TE Vfgh Erkenntnis 1988/6/10 B1056/87

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Veröffentlicht am 10.06.1988
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Index

10 Verfassungsrecht
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz in der Fassung von 1929 (B-VG)

Norm

B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
StGG Art8
MRK Art3
VStG §35
VStG §36 Abs1

Leitsatz

Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; vertretbare Annahme einer Verwaltungsübertretung nach §18 Vbg. SittenpolizeiG; rechtmäßige Festnahme nach §35 litc VStG und Freilassung nach §36 Abs1 VStG

Spruch

Die Bf. ist durch die am 28. August 1987 um 0,50 Uhr in Höchst von Gendarmeriebeamten vorgenommene Festnahme und die darauffolgende, bis 6,00 Uhr währende Anhaltung weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Die Bf. ist schuldig, dem Land Vorarlberg die mit S 3.184,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die vorliegende, auf Art144 (Abs1 zweiter Satz) B-VG gestützte Beschwerde wendet sich gegen die in der Nacht vom 27. auf den 28. August 1987 in Höchst/Bezirk Bregenz durch Gendarmeriebeamte erfolgte Festnahme der Bf. und deren Anhaltung bis etwa 6,00 Uhr. Für diese Maßnahmen hätte jegliche gesetzliche Grundlage gefehlt; sie seien willkürlich vorgenommen worden; die Verhaftung sei keine adäquate Reaktion auf das Verhalten der Bf. gewesen. Diese sei daher im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit, dem Recht, keiner erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, nach Art3 MRK, dem Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz und auf ein faires Verfahren nach Art5 und 6 MRK verletzt worden.

Die einschreitenden Beamten hätten die Bf. einer ärztlichen Untersuchung, ob sie wegen der behaupteten Schwangerschaft haftfähig sei, zugeführt. Diese entwürdigende Handlung stelle eine Verletzung des durch Art3 MRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes dar.

Die Bf. beantragt, die behaupteten Rechtsverletzungen kostenpflichtig festzustellen.

2. Die Bezirkshauptmannschaft (BH) Bregenz als bel. Beh. rechtfertigt die Festnahme und Anhaltung der Bf. damit, daß diese der "Geheimprostitution" nachgegangen sei, die nach den Vorarlberger Sittenpolizeigesetz, LGBl. 6/1976, (Vlbg. SPG) strafbar sei. Sie habe trotz Abmahnungen in der strafbaren Handlung verharrt. Die Verhaftung sei also durch §35 litc und §36 VStG 1950 gedeckt gewesen. Die ärztliche Untersuchung der Bf. zur Feststellung der Hafttauglichkeit habe keine erniedrigende Behandlung dargestellt.

Die Behörde begehrt, die Beschwerde als unbegründet kostenpflichtig abzuweisen.

II. 1. Der VfGH stellt aufgrund der im Rechtshilfeweg erfolgten Einvernahmen der einschreitenden Gendarmeriebeamten Rev.Insp. B N und Insp. J W als Zeugen sowie der Bf. als Partei und durch Einsichtnahme in den bezughabenden Verwaltungsstrafakt der Bezirkshauptmannschaft Bregenz, Zl. X 150-18745/87 folgenden Sachverhalt fest:

Die Bf. hielt sich in der Nacht vom 27. auf 28. August 1987 in Höchst auf der Bruggerstraße nächst der Rheinbrücke ("Bruggerloch"), einem bekannten "Dirnenstandplatz" auf; sie trug auffällige von Prostituierten bevorzugte Kleidung. Um etwa 0,45 Uhr kamen die beiden als Zeugen vernommenen Gendarmeriebeamten, die sich auf "Dirnenkontrolle" befanden, dort mit einem PKW vorbei. Aufgrund der geschilderten Umstände und da die Bf. den Beamten von früheren Amtshandlungen als Prostituierte bekannt war, nahmen die Gendarmen an, sie gehe wiederum der unerlaubten gewerbsmäßigen Unzucht nach und forderten sie daher auf, wegzugehen. Diese Aufforderung lehnte die Bf. mit dem Bemerken ab, sie werde hier auf ihren Mann warten. Die Gendarmeriebeamten machten sie sodann aufmerksam, daß sie sie festnehmen würden, wenn sie ihren "Standplatz" nicht verlasse. Sie meinte, dies in Kauf nehmen zu wollen. Hierauf nahmen die Beamten um 0,50 Uhr die Bf. fest und fuhren mit ihr in Richtung BregenzVorkloster. Auf dem Weg dorthin erwähnte die Bf., sie sei schwanger und daher nicht haftfähig. Die Beamten fuhren deshalb mit ihr ins Allgemeine Krankenhaus Bregenz, wo sie von einem Arzt untersucht wurde. Anschließend brachten sie die Beamten ins Haftlokal des Gendarmeriepostens Vorkloster, aus dem sie in den frühen Morgenstunden (6,00 Uhr) entlassen wurde.

