TE Vfgh Erkenntnis 1987/12/7 G145/87

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.12.1987
beobachten
merken

Index

95 Technik;
95/06 Ziviltechniker

Norm

B-VG Art90
B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsmaßstab
MRK Art6 Abs1
MRK Vorbehalt zu Art6
IngenieurkammerG §49 Abs1 Z5
VfGG §62 Abs1
VfGG §62 Abs1 zweiter Satz
IngenieurkammerG §49, §50, §51, §60 Abs2, §64 Abs5

Leitsatz

Vom VwGH in ständiger Rechtsprechung angenommene Zuständigkeitzur Prüfung der Entscheidungen der Berufungskommissionin Disziplinarangelegenheiten (trotz VfSlg. 10343/1985)denkmöglich; aufgrund der dargelegten Bedenken bezieht sich dieGesetzesprüfung nur auf die Frage der Wahrung der ÖffentlichkeitiSd Art6 Abs1 MRK - Verlust der Ziviltechnikerbefugnis imZuge eines Disziplinarverfahrens gem. §49 Abs1 Z5 - StrafeiSd Art6 MRK; im Prüfungsverfahren kommt es nicht darauf an,welche Sanktion im Anlaßfall verhängt wurde, sondern darauf,welche Rechtsfolgen das Gesetz kennt; Garantien des Art6 MRKsind auf das Disziplinarverfahren nach dem IKG anzuwenden;österr. Vorbehalts zu Art6 - Vorbehalt bezüglich desGerichtsverfahrens bezieht sich nach dem Größenschluß erst rechtauf Verfahren vor Verwaltungsbehörden, die Tribunale iSd Art6MRK sind; keine Aufhebung der §§60 Abs2 und 64 Abs5 alsverfassungswidrig

Spruch

Der Antrag des VwGH, die §§60 Abs2 und 64 Abs5 des Ingenieurkammergesetzes, BGBl. Nr. 71/1969, als verfassungswidrig aufzuheben, wird abgewiesen.

Im übrigen wird der Antrag des VwGH zurückgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Beim VwGH ist eine Beschwerde gegen einen Bescheid

(Berufungserkenntnis) der Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten bei der Bundes-Ingenieurkammer anhängig, womit über die Berufung des Bf. gegen das Erkenntnis des Disziplinarsenates bei der Ingenieurkammer für Wien, Niederösterreich und Burgenland, Sektion Zivilingenieure, entschieden wurde. Mit diesem Erkenntnis wurde der Bf. eines Disziplinarvergehens für schuldig erkannt und mit einer Geldstrafe in der Höhe von S 51.750,-- bestraft.

Mit seinem unter Zl. A15/87 eingebrachten Prüfungsantrages beantragt der VwGH gemäß Art140 B-VG die Aufhebung der

1) §50, §51, §60 Abs2 und §64 Abs5 des Ingenieurkammergesetzes, BGBl. Nr. 71/1969,

2) in eventu §49 Abs1 Z2, 4 und 5 und §49 Abs2 des Ingenieurkammergesetzes, BGBl. Nr. 71/1969,

als verfassungswidrig.

Die Bestimmungen lauten in ihrem Zusammenhang:

"Disziplinarstrafen

§49. (1) Disziplinarstrafen sind:

1. der schriftliche Verweis;

2. Geldstrafen bis zur Höhe des 200fachen der jeweils in den Gebührenordnungen (§31) für die Kanzleileistung festgesetzten Zeitgebühr je Stunde;

3. Entzug des aktiven und passiven Wahlrechtes für Kammerwahlen bis zur Dauer von fünf Jahren;

4. Einstellung der Ausübung der Befugnis bis zur Dauer eines Jahres;

5. Verlust der Befugnis.

(2) Die Disziplinarstrafe gemäß Abs1 Z3 kann neben den Disziplinarstrafen gemäß Abs1 Z2 und 4 ausgesprochen werden.

(3) Bei Bestimmung der Disziplinarstrafe ist im einzelnen Fall auf die Schwere des Disziplinarvergehens und die daraus entstandenen Nachteile sowie auf den Grad des Verschuldens und das bisherige Verhalten des Ziviltechnikers Rücksicht zu nehmen.

Disziplinarausschüsse

§50. (1) Bei jeder Länderkammer ist ein Disziplinarausschuß einzurichten. Dieser erkennt in erster Instanz über Disziplinarvergehen.

(2) Der Disziplinarausschuß besteht aus fünfzehn Mitgliedern. Diese sind je zu einem Drittel von den Sektionsangehörigen zu wählen. Die Mitglieder des Disziplinarausschusses wählen aus ihrer Mitte den Vorsitzenden und seinen Stellvertreter in je einem Wahlgang.

(3) Der Disziplinarausschuß verhandelt und entscheidet in dreigliedrigen Senaten. Für jede Sektion ist ein Senat einzurichten, der aus Angehörigen dieser Sektion bestehen muß. Der Vorsitzende des Disziplinarausschusses hat die Senate für die Funktionsperiode (§40 Abs1) bleibend zusammenzusetzen und die Senatsvorsitzenden (Stellvertreter) zu bestimmen. Zugleich ist die Reihenfolge festzulegen, in der die übrigen Mitglieder des Disziplinarausschusses bei Verhinderung eines Senatsmitgliedes in die Senate eintreten.

