Index
10 VerfassungsrechtNorm
B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelbLeitsatz
Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; VStG §35 lita, §36 Abs1; vertretbare Annahme der Verwaltungsübertretung nach ArtVIII, 2. Begehungsfall, EGVG - Lärmerregung; infolge Betreten auf frischer Tat und mangelnder Ausweisleistung Festnahme nach §35 lita VStG gesetzmäßig; Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit durch ungerechtfertigt lange Dauer der Anhaltung - keine unverzügliche Übergabe des festgenommenen Beschwerdeführers an die iS des §36 Abs1 VStG zuständige BehördeSpruch
I. Der Bf. ist durch seine am 3. Oktober 1986 in Wien von Organen der Bundespolizeidirektion Wien verfügte Festnahme und anschließende Anhaltung in Haft bis 22 Uhr dieses Tages, ferner durch Abnahme von Effekten im Zusammenhang mit dieser Festnahme weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.
Die Beschwerde wird insoweit abgewiesen.
II. Hingegen ist der Bf. durch seine der Bundespolizeidirektion Wien zuzurechnende (weitere) Anhaltung in Haft, und zwar in der Zeit vom 3. Oktober 1986, 22 Uhr, bis 4. Oktober 1986, 0 Uhr 15, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.
III. Im übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
IV. Die Verfahrenskosten werden gegeneinander aufgehoben.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1.1. B F S begehrte in seiner mit Berufung auf Art144 (Abs1) B-VG an den VfGH gerichteten Beschwerde teils ausdrücklich, teils der Sache nach - die kostenpflichtige Feststellung, in Wien dadurch, daß Organe der Bundespolizeidirektion Wien a) ihn am 3. Oktober 1986 um 19.50 Uhr festnahmen und bis 0.15 Uhr des nächsten Tages in Haft hielten, b) ihn an der Einnahme dringend benötigter Medikamente hinderten, indem sie ihm diese Pharmazeutika abnahmen, c) ihn stießen, schoben, zu Boden brachten und ihn zwangen, eineinhalb Stunden lang auf einer Bank zu sitzen, sowie d) ihm Fahrnisse und Wertgegenstände abnahmen, demnach insgesamt durch Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, nämlich (zu a)) auf persönliche Freiheit (Art8 StGG iVm Art5 EMRK), (zu b) und c)) auf Unterlassung erniedrigender Behandlung (Art3 EMRK) und (zu d)) auf Unversehrtheit des Eigentums (Art5 StGG), verletzt worden zu sein.
1.1.2. Die durch die Finanzprokuratur vertretene Bundespolizeidirektion Wien als bel. Beh. legte die Administrativakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie den Antrag stellte, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen und den Bf. zum Ersatz der Verfahrenskosten zu verpflichten.
1.2. Aus den Verwaltungsakten geht hervor, daß B F S als Lenker eines PKW's am 3. Oktober 1986 um etwa 19.50 Uhr in 1020 Wien, L-Straße, von dem dort (Fußstreifen-)Dienst versehenden (Polizei-)Inspektor H H zur Fahrzeugkontrolle angehalten und im Verlauf der Amtshandlung ua. wegen des Verdachtes der Verwaltungsübertretungen nach ArtVIII, 2. Begehungsfall, EGVG 1950 ("Lärmerregung") und ArtIX Abs1 Z2 EGVG 1950 ("ungestümes Benehmen") ua. gemäß §35 lita VStG 1950 festgenommen wurde; später nahmen ihm Polizeiorgane - aus Sicherheitsgründen - vorübergehend einige Effekten ab. Die Haftanhaltung endete um 0.15 Uhr des nächsten Tages.
2. Über die Beschwerde wurde erwogen:
2.1. Zur Festnahme, Haftanhaltung und Effektenabnahme:
2.1.1.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF der Nov. BGBl. 302/1975 erkennt der VfGH über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Nov. 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des VfGH als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung einer Person (VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977 ua.), aber auch für eine mit Polizeizwang vor sich gehende Effektenabnahme zutrifft.
2.1.1.2. Demgemäß ist festzuhalten, daß die Beschwerde soweit sie die Festnahme und Anhaltung des Bf. sowie die Sachabnahme betrifft (s. Abschnitt 1.2.) - Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt iS des Art144 Abs1 B-VG bekämpft.
2.1.1.3. Da hier ein Instanzenzug nicht besteht und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde im dargelegten Umfang zulässig.
2.1.2.1. Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 EMRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958 ua.):
Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, legt in seinem §4 fest, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt eine Person "in den vom Gesetze bestimmten Fällen" in Verwahrung nehmen dürfen.
§35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz
(VfSlg. 7252/1974), doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten Anwendungsfällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Tat verüben und bei Begehung des Delikts betreten werden; die erste dieser beiden Bedingungen ist schon dann erfüllt, wenn das Behördenorgan die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund (= vertretbarerweise) annehmen konnte (s. zB VfSlg. 4143/1962, 7309/1974).