Die BH Bregenz leitete gegen die Bf. zu Zl. X 150-18745/87 ein Verwaltungsstrafverfahren wegen Verdachtes der Übertretung nach §18 Abs1 litc iVm §4 Abs1 Vlbg. SPG ein. Dieses Verfahren wurde jedoch am 12. November 1987 eingestellt, weil es sich bei der verbotenen Prostitution um ein fortgesetztes Delikt handle und das hier in Rede stehende Verhalten der Bf. durch eine andere Bestrafung bereits erfaßt sei.

2. Die Bf. gibt bei der im Zuge dieses verfassungsgerichtlichen Verfahrens durchgeführten Einvernahme selbst an, seinerzeit der Prostitution nachgegangen zu sein. Bei der mündlichen Verhandlung vor dem VfGH erklärte sie, daß der Ort, an dem sie damals die Beamten antrafen, nicht ihr üblicher "Standplatz" gewesen sei.

Auch wenn diese Angaben zutreffen, konnten die Gendarmeriebeamten aufgrund der oben geschilderten Umstände zumindest vertretbar annehmen, die Bf. gehe der gewerbsmäßigen Unzucht nach.

Die Beamten sagten dezidiert aus, sie hätten die Bf. vor der Festnahme abgemahnt. In der Beschwerdeschrift, deren Richtigkeit die Bf. bei ihrer Einvernahme (allgemein) bestätigte, wird zwar bestritten, daß eine Abmahnung erfolgt wäre. Bei ihrer Einvernahme als Partei sagte sie aber folgendes aus:

"...

Jene beiden Beamten waren an jenem Abend bzw. in dieser Nacht zuvor nicht da. Sie kamen und nahmen mich gleich mit. Ich sagte diesen Beamten auch, daß ich deswegen nicht zu Fuß weggehen möchte, weil ich nicht an den anderen Prostituierten an der Straße vorbeigehen möchte. Dies deswegen, weil ich mich fürchtete. Und zwar vor der Konkurrenz. Weil ich durch deren Revier hätte gehen müssen. ..."

Immerhin geht selbst aus dieser Aussage der Bf. hervor, daß sie die Beamten aufforderten wegzugehen und daß sie dieser Aufforderung nicht nachkam.

III. Der VfGH wertet diesen Sachverhalt rechtlich wie folgt:

1. Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 MRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958 ua.):

Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, legt in seinem §4 fest, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.

§35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz (VfSlg. 7252/1974), doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten Fällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Tat begehen und bei Begehung dieser Tat betreten werden, wobei die erste dieser beiden Bedingungen schon dann vorliegt, wenn das Organ die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund annehmen konnte (s. VfSlg. 4143/1962, 9913/1984, 10480/1985).

Gemäß §35 litc VStG 1950 ist eine Festnahme unter den schon umschriebenen Bedingungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann statthaft, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.

Demgemäß war zunächst zu prüfen, ob das hier einschreitende Sicherheitsorgan mit gutem Grund - und damit vertretbar - zur Auffassung gelangen durfte, daß die Bf. die Verwaltungsübertretung nach §18 Vlbg. SPG begangen habe.

Dies ist, wie sich aus dem festgestellten Sachverhalt (s.o. II.) ergibt, der Fall.

Die Gendarmeriebeamten haben die Bf. vor deren Festnahme abgemahnt.

