Index
10 VerfassungsrechtNorm
B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelbLeitsatz
Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; unvertretbare Annahme einer Verwaltungsüberhebung nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG; das als Ordnungsstörung angesehene Verhalten fand bei einer für einen geschlossenen Vertrauenskreis bestimmten Versammlung im Gemeindesaal statt - kein öffentlicher Ort; Verletzung der persönlichen Freiheit durch rechtswidrige Festnahme nach §35 VStGSpruch
1. Die von Dkfm. Dr. H M M namens der Wassergenossenschaft ab Oberen Ybbser Mühlbach erhobene Beschwerde wird zurückgewiesen.
2. Dkfm.Dr. H M M ist dadurch, daß er am 26. Juni 1987 von Organen des Gendarmeriepostens Neumarkt/Ybbs um 10.00 Uhr im Sitzungssaal des Rathauses der Marktgemeinde Neumarkt a.d. Ybbs festgenommen wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Bf. die mit S 11.000,-- bestimmten Verfahrenskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1. Dkfm.Dr. H M M beantragt in einer von ihm im eigenen Namen und namens der Wassergenossenschaft am Oberen Ybbser Mühlbach, Körperschaft öffentlichen Rechts, erhobenen, an den VfGH gerichteten Beschwerde die Feststellung, daß durch seine gewaltsame Festnahme am 26. Juni 1987 im Sitzungssaal des Gemeindeamtes Neumarkt verfassungsgesetzlich garantierte Grundund Freiheitsrechte durch Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt verletzt worden seien. Am genannten Tag und Ort sollte eine Versammlung zur Gründung eines Wasserverbandes stattfinden zu dem Zweck, die Wassergenossenschaft am Oberen Ybbser Mühlbach zu übernehmen. In seiner Eigenschaft als Wasserberechtigter am Oberen Ybbser Mühlbach, weiters als Bevollmächtigter von Frau M P, als allfälliger neuer Besitzerin der Mauermühle, und in seiner Eigenschaft als rechtlich gewählter Obmann der Wassergenossenschaft am Oberen Ybbser Mühlbach, der rechtmäßig nie abgewählt worden sei, habe er sich zu dieser Zusammenkunft eingefunden, um seine eigenen Interessen und die Interessen der Genannten wahrzunehmen. Dies sei ihm aber nicht möglich gewesen, weil er kurz nach seinem Eintreffen, obwohl er die Sitzungsordnung nicht im geringsten gestört habe, "über Veranlassung des Bezirkshauptmannes von Melk (bzw. seiner weisungsgebundenen Beamten) unter offizieller Verkündigung durch den Bürgermeister der Marktgemeinde Neumarkt an der Ybbs" von drei Gendarmen festgenommen und in rechtswidriger Weise gewaltsam und zwangsweise abgeführt worden sei. Es sei ihm hiedurch die Möglichkeit genommen worden, seine eigenen Eigentumsrechte und die rechtlichen Interessen der Frau P, sowie die der Wassergenossenschaft wahrzunehmen.
2. Sowohl die Bezirkshauptmannschaft Melk als auch der Bürgermeister der Marktgemeinde Neumarkt a.d. Ybbs haben Gegenschriften erstattet.
2.1. Die Bezirkshauptmannschaft Melk führt aus, daß für den 26. Juni 1987 der Bürgermeister der Marktgemeinde Neumarkt a. d. Ybbs als Vorsitzender eines Proponentenkomitees zur Gründung eines Wasserverbandes die Vertreter der beteiligten Gemeinden und einiger Behörden und Ämter zu einer Gründungsversammlung in den Sitzungssaal des Rathauses Neumarkt a.d. Ybbs eingeladen habe. Die Anwesenheit der Behördenvertreter hätte dazu gedient, den Mitgliedern des zukünftigen Wasserverbandes erforderlichenfalls Auskünfte über den Verfahrensstand in diversen wasserrechtlichen Verfahren zu geben. Nach Beginn der Sitzung hätte der Bf., adjustiert mit "Helm, Nudelwalker und Trompete", in Begleitung von M P und T S den Sitzungssaal betreten und erklärt, daß er von der Verhandlung erfahren habe und daran teilnehmen wolle, weil für ihn existenzentscheidende Interessen behandelt würden. Der Vorsitzende des Proponentenkomitees habe ihn aufgeklärt, daß es sich um keine behördlich angeordnete Wasserrechtsverhandlung handle, sondern daß lediglich die Sitzung eines Proponentenkomitees zur Gründung eines Wasserverbandes stattfinde, sodaß er durch das Ergebnis der Besprechung in keinerlei Rechten