TE Vfgh Erkenntnis 1988/10/3 B1276/87, B1277/87

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Veröffentlicht am 03.10.1988
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Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

StGG Art8
VStG 1950 §35 litc
VStG 1950 §36

Leitsatz

Art144 Abs1 zweiter Satz B-VG; FremdenpolizeiG §5 Abs1; Festnahme und Anhaltung vor Erlassung eines Schubhaftbescheides - Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit; Abmahnung gemäß §35 litc VStG nur dann geboten, wenn sie dazu dienen kann, daß das strafbare Verhalten eingestellt wird; Entbehrlichkeit einer Abmahnung im Fall der Beendigung des strafbaren Verhaltens infolge des Einschreitens der Beamten; vertretbare Annahme von Wiederholungsgefahr - Festnahme und Anhaltung gesetzmäßig

Spruch

Die Bf. sind durch die am 23. Oktober 1987 um etwa 12,00 Uhr am Grenzübergang Brenner erfolgte Festnahme und die folgende Anhaltung, soweit sie bis 16,50 Uhr desselben Tages währte, weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden. Die Beschwerden werden abgewiesen.

Im übrigen werden die Beschwerden zurückgewiesen. Kosten werden nicht zugesprochen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die vorliegenden, auf Art144 (Abs1 zweiter Satz) B-VG gestützten Beschwerden wenden sich gegen die am 23. Oktober 1987 am Grenzübergang Brenner erfolgte Festnahme der beiden Bf. (die türkische Staatsangehörige sind) und gegen die Aufrechterhaltung der Haft bis zur am 9. November 1987 erfolgten Abschiebung der Bf. Die bekämpften Maßnahmen seien ohne gesetzliche Grundlage erfolgt; insbesondere seien keine Schubhaftbescheide erlassen worden. Die Bf. behaupten, durch die bekämpften - als Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt qualifizierten - Verwaltungsakte im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit sowie im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden zu sein. Sie beantragen, diese Rechtsverletzungen kostenpflichtig festzustellen.

2. Die Bezirkshauptmannschaft (BH) Innsbruck als bel. Beh. erstattete Gegenschriften. Sie verteidigt die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Maßnahmen damit, daß sie durch Schubhaftbescheide gedeckt gewesen seien. Außerdem seien die Bf. der "illegalen Schleppertätigkeit" verdächtig gewesen; es sei der Haftgrund des §35 VStG 1950 (Wiederholungsgefahr) vorgelegen.

Die Behörde begehrt, die Beschwerden kostenpflichtig abzuweisen.

II. 1. Der VfGH geht von dem Sachverhalt aus, wie er sich aufgrund der vorgelegten Akten der BH Innsbruck Zlen. 5a-11.456/87 und 5a-11.457/87 ergibt und wie er in den Gegenschriften dieser Behörde wie folgt geschildert wird:

"Laut Anzeige des Gendarmeriepostens Gries a. Br. vom 23. Oktober 1987 reisten (M) T (der Bf. zu B1276/87) und (H) C (der Bf. zu B1277/87) am 23.10.1987 gegen 07,00 Uhr mit dem PKW von T am Grenzübergang Kiefersfelden von Deutschland nach Österreich ein. Sie fuhren in der Folge zum Grenzübergang Brennerpaß, um dort auf italienischem Staatsgebiet drei türkische Staatsangehörige abzuholen.

Bei diesen drei türkischen Staatsangehörigen handelte es sich um Personen, die bereits eine Woche zuvor die Grüne Grenze im Bereich des Brennerpasses illegal überschritten hatten und dabei betreten worden sind. Diese Personen wurden damals den italienischen Behörden übergeben und wurden in die Reisepässe jeweils ein Rückweisungsstempel von der Grenzkontrollstelle Brenner - Straße angebracht.

Am 23.10.1987 gegen 11,00 Uhr versuchten nun T und C gemeinsam mit den anderen drei türkischen Staatsangehörigen in einem PKW nach Österreich einzureisen.

Über diesen Sachverhalt wurde die Bezirkshauptmannschaft Innsbruck telefonisch verständigt. Es wurde die Festnahme von T und C und die Rückweisung der anderen drei türkischen Staatsangehörigen angeordnet. Die Festnahme erfolgte am 23.10.1987 um 12,00 Uhr und wurden T und C nach Einvernahme am Gendarmerieposten Gries a.Br. dem Journaldienstbeamten der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck um 16,10 Uhr vorgeführt.

