TE Vfgh Erkenntnis 1988/3/10 G211/87, G212/87

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Veröffentlicht am 10.03.1988
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Index

L6 Land- und Forstwirtschaft
L6500 Jagd, Wild

Norm

B-VG Art140 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art140 Abs3 erster Satz
MRK Art6 Abs1
Bgld JagdG 1970 §123 Abs2 3. und 4. Satz
Bgld JagdG 1970 §123 Abs2, Abs3 und Abs4

Leitsatz

Rechtskraft des in einem Gesetzesprüfungsverfahren gefällten Erkenntnisses setzt Identität der Bedenken und der Norm voraus; hier: keine Identität der Norm Bgld. JagdG 1970; Entscheidung über Ersatz von Jagd- und Wildschäden - Zivilrecht iS des österreichischen Rechtssystems; Angelegenheit des Kernbereiches der "civil rights"; Bezirksschiedskommission kein Tribunal - nachprüfende Kontrolle durch Verwaltungsgerichtshof und Verfassungsgerichtshof nicht ausreichend iS des Art6 Abs1 MRK - Aufhebung des dritten und vierten Satzes in §123 Abs2 als verfassungswidrig

Spruch

In §123 Abs2 des Burgenländischen Jagdgesetzes, LGBl. 30/1970, werden der dritte und der vierte Satz als verfassungswidrig aufgehoben.

Frühere Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Landeshauptmann von Burgenland ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Landesgesetzblatt verpflichtet.

Im übrigen werden die Anträge des VwGH zurückgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Über Ansprüche Geschädigter auf Ersatz von Jagd- und Wildschäden durch den Jagdausübungsberechtigten entscheidet nach §110 Burgenländisches Jagdgesetz, LGBl. 30/1970, (Jagdgesetz) in jeder Gemeinde eine Schiedskommission, die aus einem Obmann oder dessen Stellvertreter und zwei weiteren Mitgliedern (Vertrauenspersonen) besteht. §123 Abs1 Jagdgesetz läßt gegen den "Schiedsspruch" dieser Schiedskommission die Berufung an die Bezirksschiedskommission zu. Die Abs2 bis 4 des §123 Jagdgesetz lauten:

"(2) Die Landesregierung hat für den Wirkungsbereich jeder Bezirksverwaltungsbehörde für die Dauer der Jagdperiode eine Bezirksschiedskommission zu bilden. Sie ist am Sitze der Bezirksverwaltungsbehörde einzurichten und nach der Bezirksverwaltungsbehörde zu benennen, für deren Wirkungsbereich sie gebildet wird. Die Bezirksschiedskommission besteht aus einem von der Landesregierung zu bestellenden rechtskundigen Beamten als Vorsitzenden und zwei weiteren Mitgliedern, die von der Landesregierung nach Anhörung der Landwirtschaftskammer und des Landesjagdverbandes bestellt werden. Die Bestellung der Mitglieder kann zurückgenommen werden, wenn sie ihre Obliegenheiten nicht in einer den Bestimmungen dieses Gesetzes entsprechenden Weise versehen.

(3) Die Bezirksschiedskommission ist vom Vorsitzenden acht Tage vorher zur Sitzung einzuberufen. Sie ist bei Anwesenheit des Vorsitzenden oder seines Stellvertreters und der zwei weiteren Mitglieder beschlußfähig. Für die Entscheidung der Bezirksschiedskommission und für die Kosten gelten §§119 und 120 sinngemäß.

(4) Gegen die Entscheidung der Bezirksschiedskommission ist eine weitere Berufung unzulässig."

1. Der VwGH hat aus Anlaß zweier bei ihm anhängiger Beschwerden gegen Entscheidungen von Bezirksschiedskommissionen über den Ersatz von Wildschäden die Anträge gestellt, die Abs2 bis 4 des §123 Jagdgesetz als verfassungswidrig aufzuheben. Er habe bei der Entscheidung über die bei ihm anhängigen Beschwerden die Bestimmungen des §123 Abs2 bis 4 Jagdgesetz anzuwenden, "weil die Frage der gesetzmäßigen Organisation der belangten Kollegialbehörde unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides infolge Unzuständigkeit der bel. Beh. (§42 Abs2 Z2 VwGG) zu prüfen ist". Der VwGH geht ferner davon aus, daß den Mitgliedern der Bezirksschiedskommission durch Gesetz keine Unabhängigkeit garantiert ist und hat daher gegen deren Einrichtung folgende Bedenken:

"Ansprüche auf Ersatz von Wildschäden fallen als Schadenersatzansprüche unter den Begriff der zivilen Rechte ('civil rights and obligations') im Sinne des Art6 Abs1 MRK (vgl. u.a. VfSlg. 5100). Über solche Ansprüche ist nach der genannten Bestimmung 'von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht (Tribunal)' zu entscheiden. Die bel. Beh. ist ihrer oben dargestellten Organisationsform nach nicht als 'Tribunal' im Sinne des Art6 Abs1 MRK zu qualifizieren.

