Index
10 VerfassungsrechtNorm
MRK Art3Leitsatz
Durch Reißen an den Haaren und Versetzen von Fußtritten Verstoß gegen Art3; Vorgangsweise nicht erforderlich, um Zweck der Amtshandlung (Auflösung einer Versammlung) durchsetzen zu können; dagegen keine ungebührliche Verzögerung ärztlicher BetreuungSpruch
Der Bf. ist dadurch, daß Sicherheitswachebeamte der Bundespolizeidirektion Wien ihn am 15. April 1986 um etwa 13.30 Uhr vor der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika in Wien an den Haaren gerissen und ihm Tritte versetzt haben, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden.
Hingegen ist der Bf. dadurch, daß seine Überstellung in die I. Unfallstation des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien (erst) um 15.10 Uhr des 15. April 1986 erfolgte, weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden. Die Beschwerde wird insoweit abgewiesen.
Die Verfahrenskosten werden gegeneinander aufgehoben.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. In der auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde wird im wesentlichen vorgebracht, der Bf. sei am 15. April 1986 zufällig zu einer Kundgebung vor der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika in Wien hinzugekommen und habe dann an der nicht angemeldeten - Versammlung teilgenommen. Im Zuge des Abdrängens der Versammlungsteilnehmer durch Sicherheitswachebeamte der Bundespolizeidirektion Wien habe ein dem Bf. nicht bekannter - Beamter dem Bf. ein Büschel Haare ausgerissen, ein anderer Beamter habe ihm mehrmals Fußtritte versetzt. Dieser Beamte habe dem Bf. in der Folge einen gezielten Stoß versetzt, sodaß der Bf. zu Boden gestürzt und zwischen den vordrängenden Beamten am Boden gelegen sei. Der Bf. habe von mehreren Beamten absichtlich Fußtritte erhalten. Unmittelbar nach dem Stoß, der den Bf. zu Fall gebracht habe, hätte er im linken Knöchel einen starken Schmerz verspürt. Er sei sodann von zwei Beamten gepackt und in die Höhe gezerrt worden. Er habe den beiden Beamten gesagt, daß er sofort einen Arzt benötige, da sein Knöchel gebrochen sei. Die beiden Beamten hätten darauf jedoch nicht reagiert, sondern den Bf. in die Boltzmanngasse gebracht. Dort sei der Bf. zwei anderen Beamten übergeben worden, die ihn zu einem Arrestantenwagen geführt hätten. Der Bf. habe sowohl diesen beiden Beamten gegenüber als auch beim Arrestantenwagen neuerlich auf seinen verletzten Knöchel hingewiesen, der mittlerweile deutlich sichtbar stark angeschwollen sei. Der Bf. sei vertröstet und um 13.48 Uhr in den Arrestantenwagen "abgegeben" worden, der um ca. 14.15 Uhr in die Roßauer Kaserne gefahren sei.
Im Polizeigefangenenhaus habe der Bf. den aufnehmenden Beamten umgehend um einen Arzt gebeten. Der Beamte sei jedoch dieser Aufforderung nicht nachgekommen, es sei mehr als eine Stunde lang nichts geschehen, obwohl der Bf. immer wieder auf seinen verletzten Knöchel hingewiesen habe. Zwischen 15.15 Uhr und 15.30 Uhr sei der Bf. in die Aufnahmestelle gebracht worden, trotz seines Ersuchens, die Amtshandlung mit ihm vorwegzunehmen, seien dort andere Festgenommene zuerst drangekommen. Erst nach dieser neuerlichen Wartezeit sei der Bf. durch zwei Beamte in die Unfallklinik des Allgemeinen Krankenhauses gebracht worden, er sei dort genau um 15.46 Uhr eingetroffen und somit erst mehr als zwei Stunden nach seiner Festnahme einer ärztlichen Versorgung zugeführt worden. Der Bf. sei röntgenisiert und es sei ein doppelter Bänderriß am linken Knöchel festgestellt worden.
Der Bf. beantragt, der VfGH wolle aussprechen, daß der Bf. durch gesetzwidrige bzw. unverhältnismäßige Anwendung körperlichen Zwanges und dadurch, daß er etwa zwei Stunden lang trotz einer offensichtlichen Verletzung nicht einer ärztlichen Versorgung zugeführt wurde, in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, nicht einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden ist.
