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L0 Verfassungs- und OrganisationsrechtNorm
B-VG Art117 Abs2Leitsatz
Streichung aus dem Wählerverzeichnis; grob mangelhaftes und ergänzungsbedürftiges Ermittlungsverfahren zur maßgebenden Frage des ordentlichen Wohnsitzes - Verletzung im Wahlrecht zum GemeinderatSpruch
Der Bf. ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Teilnahme an der Gemeinderatswahl verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Das Land Burgenland ist schuldig, dem Bf. zu Handen des Beschwerdevertreters die mit 11.000 S bestimmten Verfahrenskosten binnen vierzehn Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1.1. Am 15. September 1987 begehrte M F mit Einspruch bei der Wahlbehörde der Gemeinde Podersdorf am See, politischer Bezirk Neusiedl am See, Burgenland, die Streichung des Dr. M D-B aus dem dort aufliegenden Wählerverzeichnis für die Wahl des Gemeinderates vom 25. Oktober 1987 gemäß §18 Bgld.
Gemeindewahlordnung 1982 (GemWO), LGBl. 27/1982 idF LGBl. 43/1987.
1.1.2. Die Gemeindewahlbehörde Podersdorf am See gab diesem Einspruch mit Beschluß vom 19. September 1987 nicht statt.
1.2.1. M F brachte gegen die Entscheidung der Gemeindewahlbehörde fristgerecht das Rechtsmittel der Berufung ein.
1.2.2.1. Die Bezirkswahlbehörde Neusiedl am See gab dieser Berufung mit Bescheid vom 6. Oktober 1987, ZII-G-15/21-1987, Folge und ordnete die Streichung des Dr. Martin Dal-Bianco aus dem Wählerverzeichnis der Gemeinde Podersdorf am See an.
1.2.2.2. Begründend wurde dazu ausgeführt:
"Auf Grund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens waren die Voraussetzungen für die Aufnahme - Nichtaufnahme - in das Wählerverzeichnis im Sinne der Gemeindewahlordnung 1982 als gegeben anzunehmen, weshalb spruchgemäß zu entscheiden war."
1.3.1. Gegen diesen Berufungsbescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde des Dr. M D-B an den VfGH, in der insbesondere die Verletzung des durch Art117 Abs2 B-VG gewährleisteten Rechts auf Teilnahme an der Gemeinderatswahl behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird.
1.3.2. Die Bezirkswahlbehörde Neusiedl am See als bel. Beh. legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie für die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde eintrat.
1.4.1. Die mit "Wahlrecht und Wählbarkeit" überschriebene Bestimmung des §3 GemWO lautet folgendermaßen:
"(1) Wahlberechtigt sind alle Männer und Frauen, die die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen, am Stichtag das 19. Lebensjahr vollendet haben, vom Wahlrecht nicht ausgeschlossen sind und in der Gemeinde ihren ordentlichen Wohnsitz haben.
(2) Ob die Voraussetzungen nach Abs1 zutreffen, ist nach dem Stichtag (§2) zu beurteilen."
1.4.2. §15 GemWO bestimmt:
"(1) Jeder Wahlberechtigte ist in das Wählerverzeichnis der Gemeinde einzutragen, in der er am Stichtag seinen ordentlichen Wohnsitz hatte.
(2) Der ordentliche Wohnsitz einer Person ist an dem Orte begründet, an dem sie sich in der erweislichen oder aus den Umständen hervorgehenden Absicht niedergelassen hat, ihn bis auf weiteres zum Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen zu wählen. Hiebei ist es unerheblich, ob die Absicht darauf gerichtet war, für immer an diesem Orte zu bleiben.
(3) Jeder Wahlberechtigte darf nur einmal im Wählerverzeichnis eingetragen sein."
2. Über die Beschwerde wurde erwogen:
2.1. Der administrative Instanzenzug ist ausgeschöpft (§20 GemWO).
Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen zutreffen, ist die Beschwerde zulässig.