Der VfGH hat in seiner mit VfSlg. 5100 begonnenen und der darauf aufbauenden Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht, daß kein Widerspruch zu Art6 Abs1 MRK bestehe, wenn eine mit administrativen Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbare behördliche Entscheidung sowohl vor dem VwGH als auch vor dem VfGH in Beschwerde gezogen werden kann. In den Beschlüssen vom 9. Oktober 1986, B695/84, und vom 12. Dezember 1986, B757/86, hat der VfGH jedoch das Bedenken geäußert, daß die nachprüfende Kontrolle durch die beiden Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes den Erfordernissen des Art6 MRK nicht zu genügen scheine. Er hat auf seine eigene, auf qualifizierte Rechtsverletzungen beschränkte Entscheidungszuständigkeit hingewiesen und hinsichtlich der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle das Bedenken formuliert, daß die begrenzte Entscheidungsbefugnis des VfGH in der Sache selbst ebensowenig diesen Anforderungen genüge wie die auf Verfahrensfehler der Behörde beschränkte Sachverhaltsprüfung des VwGH unter Ausschluß einer umfassenden Kontrolle der behördlichen Beweiswürdigung."

2. Die Burgenländische Landesregierung hat von der Erstattung einer schriftlichen Äußerung Abstand genommen.

II. Die Gesetzesprüfungsverfahren sind in Bezug auf den dritten und vierten Satz des §123 Abs2 Jagdgesetz zulässig. Die Anträge des VwGH auf Aufhebung des ersten und zweiten Satzes des Abs2 sowie der Abs3 und 4 des §123 Jagdgesetz sind dagegen zurückzuweisen.

Es ist offenkundig, daß der VwGH in den bei ihm anhängigen Verfahren den dritten Satz des §123 Abs2 Jagdgesetz anzuwenden hat, weil darin die Zusammensetzung der vor dem VwGH belangten Kollegialbehörde geregelt wird. Mit der im dritten Satz des §123 Abs2 Jagdgesetz enthaltenen Vorschrift über die Bestellung der Mitglieder der Bezirksschiedskommission steht aber der vierte über die Möglichkeit der Rücknahme ihrer Bestellung in untrennbarem Zusammenhang.

Mag darüberhinaus der VwGH auch die weiteren Bestimmungen des §123 Abs2 sowie Abs3 und 4, deren

Überprüfung durch den VfGH er beantragte, in den anhängigen Beschwerdefällen anzuwenden haben, so beziehen sich doch die geltend gemachten Bedenken nicht auf diese Vorschriften. Weder die Regelung über den Wirkungsbereich, den Sitz, die Benennung oder die Amtsdauer der Kommission (§123 Abs2 erster und zweiter Satz Jagdgesetz), noch jene über ihre Einberufung, Beschlußfähigkeit, über ihre Sach- und Kostenentscheidungen (§123 Abs3 Jagdgesetz), noch über die Unzulässigkeit eines weiteren Rechtsmittels (§123 Abs4 Jagdgesetz) berühren die Zusammensetzung der Bezirksschiedskommission und die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit ihrer Mitglieder. Es besteht auch insofern kein untrennbarer Zusammenhang mit dem dritten und vierten Satz des §123 Abs2 Jagdgesetz, als deren Aufhebung den verbleibenden Inhalt des Gesetzes zwar unanwendbar macht, aber nicht in eine andere Richtung verändert. Es ist daher nicht erforderlich, andere als die in Prüfung gezogenen beiden Sätze drei und vier des §123 Abs2 Jagdgesetz aufzuheben, wenn sich die Bedenken als begründet erweisen (vgl. VfSlg. 11591/1987).

2. Der Fällung einer Sachentscheidung über die Anträge des VwGH steht auch nicht die Rechtskraft des Erkenntnisses des VfGH VfSlg. 5100/1965 entgegen. Wie der VfGH mehrfach ausgesprochen hat (VfSlg. 5872/1968, 9186/1981, 11259/1987) kann zwar dem Art140 B-VG nur der Sinn beigemessen werden, daß über bestimmt umschriebene Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes lediglich ein einziges Mal entschieden werden kann. Der VfGH hatte auch im Erkenntnis VfSlg. 5100/1965 den gleichen Bedenken hinsichtlich der Schiedsgerichte nach Burgenländischem Jagdrecht nachzugehen, wie sie nunmehr der VwGH gegen die Einrichtung der Bezirksschiedskommission vorbringt. Die Rechtskraft des in einem Verfahren nach Art140 B-VG gefällten Erkenntnisses setzt aber nicht nur Identität der Bedenken, sondern auch Identität der Norm voraus. Die Rechtskraft des zu §99 Burgenländisches Jagdgesetz, LGBl. 2/1951, gefällten Erkenntisses VfSlg. 5100/1965 steht daher der Prüfung des - neuen - §123 Jagdgesetz, LGBl. 30/1970, nicht entgegen, mögen auch die verfassungsrechtlichen Bedenken dieselben wie in jenem Verfahren sein.