2. Die Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. hat in einer Gegenschrift und in einer ergänzenden Stellungnahme beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen bzw. in eventu abzuweisen.
Die Bundespolizeidirektion Wien führt im wesentlichen aus, der Bf. habe sich unter den Manifestanten befunden, die durch die Strudelhofgasse abgedrängt worden seien und sei um
13.40 Uhr wegen Verdachtes - näher bezeichneter Verwaltungsübertretungen sowie wegen Vorliegens - ebenfalls näher bezeichneter - Haftgründe von Insp. R M festgenommen worden. Während "der Konfrontation" mit dem Beamten sei der Bf., wie er selbst angebe, durch einen Stoß des Beamten einmal, wie Insp. M angebe, infolge des herrschenden Gedränges zweimal zu Sturz gekommen. Es stehe fest, daß der Bf. von Insp. M und Insp. Ch H zum Arrestantenwagen gebracht worden sei, wobei er mit dem linken Fuß gehinkt habe und erklärt habe, Schmerzen im Knöchel zu haben.
Von diesem Zwischenfall sei Oberrat Mag. Z in Kenntnis gesetzt worden, der daraufhin angeordnet habe, für die alsbaldige Verbringung des Häftlings in das Polizeigefangenenhaus Sorge zu tragen, damit dort seine Versorgung sichergestellt werden könne. Tatsächlich sei die Überstellung kurz nach 14.00 Uhr erfolgt, der Transport sei etwa gegen 14.15 Uhr im Polizeigefangenenhaus eingetroffen. Gegen 14.25 Uhr sei der dort dienstversehende Sanitäter verständigt worden, daß ein Verletzter seiner Hilfe bedürfe. Der Sanitäter habe sich sofort zum Bf. begeben und die Überzeugung gewonnen, daß ein Fall, in dem Erste Hilfe von ihm selbst oder vom Rettungsdienst zu leisten wäre, nicht vorliege; es sei vielmehr die Beiziehung des Anstaltsarztes erforderlich. Der gegen 14.30 Uhr verständigte Arzt sei alsbald eingetroffen, habe als Befund beim Bf. eine Absprengung im linken Sprunggelenk festgestellt und die Überstellung des Bf. in die Unfallstation des Allgemeinen Krankenhauses verfügt. Der Bf. sei daraufhin um 15.10 Uhr mit dem Arrestantenwagen in das Allgemeine Krankenhaus überstellt worden, wo die Behandlung gegen
15.45 Uhr begonnen habe. Als sich in der Folge herausgestellt habe, daß der Bf. einen Bänderriß erlitten und im Krankenhaus in stationärer Behandlung zu verbleiben hätte, sei die Haft um 19.00 Uhr aufgehoben worden.
3. Ein im Zusammenhang mit der Verletzung des Bf. gegen die Sicherheitswachebeamten R M und Ch H sowie gegen unbekannte Täter wegen §§83f, 95 und 313 StGB beim Landesgericht für Strafsachen Wien zu 23b Vr 5631/87 eingeleitetes Strafverfahren wurde am 9. Dezember 1987 gemäß §90 StPO eingestellt bzw. gemäß §412 StPO abgebrochen.
II. Der VfGH hat erwogen:
1. Aufgrund des Parteienvorbringens, des Inhaltes der von der bel. Beh. vorgelegten Akten der Bundespolizeidirektion Wien, Staatspolizeiliches Büro, sowie des Aktes 23b Vr 5631/87 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien steht folgender hier maßgeblicher Sachverhalt fest:
Sicherheitswachebeamte der bel. Beh. begannen am 15. April 1986 um etwa 13.15 Uhr mit der gewaltsamen Auflösung einer nicht angemeldeten Versammlung vor der Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika in Wien. Im Zuge dieser Amtshandlung und des Abdrängens der Versammlungsteilnehmer wurde der Bf. von - unbekannt gebliebenen - Sicherheitswachebeamten an den Haaren gerissen und mit Füßen getreten. Um etwa 13.40 Uhr wurde der Bf., der kurz vorher zu Sturz gekommen war, vom Sicherheitswachebeamten R M festgenommen (die Festnahme ist nicht Gegenstand der Beschwerde). Der Bf. wurde von R M und dem Sicherheitswachebeamten Ch H zum Arrestantenwagen gebracht, wobei er über Schmerzen im linken Knöchel klagte und von den Beamten gestützt werden mußte. Der den Einsatz leitende Oberrat Mag. Zander ordnete daraufhin an, den Bf. alsbald in das Polizeigefangenenhaus zu transportieren, damit dort dessen Versorgung sichergestellt werden könne.