2.2.1. Das in Art117 Abs2 iVm Art26 Abs1, 95 Abs1 B-VG verfassungsgesetzlich gewährleistete Wahlrecht zum Gemeinderat wird durch rechtswidrige Nichteintragung (Streichung) eines Wahlberechtigten in das (aus dem) Wählerverzeichnis verletzt. Das ist auch dann der Fall, wenn das zur Nichteintragung (Streichung) führende Verwaltungsverfahren an gravierenden Mängeln leidet (vgl. zB VfSlg. 5148/1965, 6303/1970, 7017/1973, 7766/1976, 10668/1985; s. auch VfSlg. 8845/1980).
2.2.2. Die "Begründung" des angefochtenen Bescheides erschöpft sich im Kern in der knappen - in sich widersprüchlichen - Feststellung, daß die Voraussetzungen für die "Aufnahme-Nichtaufnahme" des Bf. in das Wählerverzeichnis gegeben seien. Aus welchen tatsächlichen und rechtlichen Gründen die bel. Beh. zu ihrem Spruch gelangte, wurde nicht einmal ansatzweise dargelegt, obwohl Dr. M D-B in seiner Stellungnahme vom 25. September 1987 (zum Streichungsbegehren des Martin Fuhrmann) ausdrücklich die Gemeinde Podersdorf am See als - wenn auch nicht ausschließlichen - Mittelpunkt seiner Lebensinteressen genannt hatte (zur Frage von Mehrfachwohnsitzen vgl. zB VfSlg. 9598/1982). Die Angaben des Bf. in dieser Äußerung und in dem ihr beigelegten, vollständig ausgefüllten "Fragebogen" blieben vollkommen unerörtert und ungewürdigt, so ua. sein Vorbringen, er halte sich mit seiner Familie während eines großen Teiles des Jahres - und nicht bloß an Wochenenden oder zur Sommerfrische - in seinem Einfamilienhaus in Podersdorf am See auf und verrichte dort sogar zum Teil seine Arbeit.
Sieht man von einem "Aktenvermerk" vom 30. September 1987 ab, wonach Dr. M D-B im Wählerverzeichnis der Gemeinde Wien eingetragen sei (worauf die bel. Beh. im Hinblick darauf, daß Staatsbürger, die in mehreren Gemeinden einen ordentlichen Wohnsitz haben, auch in jeder dieser Kommunen zur Teilnahme an der Wahl des Gemeinderates berechtigt sind (vgl. zB VfSlg. 10690/1985), zu Recht nicht näher einging), unterblieben hier (auch) geeignete Ermittlungen zur Klärung des entscheidungswichtigen Sachverhaltes, und zwar namentlich zur Überprüfung des Standpunktes des Bf.: Dieser Umstand im Zusammenhalt mit der völlig unzureichenden Bescheidbegründung, die sich nach dem Gesagten mit dem Vorbringen des Bf. überhaupt nicht befaßte und auseinandersetzte, kennzeichnet aber die von der bel. Beh. eingehaltene Prozedur - selbst unter gebührender Berücksichtigung der geringeren Anforderungen, die an das Ermittlungsverfahren vor Wahlbehörden schon angesichts der kurzen zur Verfügung stehenden Fristen zu stellen sind (VfSlg. 8845/1980) - unter dem Aspekt der maßgebenden Frage des ordentlichen Wohnsitzes als derart grob mangelhaft und ergänzungsbedürftig (s. etwa auch: VfSlg. 6473/1971, 7017/1973, 7766/1976, 8845/1980, 10668/1985), daß bereits von einer Verfassungswidrigkeit iS der zu Punkt 2.2.1. wiedergegebenen verfassungsgerichtlichen Judikatur gesprochen werden muß.
2.2.3. Mithin wurde der Bf. durch den angefochtenen, die Streichung aus dem Wählerverzeichnis verfügenden Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Wahlrecht zum Gemeinderat (Art117 Abs2 iVm Art26 Abs1, 95 Abs1 B-VG) verletzt.
Der Bescheid war darum schon aus diesem Grund als verfassungswidrig aufzuheben, ohne daß es eines Eingehens auf das weitere Beschwerdevorbringen bedurfte.
2.3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG 1953. Im zugesprochenen Kostenbetrag ist Umsatzsteuer in der Höhe von 1.000 S enthalten.
2.4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung ergehen.
Schlagworte
Wählerevidenz, Wahlrecht aktives, Wohnsitz,European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1988:B1262.1987Dokumentnummer
JFT_10119391_87B01262_00