verletzt werde. Der Vorsitzende habe ihn hierauf ersucht, den Sitzungssaal zu verlassen und die Besprechung nicht zu stören. Der Bf. habe dennoch unaufgefordert begonnen, seinen Standpunkt als vermeintlicher Obmann der Wassergenossenschaft am Oberen Ybbser Mühlbach und als Wasserberechtigter bzw. Vertreter einer Wasserberechtigten in weitschweifenden Erläuterungen darzulegen. Da eine Weiterführung der Sitzung des Proponentenkomitees damit unmöglich geworden sei, habe der Vorsitzende die Sitzung unterbrochen und den Bf. aufgefordert, den Saal zu verlassen. Nachdem dies erfolglos geblieben sei und der Bf. einzelne Sitzungsteilnehmer in Gespräche verwickelt habe, wobei er sich weiterhin in "langatmigen Metaphern" ergangen habe, habe der Bürgermeister den Gendarmerieposten Neumarkt um Intervention ersucht. Kurze Zeit später sei Gruppeninspektor Sch eingelangt, der informiert worden sei, daß der Bf. die Sitzung des Proponentenkomitees durch ständiges Dazwischenreden und Gestikulieren störe und dadurch die Sitzung unmöglich mache. Gruppeninspektor Sch habe hierauf den Bf. aufgefordert, den Sitzungssaal zu verlassen, was der Bf. jedoch abgelehnt habe. Gruppeninspektor Sch habe hierauf mit den - anwesenden - Vertretern der Bezirkshauptmannschaft Melk außerhalb des Sitzungssaales über das weitere Vorgehen Rücksprache genommen, wobei er angewiesen worden sei, gegen den Bf. im Sinne des §35 litc VStG 1950 vorzugehen, falls dieser weiterhin die Ordnung im Sitzungssaal störe. Gruppeninspektor Sch habe hierauf den Bf. abgemahnt und aufgefordert, sein strafbares Verhalten - nämlich das ständige Dazwischenreden und Gestikulieren - einzustellen und den Sitzungssaal zu verlassen. Nachdem dem Bf. 10 Minuten Zeit gegeben worden war sich zu entfernen, dieser jedoch unbeirrt durch die formelle Abmahnung weiterhin lautstark seinen Standpunkt vertreten habe und auch eine neuerliche Abmahnung ergebnislos blieb, habe Gruppeninspektor Sch die rechte Hand auf die linke Schulter des Bf. gelegt und seine Festnahme ausgesprochen, worauf dieser ohne jeglichen Widerstand den Saal verlassen habe. Nach der Ausgangstür im Vorraum des Gemeindeamtes sei der Bf. wieder freigelassen worden. Seine Festnehmung habe somit ca. 1 Minute gedauert.
Die Bezirkshauptmannschaft Melk beantragt als bel. Beh., die Beschwerde zurück- bzw. als unbegründet abzuweisen.
Aus den von der Bezirkshauptmannschaft Melk vorgelegten Verwaltungsakten ergibt sich, daß über den Bf. mit Strafverfügung vom 26. Juni 1987 auf Grund des in Rede stehenden Sachverhaltes wegen einer Übertretung nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG eine Geldstrafe von S 500,--, im Falle der Uneinbringlichkeit eine Ersatzfreiheitsstrafe von 24 Stunden verhängt wurde, und daß der Bf. gegen diese Strafverfügung Einspruch erhob.
2.2. Der Bürgermeister der Marktgemeinde Neumarkt a.d. Ybbs hat ebenfalls eine Gegenschrift erstattet, in der er sich den Sachverhaltsausführungen der Bezirkshauptmannschaft Melk anschließt.
3. Wie sich aus den - mit den Verwaltungsakten im Einklang stehenden - Vorbringen der Gegenschriften ergibt, wurde die Festnehmung des Bf. von einem Organ der Gendarmerie über Auftrag der Bezirkshauptmannschaft Melk ausgesprochen. Der Gendarmeriebeamte hat somit Vollziehungsgewalt in deren Namen ausgeübt, sodaß der Verwaltungsakt ihr zuzurechnen ist (vgl. VfSlg. 8146/1977, 9229/1981, zuletzt VfSlg. 11095/1986). Belangte Behörde ist somit die Bezirkshauptmannschaft Melk.
4. Die vom Bf. namens der Wassergenossenschaft am Oberen Ybbser Mühlbach erhobene Beschwerde ist nicht zulässig. Durch eine Festnahme kann nur eine natürliche Person, nicht aber eine juristische Person - bei einer Wassergenossenschaft handelt es sich um eine solche - im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt werden. Die von Dkfm.Dr. H M M in Vertretung der Wassergenossenschaft am Oberen Ybbser Mühlbach erhobene Beschwerde ist daher schon mangels Legitimation zurückzuweisen, ohne daß auf weitere Fragen einzugehen war.