(4) Die dreigliedrigen Senate fassen ihre Beschlüsse mit einfacher Stimmenmehrheit. Der Senatsvorsitzende gibt seine Stimme zuletzt ab. Für die Verhängung der Disziplinarstrafe des Verlustes der Befugnis ist Stimmeneinhelligkeit erforderlich.

(5) Die Mitglieder des Disziplinarausschusses sind in Ausübung ihres Amtes an keine Weisungen gebunden.

Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten

§51. (1) Über Berufungen und Beschwerden gegen Entscheidungen eines Disziplinarausschusses erkennt in zweiter und letzter Instanz die Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten bei der Bundeskammer.

(2) Die Berufungskommission besteht aus einem Vorsitzenden, dessen Stellvertreter, die beide Richter des Aktivoder Ruhestandes sein müssen, und aus fünfzehn Beisitzern. Der Vorsitzende (Stellvertreter) ist vom Bundesministerium für Bauten und Technik (jetzt: Bundesminister für wirtschaftliche Angelegenheiten) im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Justiz zu bestellen. Die Beisitzer sind vom Kammertag aus den Reihen der aktiv wahlberechtigten Mitglieder der Länderkammern, die ihre Befugnis ausüben, zu wählen. Sie dürfen nicht gleichzeitig Mitglieder eines Disziplinarausschusses sein.

(3) Die Berufungskommission verhandelt und entscheidet in fünfgliedrigen Senaten unter dem Vorsitz des Vorsitzenden oder seines Stellvertreters. Die vier weiteren Mitglieder jedes Senates sind vom Vorsitzenden in fortlaufender alphabetischer Reihenfolge aus der Liste der Beisitzer in der Weise zu bestimmen, daß mindestens zwei Mitglieder des Senates der Befugnisgruppe (Architekten, Ingenieurkonsulenten, Zivilingenieure) des Beschuldigten angehören.

(4) Die fünfgliedrigen Senate fassen ihre Beschlüsse mit einfacher Stimmenmehrheit. Der Vorsitzende gibt seine Stimme zuletzt ab. Die Disziplinarstrafe des Verlustes der Befugnis kann nur verhängt oder bestätigt werden, wenn sich vier Mitglieder des Senates dafür aussprechen.

(5) Die Mitglieder der Berufungskommission sind in Ausübung ihres Amtes an keine Weisungen gebunden. Die Erkenntnisse der Berufungskommission unterliegen nicht der Aufhebung oder Abänderung im Verwaltungswege."

.....

"Mündliche Verhandlung

§60. (1) Ort und Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung sind vom Vorsitzenden des Senates zu bestimmen. Zur mündlichen Verhandlung sind der Beschuldigte und sein Verteidiger unter Hinweis auf den Verweisungsbeschluß und Bekanntgabe der Mitglieder des zuständigen Senates mindestens zwei Wochen vorher zu laden.

(2) Die Verhandlung ist nicht öffentlich, doch kann der Beschuldigte verlangen, daß der Zutritt zur Verhandlung drei Kammermitgliedern seines Vertrauens gestattet wird."

.....

"Berufung

§64.(1) Gegen Erkenntnisse des Disziplinarausschusses können der Beschuldigte und der Disziplinaranwalt wegen des Ausspruches über Schuld und Strafe sowie wegen der Entscheidung über den Kostenersatz Berufung erheben.

.....

(5) Eine mündliche Verhandlung ist nur durchzuführen, wenn sie die Berufungskommission zur Klarstellung des Sachverhaltes für erforderlich hält oder wenn sie in der Berufung beantragt wurde."

Zur Begründung seines Antrages führt der VwGH aus:

"1. ... (Schilderung des Sachverhaltes)

2. Der VwGH erachtet seine Zuständigkeit zur Prüfung des vor ihm angefochtenen Bescheides (Berufungserkenntnisses) der Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten bei der Bundes-Ingenieurkammer gegeben.

