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10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG);Norm
B-VG Art140 Abs7;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Liska und die Hofräte Dr. Knell, Dr. Müller, Dr. Novak und Dr. Mizner, als Richter, im Beisein der Schriftführerin Magistratsoberkommissär Dr. Kral, über die Beschwerde der Christine U gegen den Bescheid des Landesarbeitsamtes Wien vom 15. November 1988, Zl. IVb/7022/7100 B (920/5904 090363), betreffend Gewährung von Notstandshilfe, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen von S 8.060,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit Bescheid des Arbeitsamtes Versicherungsdienste vom 14. September 1988 wurde dem Antrag der Beschwerdeführerin auf Gewährung von Notstandshilfe vom 6. Juli 1988 mangels Notlage keine Folge gegeben.
Mit dem im Spruch näher bezeichneten Bescheid der belangten Behörde vom 15. November 1988 wurde die von der Beschwerdeführerin gegen diesen Bescheid erhobene Berufung abgewiesen. Der angefochtene Bescheid enthält folgenden Spruch:
"Ihrer Berufung wird teilweise Folge gegeben und der angefochtene Bescheid wie folgt abgeändert:
Das Arbeitsamt wird Ihren Antrag auf Notstandshilfe für die Zeit vom 6. Juli bis 31. Juli 1988 unter Zugrundelegung der Tatsache, daß das anzurechnende Einkommen Ihrer Angehörigen, die zur gesetzlichen Unterhaltsleistung verpflichtet sind, die ihnen gebührende Notstandshilfe nicht übersteigt, neuerlich in Behandlung nehmen. Bei Zutreffen der sonstigen gesetzlich geforderten Voraussetzungen wird die Nachzahlung der gebührenden Leistung für die Zeit vom 6. Juli bis 31. Juli 1988 bewilligt."
In der Begründung dieses Bescheides führt die belangte Behörde im wesentlichen aus, daß das gemäß § 6 Abs. 1 der Verordnung des Bundesministers für soziale Verwaltung (nunmehr: Bundesminister für Arbeit und Soziales) vom 10. Juli 1973, betreffend Richtlinien für die Gewährung der Notstandshilfe (Notstandshilfeverordnung; in der Folge NHV genannt) anzurechnende Einkommen des mit der Beschwerdeführerin im gemeinsamen Haushalt lebenden Stiefvaters trotz Berücksichtigung der erhöhten Freigrenzen gemäß § 6 Abs. 3 NHV die der Beschwerdeführerin gebührende Notstandshilfe ab 1. August 1988 übersteige und nur für die Zeit vom 6. Juli bis 31. Juli 1988 ein gekürzter Notstandshilfeanspruch gegeben sei.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit des Inhaltes geltend machende Beschwerde.
Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Der Anspruch der Beschwerdeführerin auf Notstandshilfe hängt u.a. vom Vorliegen von Notlage ab (§ 33 Abs. 1 lit. c AlVG; alle Zitate ohne Gesetzesbezeichnung beziehen sich auf das Arbeitslosenversicherungsgesetz in der für den Streitzeitraum maßgebenden Fassung der Novelle BGBl. 1987, Nr. 615). Gemäß § 33 Abs. 4 liegt Notlage vor, wenn dem Arbeitslosen die Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse unmöglich ist. Gemäß § 36 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 hat der Bundesminister für Arbeit und Soziales Richtlinien über das Ausmaß der Notstandshilfe, insbesondere auch über die näheren Voraussetzungen, zu erlassen, unter denen Notstandshilfe im Sinne des § 33 Abs. 4 als gegeben anzusehen ist. § 36 Abs. 2 Satz 2 lautete im hier maßgebenden Zeitraum:
"Bei Beurteilung der Notlage sind die gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse des Arbeitslosen selbst sowie der Angehörigen des Arbeitslosen zu berücksichtigen, die zur gesetzlichen Unterhaltsleistung verpflichtet sind, wobei Lebensgefährten, Wahleltern, Stiefeltern, Wahlkinder und Stiefkinder den unterhaltspflichtigen Angehörigen gleichgehalten werden; im allgemeinen ist nur das Einkommen der im gemeinsamen Haushalt mit dem Arbeitslosen lebenden Angehörigen heranzuziehen."
