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10 VerfassungsrechtNorm
VfGG §19 Abs3 Z2 litaLeitsatz
Keine Zuständigkeit des VfGH zur Entscheidung über eine Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht - wie sie gem. Art132 B-VG an den VwGH zulässig ist Unzulässigkeit eines Individualantrages auf Aufhebung des VersG 1953 zur Gänze mangels Darlegung von Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit ausnahmslos aller Bestimmungen dieses GesetzesSpruch
Die Beschwerde und der Gesetzesprüfungsantrag werden zurückgewiesen.
Begründung
Begründung:
I. 1. Die Bundespolizeidirektion Wien untersagte mit Bescheid vom 3. Mai 1985 gemäß §6 des Versammlungsgesetzes 1953 (VersG) die Abhaltung einer vom Bf. für den 4. Mai 1985 angezeigten Versammlung unter freiem Himmel. Die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien gab der dagegen vom Bf. eingebrachten Berufung mit Bescheid vom 9. September 1985 keine Folge. Gegen diesen Bescheid brachte der Bf. am 4. Oktober 1985 eine Berufung an den Bundesminister für Inneres ein (Zl. 213.026/3-II/15/87).
2. Am 12. Jänner 1988 erhob er an den VfGH eine auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde. Er erachtet sich dadurch, "daß die bel. Beh. die am 3. Mai 1985 angemeldete Versammlung untersagt hat und über die Berufung gegen den im Instanzenzug ergangenen Berufungsbescheid der Sicherheitsdirektion für Wien vom 9. September 1985 seit mehr als 2 Jahren nicht entschieden hat, in seinem verfassungsgesetzlich gewährleistetem Recht auf Versammlungsfreiheit gemäß Art11 MRK bzw. Art13 MRK und Art83 Abs2 B-VG verletzt."
Es wird beantragt, der VfGH möge "in Stattgebung der Beschwerde gemäß Art144 B-VG feststellen, daß der Bf. dadurch, daß die bel. Beh. seit mehr als 2 Jahren im Verfahren GZ 213.026/3-II/15/87 nicht entschieden hat, in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art13 MRK und Art83 Abs2 B-VG verletzt worden ist;
den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien GZ SD 343/85 vom 9. September 1985 wegen Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte aufheben."
Tatsächlich hatte der Bundesminister für Inneres zum Zeitpunkt der Erhebung der Beschwerde über die erwähnte Berufung nicht entschieden. Erst mit Bescheid vom 1. April 1988 sprach er über dieses Rechtsmittel ab; er gab der Berufung keine Folge und bestätigte den angefochtenen Bescheid mit einer geringfügigen Änderung im Spruch.
3. Gleichzeitig mit der Beschwerde brachte der Einschreiter den auf Art140 Abs1 (letzter Satz) B-VG gestützten Antrag ein, "das VersG von 1953 wegen Verfassungswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben und die im Verwaltungsverfahren ergangenen Bescheide mangels gesetzlicher Grundlage aufheben."
Dieser Antrag wird wie folgt begründet:
"Der BF" (Bf.; richtig: Antragsteller) "geht davon aus, daß weder mangels Zuständigkeit bzw. Zulässigkeit die beim VwGH gemäß Art132 B-VG eingebrachte Beschwerde noch die unter Pkt. II. ausgeführte Beschwerde gem. Art144 B-VG erfolgreich sein werden.
Dem steht jedoch gegenüber, daß der BF gem. Art13 MRK das individuelle verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht darauf hat, daß ihm innerstaatlich eine wirksame Beschwerdemöglichkeit eingeräumt wird, und daß er ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf den 'gesetzlichen Richter' (Art83 Abs2 B-VG) hat.
Das VersammlungsG wird für den BF dann unmittelbar ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines (letztinstanzlichen) Bescheides wirksam, wenn die zur Entscheidung berufene Behörde ihrer Entscheidungspflicht nicht nachkommt und die Zuständigkeit gem. Art133 Zif. 1 B-VG des VwGH ausgeschlossen ist.
Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit wird in Art12 StGG und Art11 MRK normiert. Gemäß beiden Normen steht das Grundrecht unter Gesetzesvorbehalt, und wird dem Gesetzgeber damit die Möglichkeit eingeräumt, das Versammlungsrecht durch einfachgesetzliche Regelungen einzuschränken.
Derartige Ausführungsgesetze dürfen jedoch das Grundrecht der Versammlungsfreiheit nicht schrankenlos einschränken, insbesondere nicht den Wesenskern dieses Grundrechtes verletzen. Die Einschränkungsmöglichkeit des Gesetzgebers wird insbesondere durch Abs2 des Art11 MRK entscheidend eingeschränkt.
Das Versammlungsgesetz 1953 ist ein solches Ausführungsgesetz.