Voraussetzung für einen Ausschluß von der Zuständigkeit des VwGH nach Art133 Z. 4 B-VG ist es u.a., daß nach dem die Einrichtung einer Kollegialbehörde regelnden Bundes- oder Landesgesetz sich unter den Mitgliedern der betreffenden Kollegialbehörde wenigstens ein Richter befindet. §51 Abs2 des Ingenieurkammergesetzes besagt, daß die Berufungskommission aus einem Vorsitzenden, dessen Stellvertreter, die beide Richter des Aktiv- oder Ruhestandes sein müssen, und aus fünfzehn Beisitzern besteht. Bei der Zusammensetzung der Berufungskommission kommt es also nicht darauf an, ob dem nach §51 Abs3 des Ingenieurkammergesetzes zur Entscheidung berufenen fünfgliedrigen Senat ein Richter des Aktivstandes oder ein Richter des Ruhestandes angehört. Maßgebend für die Beurteilung, ob es sich bei einer Kollegialbehörde um eine solche im Sinne des Art133 Z. 4 B-VG handelt, ist allein die gesetzliche Bestimmung über die Zusammensetzung (vgl. das Erkenntnis des VwGH vom 27. Jänner 1955, Slg. N. F. Nr. 3638/A). Wie der VwGH in seinem auf Grund des Beschlusses eines verstärkten Senates vom 21. Mai 1957 ergangenen Erkenntnis vom 27. September 1957, Slg. N. F. Nr. 4427/A, ausgesprochen hat, sind unter dem Ausdruck 'Richter' im Sinne des Sprachgebrauches des Bundes-Verfassungsgesetzes solche Personen zu verstehen, welche die Art87 und 88 B-VG als 'Richter' bezeichnen, also Personen, die die verfassungsgesetzlich gewährleisteten Garantien der Unabhängigkeit, der Unversetzbarkeit und Unabsetzbarkeit genießen. Diese Stellung kommt nur den aktiven Richtern, nicht aber Richtern im Ruhestand zu. Daß der im konkreten Fall tätig gewesene Vorsitzende Richter des Aktivstandes ist, ist für die Voraussetzungen des Art133 Z. 4 B-VG ohne Belang; denn das Bundes-Verfassungsgesetz stellt den Tatbestand auf die vom Gesetzgeber bei Einrichtung des betreffenden Kollegialorganes normierten Vorschriften, nicht aber auf den konkreten Sachverhalt ab. Die belangte Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten weist somit nicht die im Art133 Z. 4 B-VG geforderte Zusammensetzung auf (siehe das hg. Erkenntnis vom 9. April 1975, Slg. N. F. Nr. 8802/A, und die dementsprechend erfolgte Abtretung im Beschluß des VfGH vom 10. Juni 1983, B186/82; insoweit sich der Beschluß des VfGH vom 23. Februar 1985, B646/82, auf den hg. Beschluß vom 14. März 1980, Zl. 179/80, beruft, ist darauf hinzuweisen, daß der tragende Zurückweisungsgrund in diesem letztzitierten hg. Beschluß die Versäumung der Einbringungsfrist, nicht jedoch das obiter dictum über die Zusammensetzung des Berufungssenates in Disziplinarangelegenheiten, gewesen ist; siehe ferner Pernthaler, 'Die Kollegialbehörden mit richterlichem Einschlag', Wien, 1977, S. 51 f).

Der VwGH ist daher zur Prüfung des angefochtenen Bescheides zuständig und die vorliegende Beschwerde ist somit insbesondere auch unter diesem Gesichtspunkt als zulässig anzusehen.

3. Bei den angefochtenen Bestimmungen handelt es sich um Regelungen im Abschnitt V des Ingenieurkammergesetzes 'Ahndung von Plfichtverletzungen'. Diese Bestimmungen und die mit ihnen unmittelbar zusammenhängenden Textstellen lauten wie folgt:

....

4. In dem beim VwGH anhängigen Beschwerdefall war im Zuge des Verwaltungs(Disziplinar-)verfahrens in erster Instanz der Disziplinarsenat bei der Ingenieurkammer für Wien, Niederösterreich und Burgenland und in zweiter und letzter Instanz die Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten bei der Bundes-Ingenieurkammer eingeschritten. Die Prüfung des VwGH hat sich im Hinblick auf die Aufhebungstatbestände des §42 Abs2 VwGG (Frage der Unzuständigkeit der bel. Beh. und Frage der Rechtswidrigkeit des Inhaltes, wenn der Erstbescheid von einer unzuständigen Behörde erlassen wurde) auf alle bescheiderlassenden Behörden zu beziehen. Insoweit sind die in den §§50, 51, 60 Abs2 und 64 Abs5 des Ingenieurkammergesetzes enthaltenen Regelungen über die Einrichtung der Disziplinarausschüsse und der Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten präjudiziell.

Der vorstehende Eventualantrag bezieht sich auf Teile der Bestimmung des §49 des Ingenieurkammergesetzes. Der §49 leg.cit. regelt die Disziplinarstrafen und die Strafbemessung und ist bei der Prüfung des angefochtenen Bescheides, mit dem eine Disziplinarstrafe verhängt wurde, insbesondere auch im Hinblick auf die rechtlichen Auswirkungen, den Inhalt und Umfang der Befugnis zur Verhängung von (Disziplinar-)Strafen auf die Anforderungen, denen die betreffenden Behörden zu entsprechen haben, vom VwGH als Prüfungsmaßstab insgesamt anzuwenden.

5. Der §49 Abs1 Z. 2 des Ingenieurkammergesetzes sieht Geldstrafen bis zur Höhe des 200fachen der jeweils in den Gebührenordnungen für die Kanzleileistung festgesetzten Zeitgebühr je Stunde vor. Bei einer zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides gegebenen Höhe von a S 345,-handelt es sich um einen bis S 69.000,-- reichenden Strafrahmen.

Der VwGH geht entsprechend dem Beschluß des VfGH vom 9. Oktober 1986, B695/84-16 (G181/86), davon aus, daß die Garantien (insbesondere die Organisationsgarantien) des Art6 MRK immer dann zum Tragen kommen, wenn schwere Strafen vorgesehen sind, also auch dann, wenn sie im Disziplinarbereich verhängt werden, und zwar auch dann, wenn es sich nicht um freiheitsentziehende Maßnahmen handelt. Es besteht das Bedenken, daß auch schwere Vermögensstrafen, wie sie im §49 Abs1 Z. 2 des Ingenieurkammergesetzes vorgesehen sind, nach dem Standard der europäischen Rechtsordnungen nur von Gerichten im Sinne des Art6 MRK verhängt werden dürfen.

