingriff in Form der Aufhebung der Regelung betreffend die Einrichtung der Behörde möglich ist, um die Rechtslage zu sanieren, während bei einer Eingrenzung der Präjudizialität im Hinblick auf die ableitbaren Bedenken auf die konkret ausgeübte Zuständigkeit einer Behörde immer auch die Sanierung in Form der Aufhebung der einen verfassungswidrigen Zuständigkeit möglich ist, was jedenfalls den vergleichsweise geringfügigen Eingriff in die Rechtslage darstellte!

3) Zum Tribunalcharakter des Disziplinarberufungssenates

Für den Fall, daß der VfGH bei seiner Auffassung bleibt, daß Art6 Abs1 MRK auf §21 Abs3 und 4 ApKG

anzuwenden ist, hat die Bundesregierung seinen Bedenken zum iS dieser Konventionsbestimmung nicht ausreichend 'unabhängigen'

Disziplinarberufungssenat folgendes entgegenzuhalten:

a) Zur Frage der Weisungsfreiheit der Mitglieder des Disziplinarberufungssenates:

Der VfGH deutet selbst an, daß die Weisungsfreiheit der Mitglieder des Disziplinarberufungssenates möglicherweise aus dem Gesamtzusammenhang der Regelungen oder aus der sinngemäßen Anwendung der disziplinarrechtlichen Vorschriften der Dienstpragmatik oder des Beamten-Dienstrechtsgesetzes als vom Gesetzgeber gewollt ableitbar sei. In diesem Sinne ist die

Bundesregierung der Auffassung, daß sich auf Grund einer systematischen Interpretation der Bestimmungen des Apothekerkammergesetzes (§1, §2 Abs1, §18ff, §26) im Zusammenwirken mit den in der österreichischen Rechtsordnung geltenden Prinzipien der Selbstverwaltung (Art115 ff B-VG; vgl. VfSlg. 8215/1977) ergibt, daß die Mitglieder des Disziplinarberufungssenates weisungsfrei sind:

Die Apothekerkammer ist eine gesetzlich eingerichtete, berufliche Interessenvertretung, sie fällt damit unter den Begriff der personellen Selbstverwaltung. Die Überwachung der Erfüllung der Standespflichten der Mitglieder ist nun eine typische Aufgabe derartiger Selbstverwaltungskörper, die in den eigenen Wirkungsbereich dieser Institutionen fällt und von diesen zu besorgen ist. Wenn auch eine ausdrückliche Regelung fehlt, daß diese Aufgaben im eigenen Wirkungsbereich zu besorgen sind, so scheint dies zum einen aus der Formulierung im §2 Abs2 ableitbar: 'Die Apothekerkammer ist, abgesehen von den in besonderen Vorschriften den Standesvertretungen der Apothekerschaft übertragenen Aufgaben, insbesondere berufen:

...'. Daraus ergibt sich, daß die in Abs1 genannten Aufgaben, ua Disziplinarverfahren, keine solchen des übertragenen Wirkungsbereiches sind. Zum anderen kann für diese Auslegung §26 ApKG ins Treffen geführt werden, der unmittelbar nach den Regelungen über das Disziplinarverfahren bestimmt, daß die Apothekerkammer nur der Aufsicht des Bundesministers für soziale Verwaltung unterliegt (vgl. VfSlg. 8215/1977 und VfSlg. 4117/1961). Im übrigen gibt es im ApKG auch keinen Hinweis darauf, daß innerhalb der Apothekerkammer eine die Unabhängigkeit gefährdende Einflußnahme eines ihrer Organe auf die Mitglieder des Disziplinarsenates vorgesehen ist.

b) Zu den Bedenken, daß die Funktionsdauer der Kommissionsmitglieder nicht gesetzlich normiert ist:

Den diesbezüglichen Bedenken ist folgendes entgegenzuhalten:

Entgegen dem mit Erkenntnis vom 5. März 1986, G232 ua/85, aufgehobenen §346 Abs2 und 3 ASVG enthält das ApKG eine Regelung über die Zulässigkeit des Ausscheidens der Mitglieder. §22 Abs1 ApKG bestimmt, daß soweit sich aus den Vorschriften dieses BG nichts anderes ergibt, 'die Bestimmungen der §§107 bis 109 sowie der §§111 bis 151 der Dienstpragmatik, RGBl. Nr. 15/1914, sinngemäß anzuwenden' sind. Untersucht man die verwiesenen Regelungen der Dienstpragmatik (im folgenden: DP) in der Stammfassung - im Sinne der Judikatur des VfGH handelt es sich um eine statische Verweisung (Erk. vom 27. Feber 1986, B457/85-8, in dem auch zum Ausdruck kommt, daß das Außerkrafttreten der DP daran nichts ändert) - auf eine Regelung über die Funktionsdauer bzw. das Ausscheiden der Mitglieder, so findet sich in §108 folgende Anordnung:

'§108. Die zu Kommissionsmitgliedern und Disziplinaranwälten bestellten Beamten scheiden aus, wenn in ihrer dienstlichen Stellung eine Veränderung eintritt, mit der die Voraussetzungen ihrer Bestellung entfallen. Während der Dauer eines gegen einen solchen Beamten anhängigen strafgerichtlichen oder Disziplinarverfahrens darf er zu keiner Amtshandlung bei einer Disziplinarkommission herangezogen werden. Endet das Verfahren mit einer Bestrafung des Beamten, so verliert er seine Stellung und es ist an seiner statt für den Rest der Funktionsdauer ein anderer Beamter in der vorgeschriebenen Weise zu bestellen.'

Bei einer sinngemäßen Anwendung dieser Vorschrift auf die Kommissionsmitglieder des Disziplinarberufungssenates der Apothekerkammer ergibt sich, daß für diese ausdrücklich geregelt ist, wann die Mitglieder ausscheiden. Daraus ist zu schließen, daß die Kommissionsmitglieder solange in der Kommission zu belassen sind, bis eine Voraussetzung für das Ausscheiden gegeben ist. Voraussetzung für das Ausscheiden gemäß §108 DP ist nun der Wegfall der Voraussetzungen der Bestellung der Mitglieder. Für die Frage, welche Voraussetzungen für die Mitglieder des Disziplinarberufungssenates für ihre Bestellung gelten ergibt sich zunächst aus §21 Abs3 ApKG folgendes: Danach müssen zwei Mitglieder rechtskundige Verwaltungsbeamte aus dem Stande des Bundesministeriums für soziale Verwaltung (jetzt des Bundesministeriums für Gesundheit und Umweltschutz) sein und ein weiteres Mitglied Beamter aus dem Stande des Bundesministeriums für soziale Verwaltung (jetzt des Bundesministeriums für Gesundheit und Umweltschutz). Der Fall des Ausscheidens tritt für diese also immer dann ein, wenn sie den Status des Beamten verlieren bzw nicht mehr dem Bundesministerium für soziale Verwaltung (Bundesministerium für Gesundheit und Umweltschutz) angehören. Für die beiden von den Abteilungsausschüssen zu bestellenden Beisitzer ergibt sich aus §21 Abs3 ApKG selbst keine besondere Voraussetzung der Bestellung. Im Zusammenhalt mit den Regelungen über die Abteilungsausschüsse und ihre Zuständigkeit (§12 insb. Abs4 ApKG) ist aber wohl abzuleiten, daß Voraussetzung für die Bestellung zum Beisitzer ist, selbständiger bzw. angestellter Apotheker zu sein. Die näheren Voraussetzungen dafür ergeben sich aus dem §5 ApKG iV mit dem Apothekengesetz (§§3, 4, 5) und der gemäß §5 Apothekengesetz erlassenen Pharmazeutischen Hilfskräfteverordnung, BGBl. Nr. 40/1930.

Insgesamt folgt daraus, daß die Mitglieder des Disziplinarberufungssenates der Apothekerkammer keinesfalls jederzeit abberufbar sind, sondern nur dann, wenn die Voraussetzung(en) ihrer Bestellung in den Senat wegfällt (wegfallen). Damit ist zwar keine zeitliche Begrenzung ihrer Tätigkeit festgelegt, aber der Gesetzgeber hat Voraussetzungen für das Ausscheiden aus der Funktion bestimmt, woraus sich ergibt, daß die zu Mitgliedern bestellten Personen aus ihrer Funktion gerade nicht durch das zur Bestellung berufene Organ jederzeit abberufen werden können (so VfSlg. 7099/1973, S 523).

4) Zur Problematik der nachprüfenden Kontrolle des VfGH und des VwGH im Lichte des Art6 Abs1 MRK

Zuletzt ist auf die Bedenken des VfGH gegen seine eigene bisherige Rechtssprechung einzugehen, nach der auch die nachprüfende Kontrolle von Verwaltungsentscheidungen durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes Art6 Abs1 MRK entspricht:

a) Zur nachprüfenden Kontrolle des VfGH:

Bei den nunmehr vom VfGH gegen die eigene nachprüfende Kontrolle gerichteten Bedenken dürfte es sich um jene Bedenken handeln, die die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) in ihrem Bericht im Fall ETTL (Nr. 9273/81 vom Juli 1985) zum Ausdruck gebracht hat. Die Bedenken der Kommission gingen dahin, daß der VfGH keine Entscheidung über eine zivilrechtliche Angelegenheit trifft. Er entscheide nämlich nicht in der Sache selbst, sondern überprüfe den Bescheid nur auf seine Vereinbarkeit mit dem Verfassungsrecht.