Dies konnte gemäß §19 Abs3 Z2 lite VerfGG ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.
5. Der VfGH hat des weiteren über die von Dkfm.Dr. H M
M im eigenen Namen gegen seine Festnahme erhobene Beschwerde erwogen:
5.1.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen insbesondere Beschwerden gegen eine Festnehmung (vgl. VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977, 9860/1983).
5.1.2. Demgemäß ist die Beschwerde insoweit, da ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, in vollem Umfang zulässig.
5.2.1. Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 MRK (s. VfSlg. 7606/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958 ua.):
Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, bestimmt in seinem §4, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.
§35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz (VfSlg. 7252/1974).
5.2.2.1. Dieser hier allein in Frage kommende Festnehmungsgrund setzt voraus, daß das die Festnahme aussprechende Sicherheitsorgan mit gutem Grund, und damit vertretbar annehmen konnte, daß sich der Bf. die - ihm angelastete - Übertretung nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG zu Schulden kommen ließ.
5.2.2.2. Nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG begeht eine Verwaltungsübertretung, wer durch ein Verhalten, das Ärgernis zu erregen geeignet ist, die Ordnung an öffentlichen Orten stört.
Das Tatbild dieser Verwaltungsübertretung ist nach der Rechtsprechung des VfGH (VfSlg. 8145/1977, 8146/1977, 8580/1979, 9860/1983) und des VwGH (VwSlg. 2263 A/1951, 6581 A/1965, 7815 A/1970) durch zwei Elemente gekennzeichnet: Der Täter muß einmal ein Verhalten zeigen, das geeignet ist, bei einem normal empfindenden Menschen Ärgernis zu erregen; zum zweiten muß durch dieses Verhalten die Ordnung an einem öffentlichen Ort gestört, also ein Zustand hergestellt worden sein, welcher der Ordnung widerspricht, wie sie an einem öffentlichen Ort gefordert werden muß.
5.2.3.1. Angesichts der hier in Rede stehenden Sach- und Rechtslage ist es offenkundig, daß das zweite Tatbestandselement, nämlich das der Störung der Ordnung an einem öffentlichen Ort, nicht vorliegt. Als öffentlicher Ort wurde in der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts jeder Ort erachtet, der jederzeit von einem nicht von vornherein zahlenmäßig beschränkten Personenkreis betreten werden kann (vgl. VfSlg. 8685/1979, VwSlg. 6581 A/1965). Der Bf. beging das ihm angelastete Verhalten bei einer Proponentensitzung zwecks Gründung eines Wasserverbandes, die in einem Sitzungssaal des Bürgermeisteramtes der Marktgemeinde Neumarkt a. d. Ybbs stattfand. Bei der Sitzung waren nur Proponenten und zwecks Informationserteilung eingeladene Behördenvertreter anwesend; im Hinblick auf den Zweck der Sitzung handelte es sich um eine für einen geschlossenen Personenkreis bestimmte Versammlung im Gemeindesaal, zu der ausschließlich Personen aus gegebenem Anlaß persönlich eingeladen worden waren. Der bloße Umstand, daß es dem Bf. - und in seiner Begleitung zwei weiteren Personen - möglich war, den Sitzungssaal zu betreten, erlaubt weder den Schluß, daß der Zutritt zur Sitzung für fremde Personen offenstand, noch ist die Sitzung dadurch, daß mehrere außenstehende Personen sich zu der Sitzung Zutritt verschafften, öffentlich geworden. Fand aber das nach Meinung der bel. Beh. Ärgernis erregende und die Ordnung störende Verhalten des Bf. nicht an einem öffentlichen Ort statt - was unter den gegebenen Umständen offenkundig war - dann konnten die einschreitenden Gendarmerieorgane auch nicht vertretbarerweise auf das Vorliegen einer Verwaltungsübertretung nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG schließen.
5.2.3.2. Die Festnahme des Bf. war daher rechtswidrig.
Daraus folgt, daß der Bf. durch die bekämpfte Amtshandlung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt wurde.
5.4. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG in nichtöffentlicher Sitzung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung beschlossen werden.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG; in den zuerkannten Kosten ist Umsatzsteuer im Betrage von S 1.000,-enthalten.
Schlagworte
VfGH / LegitimationEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1988:B805.1987Dokumentnummer
JFT_10119775_87B00805_00