Der VwGH tritt ferner der Erwägung des VfGH bei, daß es nicht darauf ankommt, welche Sanktion in einem bestimmten Disziplinarverfahren verhängt wurde, sondern darauf, welchen Strafrahmen das Gesetz kennt.

Der VwGH hat weiters das Bedenken, daß auch in den Sanktionen nach §49 Abs1 Z. 4 des Ingenieurkammergesetzes 'Einstellung der Ausübung der Befugnis bis zur Dauer eines Jahres' und nach §49 Abs1 Z. 5 leg.cit. 'Verlust der Befugnis' schwere vermögens- und einkommensbeeinträchtigende Eingriffe zu erblicken sind, die nicht dem Begriff von bloßen Disziplinarmaßnahmen unterstellt werden dürfen.

In Ansehung der Sanktionen nach §49 Abs1 Z. 4 und Z. 5 leg.cit. scheinen auch zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen berührt zu sein.

Die zu den angeführten Sanktionen angestellten Überlegungen beziehen sich sowohl auf §49 Abs1 leg.cit., wonach die betreffenden 'Disziplinarstrafen' für sich allein, als auch auf §49 Abs2, demzufolge die Sanktionen nach §49 Abs1 Z. 2 und 4 mit der Verschärfung durch den Entzug des aktiven und passiven Wahlrechtes für Kammerwahlen bis zur Dauer von fünf Jahren verhängt werden können.

6. Nach Art6 Abs1 MRK hat jedermann Anspruch darauf, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat. Das Urteil muß öffentlich verkündet werden, jedoch kann die Presse und die Öffentlichkeit unter bestimmten Voraussetzungen während der gesamten Verhandlung oder eines Teiles derselben ausgeschlossen werden.

Der VwGH geht davon aus, daß sowohl die Disziplinarausschüsse nach §50, als auch die Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten nach §51 des Ingenieurkammergesetzes - trotz ihrer mangelnden Qualifikation nach Art133 Z. 4 und nach Art20 Abs2 B-VG - nach dem Inhalt des Gesetzes den Geboten der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit im Sinne des Art6 MRK entsprechen. Dies ergibt sich aus den im §50 Abs3 und in §51 Abs2 des Ingenieurkammergesetzes geregelten Bestellungsvorgängen, aus der Determinierung der Funktionsperiode in §40 Abs1, erster Satz, leg.cit. und aus der ausdrücklichen Weisungsfreistellung in §50 Abs5 und in §51 Abs5 leg.cit., wobei gegen die Entscheidungen des Disziplinarausschusses ein zur Berufungskommision in Disziplinarangelegenheiten gehender Instanzenzug vorgesehen ist (§64 Abs1 in Verbindung mit §51 Abs1 leg.cit.), die Erkenntnisse der Berufungskommission jedoch nicht der Aufhebung oder Abänderung im Verwaltungswege unterliegen (§51 Abs5 leg.cit.).

Der VwGH geht weiters davon aus, daß gegen die solcherart geregelte Einrichtung der Disziplinarausschüsse und der Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten keine Bedenken aus der Sicht des Art20 Abs1 B-VG bestehen, weil es sich um einen Bereich der Selbstverwaltung handelt (vgl. u.a. das Erkenntnis des VfGH Slg. 8215/1977).

Wie sich aus den §§60 und 64 des Ingenieurkammergesetzes ergibt, sind die Disziplinarausschüsse und die Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten aber nicht als dem Öffentlichkeitsprinzip im Sinne des ersten und des zweiten Satzes des Art6 Abs1 MRK entsprechend eingerichtet. Der VwGH hat das Bedenken, daß es nach Art6 Abs1 MRK unzulässig ist, solcherart nicht mit dem Öffentlichkeitsprinzip ausgestattete Behörden mit den vorbezeichneten Aufgaben nach §49 Abs1 und 2 des Ingenieurkammergesetzes zu betrauen. Als Sitz der hier geltend gemachten Verfassungswidrigkeit sind in erster Linie die Einrichtungsbestimmungen der §§50, 51, 60 Abs2 und 64 Abs5 des Ingenieurkammergesetzes, in eventu die Bestimmungen des §49 Abs1 Z. 2, 4 und 5 und des §49 Abs2 leg.cit., aus denen sich die Aufgabe, über die Verhängung der betreffenden Sanktionen zu entscheiden, ergibt, anzusehen.

Die hiemit vorgebrachten Bedenken werden, insbesondere im Hinblick auf die nachprüfende Kontrolle durch den VwGH nicht hinfällig, weil dieser zwar als berufen angesehen werden kann, neben dem VfGH Aufgaben im Sinne des Art13 MRK wahrzunehmen, weil es ihm aber als Kassationshof auch nicht obliegt, in Ansehung zivilrechtlicher Ansprüche und Verpflichtungen oder in Ansehung eines strafrechtlichen Vorwurfes eine Sachentscheidung zu treffen. Die Frage des normativen Gehaltes des §39 Abs2 Z. 6 VwGG kann im gegebenen Zusammenhang somit auf sich beruhen."