III. Die Bedenken gegen den dritten und vierten Satz des §123 Abs2 Jagdgesetz sind begründet. Diese Vorschriften verstoßen gegen das durch Art6 Abs1 MRK gewährleistete Recht, von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht gehört zu werden, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen zu entscheiden hat.

Wie der VfGH bereits in seinem Erkenntnis VfSlg. 11591/1987, ausgehend von der diesbezüglichen Feststellung im Erkenntnis VfSlg. 5100/1965 aussprach, handelt es sich bei Entscheidungen über den Ersatz von Jagd- und Wildschäden um Zivilrecht im Sinne des österreichischen Rechtssystems und folglich jedenfalls auch um zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen im Sinne des Art6 MRK. Desgleichen ist die Bezirksschiedskommission nach §123 Jagdgesetz, die zur Entscheidung über Ansprüche auf Ersatz von Jagd- und Wildschäden (in zweiter Instanz) berufen ist, eine Verwaltungsbehörde, deren Mitglieder wegen Pflichtverletzung jederzeit abberufen werden können und der der Gesetzgeber auch sonst nicht die Stellung eines unabhängigen und unparteiischen Tribunals im Sinne des Art6 MRK eingeräumt hat.

Wie der VfGH im bereits genannten Erkenntnis VfSlg. 11591/1987, auf dessen Entscheidungsgründe ausdrücklich verwiesen wird, näherhin ausführte, gehört die Entscheidung über den Ersatz von Jagd- und Wildschäden ihrer rechtlichen Natur nach zur traditionellen Ziviljustiz, sodaß im Sinne des Art6 Abs1 MRK das "letztlich maßgebliche Tribunal aufgrund selbständiger Feststellung und Würdigung der Tat- und Rechtsfragen die Sachentscheidung" zu fällen hat. Im Gegensatz zu der noch im Erkenntnis VfSlg. 5100/1965 vertretenen Rechtsmeinung ist der VfGH nunmehr der Auffassung, daß die nachprüfende Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts für die Entscheidung über Angelegenheiten des Kernbereichs der "civil rights" im Sinne des Art6 Abs1 MRK, sohin auch für die diesen zuzuzählenden Ersatzansprüche aus Jagd- und Wildschäden nicht ausreicht.

Da die Bezirksschiedskommission gem. §123 Jagdgesetz, die als letzte Instanz in der Sache über die dem Kernbereich der "civil rights" zugehörigen Ersatzansprüche aus Jagd- und Wildschäden zu entscheiden hat, vom Gesetzgeber nicht mit den Garantien eines unabhängigen und unparteiischen Tribunals im Sinne des Art6 Abs1 MRK ausgestattet wurde, ist den vom VwGH gestellten Anträgen in dem oben unter II.1. dargestellten Umfang stattzugeben: Der dritte und vierte Satz des §123 Abs2 Jagdgesetz über die Zusammensetzung und Bestellung der Mitglieder der Bezirksschiedskommission sind somit als verfassungswidrig aufzuheben.

IV. Entsprechend den im Erkenntnis VfSlg. 11591/1987 angestellten Überlegungen setzt der VfGH für das Außerkrafttreten der verfassungswidrigen gesetzlichen Bestimmungen keine Frist. Er verweist ausdrücklich auf das in Art6 MRK verankerte Recht, "innerhalb einer angemessenen Frist gehört" zu werden, das den Gesetzgeber verpflichtet, möglichst rasch dafür Sorge zu tragen, daß eine Entscheidung über Jagd- und Wildschädenersatzansprüche durch ein konventionsgemäß eingerichtetes Tribunal möglich ist.

Der Ausspruch über die Kundmachung der Aufhebung stützt sich auf Art140 Abs5 B-VG, der Ausschluß des Wirksamwerdens früherer Vorschriften auf Art140 Abs6 B-VG.

Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gem. §19 Abs4 Z2 VerfGG 1953 abgesehen werden.

Schlagworte

VfGH / Präjudizialität, Jagdrecht, Jagdschaden, Wildschaden, VfGH / Bedenken, VfGH / Prüfungsumfang

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1988:G211.1987

Dokumentnummer

JFT_10119690_87G00211_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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