Dem hat die Bundesregierung folgendes entgegenzuhalten:

Der Vorwurf scheint auf zwei nicht explizit ausgesprochenen Auffassungen aufzubauen: Zum einen, daß zivile Rechte nur durch einfache Gesetze und nicht auch durch verfassungsrechtliche Bestimmungen begründet werden können und daß daher eine verfassungsmäßige Prüfung eines Verwaltungsaktes solche auf einfachen Gesetzen beruhende Rechte nicht berühren kann. Zum anderen scheint der Gerichtshof seine nur aufhebende (kassatorische) Entscheidungsbefugnis nicht als ausreichend zu erachten (vgl. die Abs79 und 80 des Kommissionsberichtes).

Nach der Rechtsprechung des EGMR liegt aber stets dann eine zivilrechtliche Angelegenheit vor, wenn die Entscheidung auch einer Verwaltungsbehörde - unmittelbare Auswirkungen auf Zivilrechte hat. Die zentrale Institution des Zivilrechtes, das Eigentumsrecht, ist in der österreichischen Rechtsordnung verfassungsrechtlich geschützt (Art5 StGG, Art1, 1. ZP MRK). Nach der ständigen Judikatur des VfGH sind darunter nicht nur das Eigentum im engeren Sinn sondern alle vermögenswerten Privatrechte zu verstehen. Über die Vereinbarkeit von durch Bescheide bewirkte unmittelbare Eingriffe in zivilrechtliche Angelegenheiten iS von vermögenswerten Privatrechten entscheidet also in letzter Instanz und bei voller Überprüfungsmöglichkeit des von der Behörde angenommenen Sachverhaltes der VfGH.

Selbst wenn man aber die im wesentlichen auf verfassungsrechtliche Aspekte bezogene Kognitionsbefugnis des VfGH in diesem Zusammenhang problematisieren wollte, so ist doch darauf hinzuweisen, daß die verfassungsgerichtliche Nachprüfung von Verwaltungsentscheidungen im Verein mit der durch den VwGH (siehe dazu litb) ein dem Art6 MRK entsprechendes Rechtsschutzgefüge darstellt.

Gegen die Bedenken, daß der VfGH nur kassatorische Entscheidungen treffen kann und nicht in der Sache selbst entscheidet, ist darauf zu verweisen, daß die Verwaltungsbehörde an die Rechtsanschauung des VfGH gebunden ist und verpflichtet ist, einen Zustand herbeizuführen, der dieser Rechtsansicht entspricht (§87 Abs2 VerfGG).

b) Zur nachprüfenden Kontrolle des VwGH:

Auch dem Argument der im Regelfall nur kassatorischen Entscheidung des VwGH ist entgegenzuhalten, daß die Verwaltungsbehörde an die Rechtsanschauung des VwGH gebunden ist und in dem betreffenden Fall mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln unverzüglich den dieser Rechtsanschauung entsprechenden Rechtszustand herzustellen hat (§63 Abs1 VwGG). Auch wenn sich diese Bindung nur auf die Rechtsanschauung bezieht, ist doch im Hinblick auf aufgezeigte Verfahrensmängel gewährleistet, daß die Behörde diese zu beheben - und damit erforderlichenfalls auch die Sachverhaltserhebung zu ergänzen - hat.

Dem Vorwurf der nicht ausreichenden Tatsachenüberprüfung ist entgegenzuhalten, daß sich der prima vista aus §41 VwGG ergebende Eindruck, daß der VwGH grundsätzlich an den von der Behörde angenommenen Sachverhalt gebunden ist, bei eingehender Betrachtung als haltlos erweist (vgl. den Aufsatz von RINGHOFER,

Der Sachverhalt im verwaltungsgerichtlichen Bescheidprüfungsverfahren, in Festschrift zum 100-jährigen Bestehen des Österreichischen VwGH, 351ff).

Ausgangspunkt für diese Überlegung ist der §42 Abs2 Z3 lita bis c VwGG, nach dem der VwGH den Bescheid wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften dann aufzuheben hat, wenn der Sachverhalt von der bel. Beh. in einem wesentlichen Punkt aktenwidrig angenommen worden ist, der Sachverhalt in einem wesentlichen Punkt einer Ergänzung bedarf oder Verfahrensvorschriften außer Acht gelassen wurden, bei deren Einhaltung die bel. Beh. zu einem anderen Bescheid hätte kommen können. Daraus ergibt sich unzweifelhaft, daß in all diesen Fällen der VwGH an den von der bel. Beh. angenommenen Sachverhalt nicht gebunden ist. Aus dieser Regelung läßt sich ableiten, daß der VwGH nicht berufen ist, - wie man es bei einer tatsächlichen strikten Bindung an die Sachverhaltsfeststellung der Behörde annehmen müßte - nur eine abstrakte Rechtsfrage zu beantworten, sondern vielmehr einen konkreten Rechtsfall mit dem diesem zugrundeliegenden Sachverhalt zu beurteilen hat.