2. Die Bundesregierung erstattete folgende Äußerung:

"1. Zum Anwendungsbereich des Art6 Abs1 EMRK unter dem Aspekt der 'strafrechtlichen Anklage':

Die Bundesregierung hat bereits in ihrer Äußerung betreffend das Verfahren G181/86 vom 27. Jänner 1987, GZ 602.005/1-V/4/87, unter Pkt. I/1 und in ihrer Äußerung betreffend die Verfahren G43/87 u.a. vom 24. Feber 1987, GZ 602.005/7-V/4/87 unter Pkt. I/1 (insbesondere Pkt. I/1.2) dargelegt, daß nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nur solche Disziplinarstrafen unter den Begriff 'strafrechtliche Anklage' fallen, die Freiheitsentziehungen darstellen oder einer Freiheitsentziehung nahekommen. Im Fall ENGEL hat der Gerichtshof im wesentlichen festgestellt, daß Disziplinarverfahren grundsätzlich nicht in den Anwendungsbereich des Art6 Abs1 fallen, daß es aber Fälle geben kann, in denen sich hinter einem vom innerstaatlichen Recht als disziplinarisch bezeichneten Vorwurf in Wirklichkeit eine strafrechtliche Anklage verbirgt. Diese Judikatur weist eindeutig in die Richtung, daß nur besonders schwerwiegende Disziplinarstrafen unter den Begriff 'strafrechtliche Anklage' fallen können.

Eine Geldstrafe in der maximalen Höhe von S 69.000,-begründet nach Auffassung der Bundesregierung Art6 Abs1 MRK keinesfalls die Annahme, es liege eine 'strafrechtliche Anklage' vor.

2. Zur Anwendung des Art6 Abs1 MRK unter dem Aspekt der 'civil rights':

Unter Pkt. I/2 der zitierten Äußerung vom 27. Jänner 1987 hat die Bundesregierung festgehalten, daß nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Anwendung der Grundsätze des Art6 Abs1 MRK aus dem Grund, daß durch den Ausgang des Disziplinarverfahrens zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen entscheidend berührt werden, auf Disziplinarmaßnahmen immer nur dann zur Anwendung kommen, wenn es in dem konkreten Verfahren um eine solche, zivile Rechte berührende Sanktion geht. Nach Auffassung der Bundesregierung erscheint es daher nicht zulässig, unter dem Aspekt der unmittelbaren Betroffenheit von zivilrechtlichen Ansprüchen ('civil rights') die Bestimmungen, hinsichtlich derer der VwGH die Prüfung beantragt hat, im Lichte des Art6 MRK zu prüfen; bei der im zugrundeliegenden konkreten Fall verhängten Geldstrafe handelt es sich eben gerade um keine die Berufsausübung, und damit allenfalls zivilrechtliche Ansprüche, beeinträchtigende Maßnahme.

Nur der Vollständigkeit halber wird darauf hingewiesen, daß es nach Auffassung der Bundesregierung zweifelhaft erscheint, ob der Begriff 'civil rights' in einem so weiten Sinn verstanden werden darf, wie dies der VwGH in seinem Antrag sieht. Zwar weist die Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in diese Richtung, doch wurden der von der Mehrheit der Mitglieder des Gerichtshofes vertretenen Auffassung gewichtige Gegenargumente gegenübergestellt (vgl. insbesondere die ausführlich begründeten abweichenden Meinungen von Matscher im Fall KÖNIG gegen BRD, EuGRZ 1978, S 421ff und im Fall LE COMPTE u.a. gegen Belgien, EuGRZ 1981, S 556ff). In diesem Zusammenhang erscheint es bemerkenswert, daß in den Fällen LE COMPTE u.a. und ALBERT und LE COMPTE gegen Belgien (vgl. EuGRZ 1983, S 190ff) bereits eine beachtliche Anzahl der Mitglieder des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von der Nichtanwendung des Art6 Abs1 MRK auf Disziplinarverfahren ausgegangen ist.

3. Zur Problematik der nachprüfenden Kontrolle des VwGH im Lichte des Art6 Abs1 EMRK:

Die Bundesregierung geht davon aus, daß auch im Falle einer kassatorischen Entscheidung des VwGH die Verwaltungsbehörde an die Rechtsanschauung des VwGH gebunden ist und in dem betreffenden Fall mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln unverzüglich den dieser Rechtsanschauung entsprechenden Rechtszustand herzustellen hat (§63 Abs1 VwGG). Auch wenn sich diese Bindung nur auf die Rechtsanschauung bezieht, ist doch im Hinblick auf aufgezeigte Verfahrensmängel gewährleistet, daß die Behörde diese zu beheben und damit erforderlichenfalls auch die Sachverhaltserhebung zu ergänzen hat. Auch hier wird wegen näherer Einzelheiten auf die Stellungnahme der Bundesregierung vom 27. Jänner 1987, Zl. 602.005/1-V/4/87, im Verfahren zu G181/86 (S 13ff) verwiesen.

4. Zum Öffentlichkeitsprinzip im Sinne des ersten und zweiten Satzes des Art6 Abs1 MRK:

Selbst wenn man jedoch davon ausgehen wollte, daß die Grundsätze des Art6 Abs1 MRK auch auf ein Disziplinarverfahren - wie im vorliegenden Fall - anzuwenden sind, so liegt nach Auffassung der Bundesregierung kein Verstoß der in Rede stehenden Bestimmungen des Ingenieurkammergesetzes gegen Art6 Abs1 MRK vor. Sowohl die Disziplinarausschüsse nach §50 als auch die Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten nach §51 leg.cit. sind - wie auch der VwGH in seinem Antrag ausführt - Tribunale, die den Voraussetzungen des Art6 Abs1 MRK entsprechen. Was die Frage der Öffentlichkeit der Verhandlung betrifft, muß die Bestimmung des Art6 Abs1 MRK in der Modifikation verstanden werden, die sie durch den österreichischen Vorbehalt hiezu erfahren hat.