Der Bf. langte gegen 14.15 Uhr mit dem Arrestantenwagen im Polizeigefangenenhaus der Bundespolizeidirektion Wien ein. Nachdem der Bf. auch dort auf seine Fußverletzung hingewiesen hatte, wurde er gegen 14.30 Uhr einem Sanitäter und über dessen Veranlassung gegen 15.00 Uhr dem (zunächst nicht anwesend gewesenen) Amtsarzt vorgeführt. Der Amtsarzt (der eine Absprengung im linken Sprunggelenk vermutete) ordnete die Überstellung des Bf. in die Unfallstation des Allgemeinen Krankenhauses an, welche um 15.10 Uhr durchgeführt wurde. Die ärztliche Behandlung des Bf. im Krankenhaus begann um etwa 15.45 Uhr.
Beizufügen bleibt, daß Feststellungen über die Ursache der Verletzung des Bf. für dieses verfassungsgerichtliche Verfahren (Beurteilung, ob ein Verstoß gegen Art3 MRK vorliegt) entbehrlich sind (s. die folgenden Rechtsausführungen unter Pkt. 3.a).
2.a) Die Feststellungen über das Reißen an den Haaren und die Tritte gegen den Bf. beruhen auf den Angaben des Bf. als Zeuge im Verfahren 23b Vr 5631/87 des Landesgerichts für Strafsachen Wien, vor allem aber auf der Zeugenaussage der Studentin I E (die mit dem Bf. vor diesem Vorfall nicht bekannt war), welche aus nächster Nähe gesehen hat, wie ein Sicherheitswachebeamter den Bf. von hinten an den Haaren gerissen und ein anderer Beamter den Bf. getreten hat. Der VfGH sieht keinen Anlaß, die Richtigkeit dieser Aussagen in Zweifel zu ziehen.
Wenn die bel. Beh. in ihrer ergänzenden Stellungnahme auf die Glaubwürdigkeit des Sicherheitswachebeamten M hinweist, ist ihr zu erwidern, daß die Mißhandlungen des Bf. von anderen Beamten vor der von Insp. M durchgeführten Festnahme des Bf. gesetzt worden sind. Der Umstand, daß Insp. M selbst weder Mißhandlungen begangen noch solche beobachtet hat, steht somit den Angaben des Bf. und der Zeugin E nicht entgegen. Der VfGH verkennt nicht, daß die bel. Beh. im Hinblick auf die Unmöglichkeit, die betreffenden Beamten zu identifizieren, keine zielführenden Beweisanträge stellen konnte. Die vorhandenen Beweisergebnisse reichen jedoch aus, um zu den oben getroffenen Feststellungen zu gelangen.
b) Die Feststellungen über die Ereignisse und den Zeitablauf bis zur Einlieferung des Bf. in das Allgemeine Krankenhaus stützen sich auf das hier im wesentlichen übereinstimmende Vorbringen der Parteien. Die getroffenen Feststellungen weichen hinsichtlich einzelner Zeitangaben allerdings nicht wesentlich - von den Behauptungen in der Beschwerde ab und folgen diesbezüglich den aus den Akten der bel. Beh. ersichtlichen, in verschiedenen Vermerken, Übernahmebestätigungen und Berichten enthaltenen Angaben über Uhrzeiten sowie dem Befund und Gutachten des Amtsarztes des Polizeigefangenenhauses vom 15. April 1986.