Die auf dieser Rechtsgrundlage beruhende Notstandshilfeverordnung, BGBl. 1973, Nr. 352, in der für den Streitzeitraum maßgebenden Fassung der Verordnungen, BGBl. 1987, Nr. 417 und Nr. 636 sowie 1988, Nr. 319, regelt in ihrem § 2 den Begriff der Notlage. Diese Bestimmung lautete im hier maßgebenden Zeitraum in den für die vorliegende Beschwerdesache relevanten Teilen:
"§ 2 (1) Notlage liegt vor, wenn das Einkommen des Arbeitslosen und das seiner Angehörigen, die zur gesetzlichen Unterhaltsleistung verpflichtet sind, zur Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse des Arbeitslosen nicht ausreicht; den unterhaltspflichtigen Angehörigen sind Lebensgefährten, Wahleltern, Stiefeltern, Wahlkinder und Stiefkinder gleichzuhalten. Unterhaltspflichtige Angehörige und diesen gleichgehaltene Personen werden im folgenden als Angehörige bezeichnet.
(2) Bei der Beurteilung der Notlage sind die gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse des Arbeitslosen selbst sowie der Angehörigen zu berücksichtigen. Im allgemeinen ist nur das Einkommen der im gemeinsamen Haushalt mit dem Arbeitslosen lebenden Angehörigen heranzuziehen. Von dieser Regel ist dann abzugehen, wenn der Arbeitslose die Hausgemeinschaft mit Eltern (Wahleltern, Stiefeltern) oder Ehegatten nur deshalb aufgegeben hat oder ihr ferngeblieben ist, um der Anrechnung des Einkommens dieser Personen zu entgehen, weiters dann, wenn das Einkommen unterhaltspflichtiger Angehöriger ein überdurchschnittliches ist."
Bei der Behandlung der Beschwerde sind beim Verwaltungsgerichtshof Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit der Rechtsgrundlagen des angefochtenen Bescheides entstanden, wobei die dem Verwaltungsgerichtshof als bedenklich erschienenen Gesetzes- und Verordnungsstellen zwischenzeitig (mit Art. I Z. 15 des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 364/1989 - AlVG-Novelle 1989 bzw. der Verordnung des Bundesministers für Arbeit und Soziales vom 20. Juli 1989, BGBl. Nr. 388/1989) geändert worden waren. Mit Beschluß vom 27. März 1990, A 70/90, stellte der Verwaltungsgerichtshof daher beim Verfassungsgerichtshof den Antrag festzustellen, daß der Ausdruck "Stiefeltern," in § 36 Abs. 2 AlVG 1977 und in § 2 Abs. 1 und § 2 Abs. 2 der Notstandshilfeverordnung verfassungswidrig gewesen sind.
Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 5. März 1991, G 114/90, V 196/90, diesem Antrag stattgegeben und zu Recht erkannt, daß der genannte Ausdruck in den erwähnten Gesetzes- und Verordnungsstellen verfassungswidrig gewesen ist.
Hat der Verfassungsgerichtshof gemäß Art. 139 Abs. 4 B-VG ausgesprochen, daß eine Verordnung gesetzwidrig, bzw. gemäß Art. 140 Abs. 4 B-VG, daß ein Gesetz verfassungswidrig war, so sind gemäß Art. 139 Abs. 6 bzw. Art. 140 Abs. 7 B-VG alle Gerichte und Verwaltungsbehörden an den Spruch des Verfassungsgerichtshofes gebunden; die vom Spruch des Verfassungsgerichtshofes betroffenen Verordnungs- bzw. Gesetzesstellen sind auf den Anlaßfall nicht mehr anzuwenden.
Beruht ein vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtener Bescheid - wie hier - auf einer Gesetzes- bzw. Verordnungsstelle, die in der Folge von einem Ausspruch des Verfassungsgerichtshofes gemäß Art. 139 Abs. 4 bzw. 140 Abs. 4 B-VG betroffen wird (hier: die Anordnung der Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Stiefeltern bei Beurteilung der Notlage), so belastet dies den angefochtenen Bescheid mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes. Dieser ist daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben (vgl. die bei Dolp, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit3, 570, vorletzter Absatz zitierte hg. Rechtsprechung).
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG, hat sich jedoch im Rahmen des - hinter den Pauschalsätzen der Verordnung BGBl. Nr. 243/1985 zurückbleibenden - in der Beschwerdeschrift ausdrücklich gestellten Begehrens zu halten.
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1991:1989080026.X00Im RIS seit
14.05.1991Zuletzt aktualisiert am
22.09.2008