Um herauszufinden, inwieweit der §41 VwGG eine Bindung des VwGH an den von der Behörde festgestellten Sachverhalt festlegt, geht RINGHOFER der Frage nach, welche Tatfrage die Verwaltungsbehörde und welche Tatfrage der VwGH zu behandeln hat. Während die Tatfrage für die Verwaltungsbehörde die Ermittlung der von der Partei zu verantwortenden und dieser zuzurechnenden Begebenheit ist, ist die Tatfrage des VwGH 'die von der bel. Beh. zu verantwortende, ihr zuzurechnende Begebenheit, nämlich die Erlassung des angefochtenen Bescheides' (vgl. RINGHOFER, aaO, 364). In bezug auf die so umschriebene Tatfrage der Behörde ist der VwGH im Sinne des §41 VwGG gebunden. Es zeigt sich aber, wie bereits angedeutet, daß dem VwGH dennoch im Rahmen der ihm gestellten Tatfrage eine Sachverhaltsüberprüfung zukommt.

Der VwGH hat nämlich zu prüfen, ob das im konkreten Fall relevante Verhalten der Behörde den materiellrechtlichen und verfahrensrechtlichen Vorschriften des Gesetzes entspricht. In verfahrensrechtlicher Hinsicht bedeutet dies für den VwGH, daß er die Entscheidung der Behörde immer auch dahingehend zu überprüfen hat, ob sie unter Einhaltung der Vorschriften über das Ermittlungsverfahren, die ihrerseits sichern sollen, daß die entscheidungsrelevanten Tatsachen richtig festgestellt werden, erfolgt ist. Diese Vorschriften des Ermittlungsverfahrens, die sich insbesondere im Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetz (AVG) finden, sind zwar großzügige, der Behörde einen weiten Spielraum lassende Bestimmungen. Sie stehen aber unter dem gemeinsamen, im §37 AVG festgelegten Zweck, den für die Erledigung einer Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt festzustellen und den Parteien Gelegenheit zur Geltendmachung ihrer Rechte und rechtlichen Interessen zu geben. Ob die Behörde iS dieses Zwecks das Verfahren abgeführt hat, hat der VwGH in jeder Hinsicht zu überprüfen. RINGHOFER (aaO, 369) formuliert dies wie folgt:

'Das Verhalten der Verwaltungsbehörde kann als absolut und schlechthin rechtmäßig nur erkannt werden, wenn sie diesen Zweck erreicht, dh den wahren Sachverhalt ermittelt und ihrer Entscheidung zu Grunde gelegt hat. Es ist wohl nicht erforderlich, diese Einsicht durch Beispiele im einzelnen zu belegen; ihre Richtigkeit wird allein schon durch die Überlegung dargetan, daß weder die Feststellung der Ergänzungsbedürftigkeit des Sachverhalts (§42 Abs2 litc Z2 leg.cit.) noch auch die Feststellung, daß die Behörde bei Vermeidung eines Verfahrensmangels zu einem anderen Bescheid hätte kommen können (§42 Abs2 litc Z3 leg.cit.) ohne jedwede kritische

Bedachtnahme auf den von der bel. Beh. festgestellten Sachverhalt getroffen werden kann.'

Und er setzt fort (aaO, 371f):

'Dem VwGH ist derart die Frage aufgegeben, ob die bel. Beh. von ihrer Freiheit, den Gang des Ermittlungsverfahrens zu bestimmen (§39 Abs2 AVG) und nach freier Überzeugung zu beurteilen, ob eine Tatsache als `erwiesen anzunehmen ist oder nicht` (§45 Abs2 AVG) in der Art Gebrauch gemacht hat, daß der Zweck des Ermittlungsverfahrens - den wirklichen Sachverhalt festzustellen - gesichert scheint. Bejaht er im Einzelfall diese Frage, so hat er zugleich die mit der (Sachverhalts) Feststellung beantworteten Fragen als Tatfragen deklariert und derart seine Bindung an den von der bel. Beh. festgestellten Sachverhalt bejaht. Verneint er sie dagegen, dann stellt sich das als die Beantwortung der Rechtsfrage dar: daß die bel. Beh. von ihrer Freiheit zur Sachverhaltsermittlung nicht `im Sinne des Gesetzes` Gebrauch gemacht hat.'

Mit der Behauptung einer Rechtsverletzung, weil nicht der wahre und richtige Sachverhalt der Entscheidung der letzten Administrativbehörde vorgelegten habe, womit

Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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