Die Vorschrift des §35 lita VStG 1950 läßt eine Festnehmung unter den schon umschriebenen Voraussetzungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann zu, wenn der Betretene "dem anhaltenden Organ unbekannt ist, sich nicht ausweist und seine Identität auch sonst nicht sofort feststellbar ist".
2.1.2.2. Auf dem Boden dieser Rechtslage ist zunächst zu prüfen, ob das hier einschreitende Sicherheitsorgan H H mit gutem Grund - und damit vertretbar - zur Auffassung gelangen durfte, daß der Bf. sich die (den Umständen nach in erster Linie in Betracht zu ziehende) Verwaltungsübertretung nach ArtVIII, 2. Begehungsfall, EGVG 1950 zu Schulden kommen ließ (s. Abschnitt 1.2.):
Dieses Delikts macht sich schuldig, wer "ungebührlicherweise störenden Lärm erregt".
Das Tatbild dieser Verwaltungsübertretung ist nach der Rechtsprechung des VfGH (VfSlg. 8654/1979, 9919/1984, 10480/1985, 11327/1987) und des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 25. 3. 1969 Z1614/68, 19. 4. 1982 Z81/10/0104) dadurch gekennzeichnet, daß (störender) Lärm dann "ungebührlicherweise" erregt wird, wenn das inkriminierte Verhalten jene Rücksichtnahme vermissen läßt, welche die Umwelt regelmäßig verlangen kann.
2.1.2.3. In tatsächlicher Hinsicht gelangte nun der VfGH, gestützt auf die Ergebnisse des von ihm durchgeführten Beweisverfahrens, zur relevanten Feststellung, daß der Bf., nach seiner Anhaltung zur Fahrzeugkontrolle sehr verärgert und aufgeregt, sich in einer Art und Weise verhielt, die ihn in den dringenden Verdacht zumindest der Verwaltungsübertretung nach ArtVIII, 2. Begehungsfall, EGVG 1950 brachte: Da er heftig und andrängend gestikulierte, sehr lautstark umherschrie, und obwohl dem Polizeibeamten unbekannt - sich nicht auszuweisen vermochte, wurde er schließlich ua. in Handhabung des §35 lita VStG 1950 an Ort und Stelle festgenommen:
Diese Sachverhaltsannahmen zum Hergang der Festnahme beruhen in der Hauptsache auf den insoweit plausiblen und glaubhaften Aussagen des H H und des unbeteiligten Zeugen H F, und zwar in Berücksichtigung der eigenen Einlassung des Bf. im Verwaltungsstrafverfahren Pst 17243-L/86/Ru vom 28. Oktober 1986.
2.1.2.4.1. Angesichts der gegebenen Sach- und Beweislage durfte der Zeuge H H mit gutem Grund der Meinung sein, daß der Bf. eine Verwaltungsübertretung nach ArtVIII, 2. Begehungsfall, EGVG 1950 idgF verübt habe. War aber die (Tat-)Beurteilung als Verwaltungsdelikt vertretbar und lag - wie hier - infolge Betretung auf frischer Tat und mangelnder Ausweisleistung (unter den näheren Voraussetzungen des §35 lita VStG 1950) der geltend gemachte Festnehmungsgrund vor der damals völlig ausweislose (auch keinen Führerschein bei sich tragende) Verdächtige war dem Polizeibeamten unbekannt, seine Identität auch sonst nicht sofort feststellbar (: sein Reisepaß befand sich in der Wohnung) - entsprach die bekämpfte Amtshandlung (Festnehmung) dem Gesetz.
(Auf den von H H ebenfalls herangezogenen Festnehmungsgrund des §35 litc VStG 1950 vermag sich die bel. Beh. nicht mit Grund zu berufen, weil hier eine für den (die deutsche Sprache nicht beherrschenden) Verdächtigen verständliche, förmliche "Abmahnung" fehlt, wie sie einer Festnahme iS dieser Gesetzesstelle zwingend vorauszugehen hat.)
Bei der gegebenen Fallkonstellation kann - nach der Judikatur des VfGH (vgl. VfSlg. 7309/1974; s. auch VfSlg. 10521/1985) - in der bekämpften Effektenabnahme (aus Sicherheitsgründen) im Gefolge der rechtmäßigen Festnahme ein verfassungswidriger Eingriff in das Eigentumsrecht des Bf. nicht erblickt werden.
2.1.2.4.2. Nach §36 Abs1 VStG 1950 ist jeder Festgenommene "unverzüglich der nächsten sachlich zuständigen Behörde zu übergeben, oder aber, wenn der Grund der Festnehmung schon vorher entfällt, freizulassen."