Der Journaldienstbeamte erließ gegen 16,50 Uhr einen Schubhaftbescheid wegen des Verdachtes der illegalen Schleppertätigkeit. In weiterer Folge wurden T und C in das Polizeigefangenenhaus in Innsbruck überstellt."

Am 9. November 1987 wurden die beiden Bf. in die Bundesrepublik Deutschland abgeschoben.

2. Die Sachverhaltsdarstellungen der Bf. einerseits und der BH Innsbruck andererseits divergieren insbesondere darin, daß die Bf. - anders als die Behörde - behaupten, es seien keine Schubhaftbescheide erlassen worden.

Der VfGH folgt diesen Beschwerdebehauptungen nicht: In den Verwaltungsakten erliegen (ordnungsgemäß eingeordnet) die Urschriften von Bescheiden, die mit 23. Oktober 1987 datiert sind und mit denen gemäß §5 Abs1 iVm §11 des Fremdenpolizeigesetzes (FrPG) unter Anwendung des §57 AVG 1957 über die Bf. zur Sicherung der Abschiebung vom Journalbeamten der BH Innsbruck Dr. H die Schubhaft angeordnet wird. Eine Übernahmsbestätigung der Bescheide durch die Bf. findet sich zwar in den Verwaltungsakten nicht. Dr. H gab jedoch anläßlich seiner am 12. Jänner 1988 erfolgten niederschriftlichen Einvernahme als Zeuge von der BH Innsbruck dezidiert an, er habe den - der deutschen Sprache mächtigen - Bf. den Inhalt der Schubhaftbescheide mündlich bekanntgegeben und ihnen jeweils einzeln das Original des Schubhaftbescheides übergeben. Eine schriftliche Bestätigung der Übergabe habe er für entbehrlich gehalten.

Diese Aussage ist durchaus glaubwürdig. Es wäre im übrigen unwahrscheinlich, Bescheide schriftlich auszufertigen, ohne ein Exemplar den ohnehin im Amt anwesenden Adressaten auch auszufolgen.

III. Der VfGH beurteilt diesen Sachverhalt rechtlich wie folgt:

1.a) Die Festnahme und die Anhaltung der Bf. vor Erlassung der Schubhaftbescheide sind Verwaltungsakte, die in Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt ergingen und die daher nach Art144 Abs1 zweiter Satz B-VG beim VfGH bekämpfbar sind.

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, sind die Beschwerden in diesem Umfang zulässig.

b) Anders verhält es sich mit den Beschwerden, soweit sie die Anhaltung nach Erlassung der Schubhaftbescheide anfechten. Diese Maßnahmen erfolgten nämlich zur Vollstreckung von den Bf. zuvor zugestellten vollstreckbaren Schubhaftbescheiden gemäß §5 Abs1 FrPG. Diese Verwaltungsakte ergingen nicht in Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt; sie sind nicht nach Art144 Abs1 B-VG beim VfGH bekämpfbar (vgl. zB VfSlg. 10467/1985 und die darin zitierte weitere Vorjudikatur).

Der VfGH ist daher zur Entscheidung über die Beschwerden, sofern sie sich gegen die nach erfolgter Zustellung der Schubhaftbescheide erfolgte Anhaltung (also gegen die Anhaltung nach dem 23. Oktober 1987, 16,50 Uhr) richten, nicht zuständig. Die Beschwerden waren daher insoweit wegen (offenkundiger) Nichtzuständigkeit des VfGH gemäß §19 Abs3 Z 2 lita VerfGG (ohne vorangegangene Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung) zurückzuweisen.

2. Über die Beschwerden wurde - soweit sie zulässig sind - in der Sache erwogen:

a) Gemäß §5 Abs1 FrPG kann ein Fremder unter anderem zur Sicherung der Abschiebung vorläufig in Verwahrung genommen werden (Schubhaft), wenn dies im Interesse der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung oder Sicherheit oder aus dem Grunde notwendig erscheint, um ein unmittelbar zu befürchtendes strafbares Verhalten des Fremden zu verhindern. Die Schubhaft ist, wie sich aus §11 Abs2 FrPG ergibt, mit Bescheid anzuordnen. Die Verhängung der Schubhaft schließt auch die Festnahme ein (vgl. zB VfSlg. 9323/1982 und die dort zitierte Vorjudikatur).