Es kann in diesem Zusammenhang unerörtert bleiben, ob in Hinblick auf Abs2 des Art11 MRK dieses Ausführungsgesetz das Grundrecht auf Versammlungsrecht unzulässigerweise einschränkt.
Wie sich jedoch wie unter Pkt. I. dargestellten Sachverhalt deutlich zeigt, besteht eine ganz entscheidende Lücke im VersG. Der Gesetzgeber hat sicherlich zulässigerweise in §18 VersG festgelegt, 'gegen alle Verfügungen der Behörden kann an den Landeshauptmann und gegen jede Verfügung des letzteren an das Bundesministerium für Inneres die Berufung binnen 2 Wochen ergriffen werden'. Das Gesetz hat jedoch den Fall nicht beachtet, daß der Landeshauptmann oder das Bundesministerium für Inneres ihrer Entscheidungspflicht nicht nachkommen. Wegen Art133 Abs1 B-VG kann §73 A-VG keine Anwendung finden. Das VersG sieht sohin keine wirksame Beschwerdemöglichkeit vor. Dieses 'Loch' ermöglicht eine verfassungswidrige Willkür der Behörde. Das jahrelange Nichtentscheiden über eine Berufung verstoßt gegen das Willkürverbot und sohin gegen den Gleichheitsgrundsatz.
Wenn das Ausführungsgesetz insgesamt ermöglicht, daß
a) die zuständige Behörde jahrelang nicht entscheidet und der BF ohne Sanktionsmöglichkeiten sohin der Willkür der Behörde ausgesetzt ist;
b) dem BF die in Art13 MRK eingeräumte wirksame Beschwerdemöglichkeit entzogen wird und
c) dem BF die Möglichkeit genommen wird, einen Bescheid, mit dem in sein Versammlungsrecht eingegriffen worden ist, durch den VfGH als 'Gericht' überprüfen zu lassen,
scheint das Ausführungsgesetz selbst verfassungswidrig."
II. Der VfGH hat erwogen:
1. Zur Beschwerde
Der Einschreiter erachtet sich dadurch als beschwert, daß der Bundesminister über seine Berufung nicht entschieden habe.
Weder das B-VG noch eine andere Rechtsvorschrift räumt dem VfGH die Zuständigkeit ein, über eine Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht (wie sie gemäß Art132 B-VG an den VwGH zulässig ist) zu entscheiden (vgl. zB VfSlg. 6434/1971).
Die Beschwerde war daher wegen Nichtzuständigkeit des VfGH zurückgewiesen.
2. Zum Gesetzesprüfungsantrag
Nach §62 VerfGG muß der Antrag, ein Gesetz als verfassungswidrig aufzuheben, begehren, daß entweder das Gesetz seinem ganzen Inhalt nach oder daß bestimmte Stellen des Gesetzes als verfassungswidrig aufgehoben werden. Der Antrag hat die gegen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes sprechenden Bedenken im einzelnen darzulegen.
Der VfGH ist der Auffassung, daß es bei der Prüfung der Prozeßvoraussetzungen für die Durchführung eines Gesetzesprüfungsverfahrens nach Art140 B-VG darauf ankommt, daß sich aus dem Inhalt des Antrages sowohl das Begehren auf Aufhebung als auch eine Darlegung der im einzelnen gegen die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes seinem ganzen Inhalt nach oder einer bestimmten Gesetzesstelle sprechenden Bedenken ergeben (vgl. zB VfSlg. 7593/1975, 8700/1979, 11150/1986).
Wird in diesem Sinne der Antrag, das VersG 1953 seinem ganzen Inhalte nach als verfassungswidrig aufzuheben, auf das Vorhandensein der nach §62 VerfGG erforderlichen Voraussetzungen überprüft, so ergibt sich, daß zwar die Aufhebung des Gesetzes seinem ganzen Inhalte nach begehrt wird, daß aber keineswegs Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit ausnahmslos aller Bestimmungen des VersG 1953 dargelegt werden.
Aus diesen Ausführungen folgt, daß der Antrag, das VersG 1953 seinem ganzen Inhalte nach als verfassungswidrig aufzuheben, dem Erfordernis des §62 VerfGG nicht entspricht und daher schon aus diesem Grunde zurückzuweisen ist, ohne daß untersucht zu werden braucht, ob die weiteren Prozeßvoraussetzungen vorliegen.
3. Diese Beschlüsse konnten gemäß §19 Abs3 Z2 lita und litc (vgl. VfSlg. 8863/1980) VerfGG ohne weiteres Verfahren und ohne vorangegangene Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung gefaßt werden.
Schlagworte
VfGH / Zuständigkeit, VfGH / IndividualantragEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1988:B68.1988Dokumentnummer
JFT_10119387_88B00068_00