Diesen gesetzlichen Vorschriften wurde hier nicht entsprochen. Vielmehr kam es zu einer unnötigen, durch die Umstände nicht gerechtfertigten Verzögerung der Übergabe des Festgenommenen an die iSd §36 Abs1 VStG zuständige Behörde und somit auch bei seiner Entlassung aus der (Verwaltungs-)Haft, wie folgende Überlegungen zeigen:
Obwohl das Gesetz also die "unverzügliche" Vorführung (des Festgenommenen) gebietet, wurde der Bf. vom Ort der Festnahme nicht zur zuständigen Behörde (hier: zur Bundespolizeidirektion Wien - Bezirkspolizeikommissariat Leopoldstadt), sondern in ein Wachzimmer gebracht, wofür damals kein stichhaltiger Grund bestand. Der Behörde wurde der Festgenommene nach der Aktenlage um etwa 21.50 Uhr vorgeführt. Dann erst konnten dort die zur Feststellung der Identität erforderlichen Erhebungen zur Person - im konkreten Fall: ua. die Beischaffung des Reisepasses aus der Wohnung des (keinen Ausweis mit sich tragenden) Bf. - in Gang gesetzt werden. Bei gesetzmäßiger Vorgangsweise wäre der Bf. jedoch bereits um etwa 20 Uhr abends im Polizeikommissariat eingetroffen. Da die Einholung des Reisepasses (nach der unbedenklichen Einlassung der bel. Beh. in der Gegenschrift (S 7)) etwa eineinviertel Stunden dauerte, hätte der Bf. bei Beobachtung der in Haftsachen gebotenen und unerläßlichen Schnelligkeit - nach Beschaffenheit dieses in einer Großstadt spielenden Falles - spätestens um 22 Uhr (: zu diesem Zeitpunkt hätte der Reisepaß der Behörde bereits vorliegen können) aus der Haft entlassen werden müssen. Der Verdächtige befand sich rechtmäßig nur aus dem Festnehmungsgrund des §35 lita VStG 1950 in Haft: Mit Feststellung seiner Identität durch Einsichtnahme in den Reisepaß wäre dieser Festnehmungsgrund entfallen und die Entlassung - in Anwendung des §36 Abs1 VStG 1950 - unverzüglich anzuordnen gewesen.
Es war demnach gesetz- und verfassungswidrig, die Enthaftung des Bf. einige Stunden über diesen Zeitpunkt, und zwar bis 0.15 Uhr des nächsten Tages, hinauszuzögern (vgl. auch VfSlg. 7081/1973, 8816/1980, 10448/1985).
2.1.2.5. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß der Bf. im Grundrecht auf persönliche Freiheit zwar nicht durch seine Festnahme und Verwahrung bis etwa 22 Uhr des 3. Oktober 1986, wohl aber durch seine (weitere) Anhaltung bis 0.15 Uhr des nächsten Tages, verletzt wurde.
2.2. Zu den übrigen Beschwerdepunkten:
2.2.1. Was das weitere Beschwerdevorbringen zum Grundrecht nach Art3 EMRK (siehe Abschnitt 1.1.1.) anlangt, so sieht sich der VfGH in Prüfung und Würdigung aller Ergebnisse des abgeführten Beweisverfahrens außerstande, den entsprechenden Behauptungen des Bf. uneingeschränkt beizutreten und die in der Beschwerdeschrift angegebenen (nicht zur Vollziehung der Festnehmung und zur Eskortierung erforderlichen) Zwangsakte als zweifelsfrei erwiesen anzusehen. Es stehen hier Aussagen gegen Aussagen: Auf der einen Seite die Einlassungen des Bf. und seiner Ehefrau L S, auf der anderen die Angaben der Sicherheitswachebeamten, die alle erhobenen Vorwürfe teils expressis verbis, teils sinngemäß in Abrede stellen. Im übrigen geht (auch) aus den von der Bundespolizeidirektion Wien vorgelegten Haftzetteln hervor, daß der Bf. damals Medikamente - die ihm hätten abgenommen werden können - überhaupt nicht bei sich hatte.
2.2.2. Abschließend bleibt also festzuhalten, daß angesichts der konkreten Sachlage eine hinreichende Klärung der maßgebenden Vorfälle und damit ein Nachweis der behaupteten Menschenrechtsverletzungen nicht möglich war. Die Beschwerde war daher - in diesem Umfang - mangels eines tauglichen Beschwerdegegenstandes als unzulässig zurückzuweisen (Punkt III. des Spruchs).
2.3. Die Kostenentscheidung (Punkt IV. des Spruchs) beruht auf §88 VerfGG 1953 iVm. §43 Abs1 ZPO.
2.4. Diese Entscheidung konnte der Verfassungsgerichtshof in einer der Norm des §7 Abs2 litc VerfGG 1953 genügenden Zusammensetzung gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 in nichtöffentlicher Sitzung treffen.
Schlagworte
Polizeirecht, LärmerregungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1988:B1010.1986Dokumentnummer
JFT_10119074_86B01010_00