Eine Festnahme, die dazu dient, einen Fremden in Schubhaft zu nehmen, darf also nur erfolgen, wenn sie durch einen Bescheid verfügt worden ist. Ein schriftlicher Bescheid gilt erst dann als erlassen, wenn er wirksam zugestellt wurde (vgl. zB VfSlg. 9323/1982, 10978/1986, 11431/1987). Hier wurden die Schubhaftbescheide erst am 23. Oktober 1987 um 16,50 Uhr zugestellt.

Nach §4 des im Verfassungsrang stehenden Gesetzes vom 27. Oktober 1862, RGBl. 87, zum Schutze der persönlichen Freiheit dürfen die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt (nur) in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen.

Ein solcher Fall lag hier nicht vor: Wie soeben dargetan wurde, konnte die Festnahme der Bf. mangels vorangegangener förmlicher Schubhaftbescheide nicht auf das FrPG gestützt werden; gleiches gilt für die Anhaltung der Bf. bis zur Erlassung der Schubhaftbescheide.

b) Es war jedoch eine andere gesetzliche Grundlage für die Festnahme und Anhaltung gegeben.

Die bel. Beh. macht nämlich auch geltend, es habe Wiederholungsgefahr bestanden. Sie beruft sich damit auf den Festnahmegrund nach §35 litc VStG 1950.

Dies zu Recht:

Nach dieser Gesetzesbestimmung dürfen Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes (dazu zählen Gendarmeriebeamte) Personen, die auf frischer Tat betreten werden, zum Zwecke ihrer Vorführung vor die Behörde festnehmen, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.

Die einschreitenden Gendarmeriebeamten konnten - wie sich aus den Sachverhaltsfeststellungen (s.o.II.1.) ergibt - mit gutem Grund annehmen, daß sich die beiden Bf. der Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt anderer Ausländer (§§22, 40 PaßG 1969 iVm §7 VStG 1950) schuldig gemacht hätten.

Wenngleich §35 litc VStG 1950 für die Zulässigkeit der Festnahme die vorangegangene Abmahnung fordert, so kann dies - bei einer am Sinn des Gesetzes orientierten Auslegung - nur derart verstanden werden, daß eine Abmahnung nur dann geboten ist, wenn sie dazu dienen kann, daß das strafbare Verhalten eingestellt wird. Wenn aber - wie hier - das Einschreiten der Beamten bereits zur Beendigung der strafbaren Handlung geführt hat, wäre eine Abmahnung sinnlos; sie ist daher entbehrlich (vgl. die Judikatur des VfGH zur Dauer der Anhaltung bei Festnahme nach §35 litc VStG, zB VfSlg. 9368/1982, 11101/1986). Die Beamten konnten unter den gegebenen Umständen davon ausgehen, daß Wiederholungsgefahr besteht.

Die Festnahme der Bf. war daher durch §35 litc VStG 1950 gedeckt.

Ihre - etwa fünfstündige - Anhaltung bis zur Erlassung des Schubhaftbescheides währte - unter Berücksichtigung des Umstandes, daß sie von Gries am Brenner zur BH Brenner überstellt werden mußten - nicht übermäßig lange und verletzte somit nicht §36 VStG 1950.

Die Bf. wurden also durch die am 23. Oktober 1987 um 12,00 Uhr vorgenommene Festnahme und die darauf folgende Anhaltung bis 16,50 Uhr desselben Tages nicht im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt.

Da die Verletzung eines anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes nicht vorliegt und gegen die die bekämpften Amtshandlungen tragenden Rechtsgrundlagen keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen, waren die Beschwerden soweit sie zulässig sind - als unbegründet abzuweisen.

c) Dies konnte gemäß §19 Abs4 Z1 und 2 VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

3. Da der obsiegenden bel. Beh. keine nach §88 VerfGG ersatzfähigen Kosten (etwa Reisekosten) erwuchsen, waren ihr keine Kosten zuzusprechen.

Schlagworte

Verwaltungsstrafrecht, Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1988:B1276.1987

Dokumentnummer

JFT_10118997_87B01276_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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