In diesem Sinn hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits im Urteil vom 16.7.1971 im Fall Ringeisen gegen Österreich folgendes festgehalten:

'Dieser Vorbehalt bezieht sich nicht ausdrücklich auf Verwaltungsverfahren, sondern allein auf Zivil- und Strafsachen, also ohne Zweifel auf Fälle, die vor den Zivil- und Strafgerichten verhandelt werden. Man muß jedoch einräumen, daß er a fortiori die Verfahren vor Verwaltungsbehörden erfaßt, wenn es darin um die Entscheidung über bürgerlich-rechtliche und staatsbürgerliche Rechte geht und die genannten Behörden folglich den Gerichten im Sinne des Art6 Abs1 gleichgestellt sind. Dies ist der Fall mit den Verfahren, zu denen der von Ringeisen am 30. März 1962 gestellte Antrag auf Genehmigung geführt hat.'

Der Gerichtshof hat daher konsequenterweise in diesem Urteil keine Verletzung des Art6 Abs1 MRK angenommen.

Eben diese Auffassung hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erst jüngst in seinem Urteil vom 23.4.1987 im Falle ETTL und andere gegen Österreich ausdrücklich aufrecht erhalten:

'42. In accordance with the Act, the sittings of the boards which heard the instant case were attended by the parties but were not held in public (see paragraph 23 above).

This lack of any public hearing, which ist normally contrary to Article 6 §1, ist covered, however, by the reservation Austria made when ratifying the Convention. On this point, the Court refers to its above-mentioned judgment in the Ringeisen case; it sees no reason to depart from that judgment (pp. 40-41, §98).

43. Accordingly, there was no breach of Article 6 §1 in respect of the Provincial and Supreme Boards. It ist consequently unnecessary to determine whether the Administrative Court's review - taken by itself or in conjunction with the Constitutional Court's review - complied, as regards its scope, with the requirements of Article 6 §1.'

5. Die Bundesregierung darf schließlich darauf verweisen, daß der Antrag des VwGH insofern als zu weitgehend angesehen werden muß, als er auch die Aufhebung von Bestimmungen verlangt, die von den geltend gemachten Bedenken nicht betroffen sind. Betroffen kann von diesen Bedenken - wenn überhaupt - nur §60 Abs2 des Ingenieurkammergesetzes sein. Was die Zusammensetzung der Disziplinarausschüsse und der Berufungskommission betrifft, so geht der VwGH selbst davon aus, daß sie 'den Geboten der Unabhängigkeit und der Unparteilichkeit im Sinne des Art6 MRK entsprechen' (Seite 8 des Antrags).

...

Die Bundesregierung stellt somit den

Antrag,

1. der VfGH wolle

a) den Antrag des VwGH, soweit er nicht die Aufhebung des §60 Abs2 des Ingenieurkammergesetzes, BGBl. Nr. 71/1969, begehrt, mangels ausreichender Begründung zurückweisen,

b) aussprechen, daß §60 Abs2 des Ingenieurkammergesetzes, BGBl. Nr. 71/1969, nicht als verfassungswidrig aufzuheben ist,

c) für den Fall der Nichtzurückweisung des Antrags im Sinne der lita aussprechen, daß auch die übrigen im Antrag des VwGH genannten Bestimmungen nicht als verfassungswidrig aufzuheben sind.

Für den Fall der Aufhebung stellt die Bundesregierung den

Antrag,

der VfGH wolle gemäß Art140 Abs5 B-VG für das Außerkrafttreten eine Frist von einem Jahr bestimmen, um die allenfalls erforderlichen legistischen Vorkehrungen zu ermöglichen."

3. Der Präsident der Bundesingenieurkammer brachte zum Antrag des VwGH am 28. September 1987 einen Schriftsatz ein, in dem er begehrte, den Antrag des VwGH wegen fehlender Antragslegitimation mangels Präjudizialität zurückzuweisen; in eventu den genannten Antrag abzuweisen; in eventu lediglich §50 Abs2 Ingenieurkammergesetz aufzuheben, im übrigen aber den Antrag abzuweisen; in eventu lediglich in §51 Abs2

Ingenieurkammergesetz die Worte "... oder Ruhe- ..." aufzuheben, im

übrigen aber den Antrag abzuweisen.

Der Präsident der Bundes-Ingenieurkammer begründete seinen Schriftsatz damit, daß nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers, wie er in den Erläuternden Bemerkungen zum Entwurf des Ingenieurkammergesetzes (1067 d Blg NR, XI. GP) zu Tage tritt, die Entscheidungen der Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten als einer nach Art133 Z4 B-VG organisierten Kollegialbehörde keiner Überprüfung durch den VwGH unterliegen. Auch Richter im Ruhestand seien Richter im Sinne der Bundesverfassung, abgesehen davon, daß in allen Fällen der Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten ausschließlich Richter des Aktivstandes als Vorsitzende tätig seien.