3. Der festgestellte Sachverhalt führt zu folgender rechtlicher Beurteilung:
a) Zu den Mißhandlungen:
Der VfGH hat in seiner Judikatur bereits mehrfach ausgesprochen, daß das Ziehen an den Haaren (s. VfSlg. 8146/1977) und das Versetzen von Fußtritten (s. VfSlg. 10250/1984, VfSlg. 11230/1987 und 11238/1987) einen Verstoß gegen Art3 MRK darstellen kann. Es ist weder von der bel. Beh. behauptet worden noch hervorgekommen, daß die inkriminierte Vorgangsweise der Beamten aufgrund spezieller Gegebenheiten erforderlich gewesen sein sollte, um den Zweck der Amtshandlung (Auflösung der Versammlung) durchsetzen zu können. Es kann auch keine Rede davon sein, daß das festgestellte Verhalten der Sicherheitswachebeamten - ungeachtet des Umstandes, daß es möglicherweise durch ein provokantes Benehmen des Bf. hervorgerufen wurde - maßhaltend im Sinne der ständigen Rechtsprechung des VfGH zu Art3 MRK (s. auch dazu die oben zitierte Judikatur) war. Jedenfalls liegt kein Anhaltspunkt dafür vor, daß die inkriminierten Handlungen der Sicherheitswachebeamten in einer extremen Ausnahmesituation erfolgt sind, bei der mit Rücksicht auf ein nur so und nicht anders von der Behörde legitimerweise zu erreichendes Ziel der grundsätzlich erniedrigende Charakter dieser behördlichen Vorgangsweise wegfallen oder zumindest in den Hintergrund gedrängt würde (vgl. auch hiezu VfSlg. 11230/1987).
Bei diesem Ergebnis ist es für das Vorliegen eines Verstoßes gegen Art3 MRK irrelevant, ob der Betroffene dabei auch noch Verletzungen davongetragen hat. Es braucht daher nicht darauf eingegangen zu werden, ob die Verletzung des Bf. am linken Fuß auf Tritte von Beamten zurückzuführen ist oder nicht.
Es ist somit auszusprechen, daß der Bf. durch das Reißen an den Haaren und das Versetzen von Fußtritten im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden ist.
b) Zur Frage der Verzögerung bei der ärztlichen Versorgung:
Der VfGH hat - in Abweichung von seiner früheren Rechtsprechung (vgl. zB VfSlg. 5613/1967, 6993/1973 und VfGH 16.3.1976 B63/76) - bereits mehrfach ausgesprochen, daß eine Verweigerung oder Verzögerung ärztlicher Betreuung während der Haft einen Verstoß gegen Art3 MRK darstellen kann (s. VfSlg. 8627/1979 S. 47, 10427/1985 S. 467 und 10680/1985 S. 622). Eine solche Grundrechtsverletzung ist jedoch im vorliegenden Fall aus folgenden Erwägungen nicht gegeben:
Wie der festgestellte Sachverhalt zeigt, haben die Beamten der bel. Beh. weder am Ort der Demonstration noch im Polizeigefangenenhaus dem Bf. ärztliche Behandlung verweigert oder inhibiert, die erforderlichen Maßnahmen wurden auch nicht ungebührlich verzögert. Die Beamten konnten berechtigterweise annehmen, daß die Verletzung des Bf. - mochte sie für ihn auch sehr unangenehm und mit Schmerzen verbunden gewesen sein jedenfalls weder lebensbedrohend noch derart beschaffen war, daß eine unmittelbar einsetzende ärztliche Behandlung unbedingt nötig war. Angesichts dieses Umstandes sowie der großen Anzahl anläßlich der Demonstration festgenommener und in das Gefangenenhaus eingelieferter Personen, welche die Aufmerksamkeit der Sicherheitswacheorgane ebenfalls in Anspruch nahmen, kann nicht gesagt werden, daß die Vorgangsweise der Behörde von der Absicht getragen war, den Bf. unmenschlich zu behandeln (ihm etwa schweres physisches Leid (Schmerzen) zuzufügen) oder, daß mit dem behördlichen Verhalten eine die Menschenwürde beeinträchtigende gröbliche Mißachtung des Bf. als Person zum Ausdruck kam (vgl. auch hiezu die oben angeführte ständige Rechtsprechung des VfGH zu Art3 MRK).
Die Beschwerde ist daher insoweit abzuweisen.
4. Bei diesem Ergebnis werden die Verfahrenskosten gegeneinander aufgehoben (§§43 Abs1 ZPO, 35 Abs1 VerfGG).
Schlagworte
Ausübung unmittelbarer Befehls- und ZwangsgewaltEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1988:B483.1986Dokumentnummer
JFT_10119390_86B00483_00