Die im Anschluß an die - im Gesetz gedeckte, wegen Verharrens in der strafbaren Handlung ausgesprochene - Festnahme der Bf. erfolgte Anhaltung war ebenfalls rechtmäßig:

Gemäß §36 Abs1 erster Satz VStG 1950 ist der zum Zweck der Vorführung vor die zuständige Behörde Festgenommene freizulassen, wenn der Grund zur Festnahme schon vorher entfällt. Wenn aber bereits die Festnahme selbst bewirkt, daß der Grund der Festnahme entfällt, wenn also die wegen Verharrens im strafbaren Verhalten festgenommene Person dieses Verhalten gerade infolge der Festnahme einstellt, ist diese Rechtsvorschrift nicht wörtlich anzuwenden. Vielmehr ist - dem Sinn des Gesetzes entsprechend - der Festgenommene nur dann vorzeitig zu enthaften, wenn auf Grund besonderer Umstände augenfällig wird, daß er im Fall der Freilassung das strafbare Verhalten nicht wieder aufnehmen wird (vgl. VfSlg. 9368/1982, 11101/1986).

Die Beamten entließen die Bf. um 06,00 Uhr aus der Haft, weil sie annahmen, daß sie zu diesem Zeitpunkt die strafbare Tätigkeit (Straßen-Prostitution) nicht wieder aufnehmen würde. Eine Entlassung zu einem früheren Zeitpunkt hätte tatsächlich nicht ausgeschlossen, daß sich die Bf. wieder an ihren "Standort" zurückbegeben werde, um dort die strafbare Tätigkeit wieder aufzunehmen. Keine gesetzliche Vorschrift gebietet, einen nach §35 litc VStG Festgenommenen anstatt zur Behörde (oder zunächst in ein Arrestlokal) nach Hause zu transportieren, wie dies in der Beschwerde verlangt wird. Die Entlassung der Bf. aus der Haft wurde also nicht gesetzwidrig hinausgezögert.

Da die Festnahme und Anhaltung sohin nicht außer jedem Verhältnis zum Zweck der Amtshandlung standen, braucht das Beschwerdevorbringen, das vom gegenteiligen Standpunkt ausgeht, nicht weiter erörtert zu werden.

Die Bf. wurde sohin dem - verfassungsrechtlich unbedenklichen - Gesetz entsprechend festgenommen und angehalten. Es ist daher ausgeschlossen, daß sie durch diese Maßnahmen in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt wurde.

2.a) Die Bf. bekämpft auch die von den Gendarmeriebeamten veranlaßte ärztliche Untersuchung; dadurch sei sie in dem durch Art3 MRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt worden.

b) Die - zulässige (vgl. zB VfSlg. 8126/1977, 8627/1979, 10051/1984) - Beschwerdebehauptung ist unbegründet:

Der VfGH hat wiederholt ausgesprochen, (zB VfSlg. 8654/1979, 9385/1982, 10546/1985) daß physische Zwangsakte gegen das im Art3 MRK statuierte Verbot "erniedrigender Behandlung" nur dann verstoßen, wenn ihnen eine die Menschenwürde beeinträchtigende gröbliche Verletzung des Betroffenen als Person zu eigen ist.

Davon kann hier aber keine Rede sein: Die Bf. wurde aufgrund ihrer Behauptung, schwanger zu sein, auf Veranlassung der Gendarmeriebeamten im Allgemeinen Krankenhaus Bregenz ärztlich untersucht. Darin liegt keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung.

Die Bf. wurde also auch nicht im zuletzt erwähnten Recht verletzt.

3. Aus diesen Erwägungen war die Beschwerde - da im Verfahren auch weder die Verletzung anderer verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte hervorkam noch verfassungsrechtliche Bedenken gegen die den bekämpften Verwaltungsakten zugrundeliegenden Rechtsvorschriften entstanden - als unbegründet abzuweisen.

4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG.

Dem - obsiegenden - Land Vorarlberg gebührt allerdings nur der Ersatz der Kosten für die Reise von Bregenz nach Wien und zurück sowie der Ersatz der Tages- und Nächtigungsgebühr in der Höhe von S 3.184,--, nicht aber auch der weiters begehrte Aufwandersatz für Vorlage- und Schriftsatzaufwand. Ein derartiger Kostenersatz ist im verfassungsgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehen.

Schlagworte

Verwaltungsstrafrecht / Festnehmung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1988:B1056.1987

Dokumentnummer

JFT_10119390_87B01056_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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