Der Präsident der Bundes-Ingenieurkammer äußerte sich ferner zur Qualität der Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten bei der Bundes-Ingenieurkammer als "Tribunal" im Sinne des Art6 Abs1 MRK, zur Zulässigkeit der "Verhängung von relativ schweren, ihrer Natur nach zivilrechtlichen Sanktionen" gemäß §49 Ingenieurkammergesetz und zur Wahrung des Öffentlichkeitsprinzips im Verfahren vor der Berufungskommission. Da die Einschränkung der Öffentlichkeit vor allem im Interesse des Beschuldigten liege und das Erkenntnis mit den wesentlichen Entscheidungsgründen vom Vorsitzenden des Senates sogleich zu verkünden sei, dem Beschuldigten schließlich das Recht zustehe, drei weiteren Kammermitgliedern seines Vertrauens den Zutritt zur Verhandlung zu gestatten, sei Art6 Abs1 MRK, der sowohl einen Verzicht auf die Öffentlichkeit als auch gewisse gesetzliche Einschränkungen ermögliche, nicht verletzt.

II. 1. Der VfGH ist nicht berechtigt, durch seine

Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des VfGH darf daher ein Antrag iS des Art140 B-VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, daß die - angefochtene - generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlaßfall bildet (zB VfSlg. 7999/1977, 9811/1983, 10296/1984). Zwar hat der VfGH in VfSlg. 10343/1985 die Zuständigkeit des VwGH in einer derartigen Angelegenheit anläßlich eines Abtretungsbegehrens nach Art144 Abs3 B-VG verneint; er sieht jedoch (vor allem auch im Lichte seiner zu VfSlg. 5684/1968 angestellten Überlegungen) keinen Anlaß, die Denkmöglichkeit der vom VwGH in ständiger Judikatur (VwSlg. 3638 A/1955, 4427 A/1957, 8802 A/1975; VwGH 25.3.1983, Zl. 82/04/0152 und Zl. 82/04/0154) angenommenen Zuständigkeit zur Prüfung der Entscheidungen der Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten und damit die Präjudizialität der vom VwGH angefochtenen Gesetzesbestimmungen zu verneinen.

2. Die vom VwGH zur Begründung seines Gesetzesprüfungsantrages geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken beziehen sich ausschließlich darauf, daß die Disziplinarausschüsse und die Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten nach dem Ingenieurkammergesetz "nicht als dem Öffentlichkeitsprinzip im Sinne des ersten und des zweiten Satzes des Art6 Abs1 MRK entsprechend eingerichtet" sind. Da sich der VfGH bei seiner Überprüfung gesetzlicher Bestimmungen auf die im Prüfungsantrag gemäß §62 Abs1 VerfGG 1953 im einzelnen dargelegten, "gegen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes sprechenden Bedenken" zu beschränken hat, bildet das Prozeßthema des über Antrag des VwGH eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahrens ausschließlich die Frage der Wahrung der Öffentlichkeit im Sinne des Art6 Abs1 MRK. Ohne auf dessen Inhalt hier bei Prüfung der Prozeßvoraussetzungen näher eingehen zu müssen, gilt der Grundsatz der Öffentlichkeit danach jedenfalls für das Verfahren vor dem entscheidenden Tribunal, insbesondere für die Verhandlung und die Urteilsverkündung. Der VfGH vermag daher nicht einzusehen, daß die vom VwGH geltend gemachten verfassungsrechtlichen Bedenken über die im Ingenieurkammergesetz getroffene Regelung des Disziplinarverfahrens hinausreichen und auch die gesetzlichen Bestimmungen über die Einrichtung der Disziplinarbehörden in den §§50 und 51 Ingenieurkammergesetz oder gar die Regelungen über Disziplinarstrafen nach §49 Ingenieurkammergesetz betreffen. Sitz der vom VwGH geltend gemachten Verfassungswidrigkeit sind sohin, - sofern sich die von ihm dargetanen verfassungsrechtlichen Bedenken bestätigen -, ausschließlich die Bestimmungen der §§60 Abs2 und 64 Abs5 Ingenieurkammergesetz: in §60 Abs2 wird die Nichtöffentlichkeit der Verhandlung vor dem Disziplinarsenat ausdrücklich angeordnet und in §64 Abs5 ist von der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren die Rede, die mangels einer besonderen Regelung, sofern sie überhaupt durchgeführt wird, nach den allgemeinen Vorschriften über die mündliche Verhandlung erster Instanz (§60 Ingenieurkammergesetz) zu gestalten ist. Die angeführten Verfahrensbestimmungen des §60 Abs2 und §64 Abs5 Ingenieurkammergesetz hat der VwGH im Zuge der Kontrolle des bei ihm angefochtenen Bescheides der Berufungskommission anzuwenden. Da hinreichende verfassungsrechtliche Bedenken im Sinne des §62 Abs1 VerfGG 1953 dagegen geltend gemacht wurden, ist der Prüfungsantrag insoweit auch zulässig.

Hingegen entspricht der Prüfungsantrag hinsichtlich der Bestimmungen der §§50 und 51 Ingenieurkammergesetz ("Disziplinarausschüsse" und "Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten") sowie hinsichtlich der in eventu angefochtenen Bestimmungen des §49 Abs1 Z2, 4 und 5 und §49 Abs2 Ingenieurkammergesetz ("Disziplinarstrafen") nicht dem §62 Abs1 VerfGG 1953. Zwar sind auch diese Gesetzesvorschriften im Anlaßverfahren vor dem VwGH präjudiziell. Da der VwGH aber keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen diese Gesetzesbestimmungen ins Treffen führte, vielmehr und im Gegenteil die Tribunalqualität der Disziplinarausschüsse und der Berufungskommission im Sinne des Art6 Abs1 MRK als gegeben erachtete, waren die Prüfungsanträge insoweit als unzulässig zurückzuweisen (VfSlg. 4340/1962, 9747/1983).

III. 1. Entgegen dem Einwand der Bundesregierung handelt es sich bei Disziplinarstrafverfahren nach dem V. Abschnitt des Ingenieurkammergesetzes zumindest insoweit um "strafrechtliche Anklagen" im Sinne des Art6 Abs1 MRK, als gemäß §49 Abs1 Z5 Ingenieurkammergesetz als Disziplinarstrafe der Verlust der Befugnis droht. Wie der VfGH in seinem Erkenntnis G181/86 u.a. vom 14. Oktober 1987 (= VfSlg. 11506/1987) näherhin begründet hat, kommen die Garantien des Art6 MRK immer dann zum Tragen, wenn in einem Verfahren Strafen von bestimmter Schwere vorgesehen sind. Dies auch dann, wenn sie im Disziplinarbereich verhängt werden. Um eine derartige, eindeutig als Strafe im Sinne des Art6 MRK und nicht als sonstige administrative Maßnahme zu qualifizierende, besonders gravierende Sanktion handelt es sich beim Verlust der Ziviltechnikerbefugnis im Zuge eines Disziplinarstrafverfahrens gemäß §49 Abs1 Z5 Ingenieurkammergesetz. Diese Strafe kann praktisch zur Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz des Bestraften führen. Sie zeichnet sich nicht nur durch besondere Schwere aus, sondern auch durch ein vom Gesetzgeber dem sanktionierten Verhalten gegenüber ausgesprochenes Unwerturteil, das dem Wesen einer Strafe im Sinne des Art6 MRK eigen ist.

Dabei kommt es im Gesetzesprüfungsverfahren nicht darauf an, welche Sanktion in dem Disziplinarfall verhängt wurde, der

als Anlaßfall vor dem VwGH dessen Prüfungsantrag auslöste, sondern nur darauf, welche Rechtsfolgen das Gesetz überhaupt kennt (vgl. EGMR; Fall Öztürk, EuGRZ 1985, 67).

Auf das Verfahren vor den Disziplinarbehörden des Ingenieurkammergesetzes sind sohin die Garantien des Art6 MRK insgesamt anzuwenden.

2. Die verfassungsrechtlichen Bedenken des VwGH aus dem Öffentlichkeitsprinzip des Art6 Abs1 MRK treffen jedoch in der Sache nicht zu. Das Öffentlichkeitsgebot des Art6 Abs1 MRK gilt nämlich nur nach Maßgabe des Vorbehalts, den Österreich anläßlich der Ratifikation der MRK zu deren Art6 erklärt hat. Dieser Vorbehalt besagt,

"... daß ... die Bestimmungen des Art6 der Konvention

mit der Maßgabe angewendet werden, daß die in Art90 des Bundesverfassungsgesetzes in der Fassung von 1929 festgelegten Grundsätze über die Öffentlichkeit im gerichtlichen Verfahren in keiner Weise beeinträchtigt werden, ..."

Art90 B-VG bezieht sich zwar dem Wortlaut nach lediglich auf die Öffentlichkeit von Verhandlungen in Zivil- und Strafrechtssachen vor Gerichten. Mit dem EGMR (Fall Ringeisen, 16.7.1971, A/13 §98) hat der VfGH (VfSlg. 7208/1973) angenommen, daß der bezüglich des gerichtlichen Verfahrens gemachte Vorbehalt aufgrund eines Größenschlusses erst recht für Verfahren vor Verwaltungsbehörden gilt, die als Tribunale im Sinne des Art6 MRK anzusehen sind. Der VfGH sieht keine Ursache, aus Anlaß des vorliegenden Prüfungsantrages von dieser Judikatur abzugehen, zumal sie zuletzt vom EGMR (Fall Ettl, 23.4.1987, §§42, 43) ausdrücklich bestätigt wurde und der VwGH in seinem Prüfungsantrag nicht einmal versucht, diese Judikatur zu widerlegen.

Da sohin Art6 Abs1 MRK (im Verein mit dem dazu anläßlich der Ratifikation der MRK von der Republik Österreich erklärten Vorbehalt) nicht den vom VwGH angenommenen Inhalt hat, war dessen Antrag, die §§60 Abs2 und 64 Abs5 Ingenieurkammergesetz als verfassungswidrig aufzuheben, abzuweisen.

Dies konnte der VfGH gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 in nichtöffentlicher Sitzung beschließen.

Schlagworte

VfGH / Präjudizialität, Ziviltechniker Kammer,Disziplinarrecht Ziviltechniker, VfGH / Bedenken,VfGH / Prüfungsmaßstab, berufliche Vertretungen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1987:G145.1987

Zuletzt aktualisiert am

21.09.2012
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten