TE Vfgh Beschluss 1988/11/28 B1355/88

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Veröffentlicht am 28.11.1988
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Index

10 Verfassungsrecht
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz in der Fassung von 1929 (B-VG)

Norm

B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb
VfGG §88

Leitsatz

Art144 Abs1 B-VG; Anordnung auf Räumung der Besuchergalerie - vom Präsidenten des Nationalrates in Ausübung der Sitzungspolizei getroffene Maßnahme ist der Staatsfunktion Gesetzgebung zuzurechnen; (gewaltsame) Entfernung der Beschwerdeführer kein Akt verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt

Spruch

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

Verfahrenskosten werden nicht zugesprochen.

Begründung

Begründung:

1.1. M W begehrte mit ihrer auf Art144 B-VG gegründeten Beschwerde an den VfGH die (kostenpflichtige) Feststellung, sie sei am 8. Juni 1988 von Parlamentsordnern gewaltsam von der (Besucher-)Galerie des Parlaments in Wien entfernt und durch diese - dem Präsidenten des Nationalrates zuzurechnende - Amtshandlung, demnach durch Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt worden.

1.2.1. Der durch die Finanzprokuratur vertretene Präsident des Nationalrates übersandte dem VfGH alle bezughabenden Akten und erstattete eine Gegenschrift, in der er für die Zurückweisung der Beschwerde als unzulässig eintrat.

Unter anderem wurde in dieser Gegenschrift wörtlich ausgeführt:

" . . . Gemäß Art30 Abs2 B-VG werden die Geschäfte des Nationalrates auf Grund eines besonderen BG geführt; das hiezu erlassene Geschäftsordnungsgesetz 1975 (GOG 1975) unterscheidet zwischen den allgemeinen Aufgaben des Präsidenten des Nationalrates (§13) und den dem Präsidenten des Nationalrates übertragenen Verwaltungsaufgaben (§14). Hinsichtlich letztgenannter Verwaltungsaufgaben bestimmt Art30 Abs6 B-VG, daß der Präsident des Nationalrates hiebei als Oberstes Verwaltungsorgan tätig wird.

Die Anordnung der bel. Beh. auf Räumung der Zuhörergalerie im Fall einer Störung der Verhandlungen des Nationalrates gehört jedoch zu den Aufgaben des Präsidenten des Nationalrates als Verhandlungsleiter und nicht zu denjenigen, die der Präsident als Oberstes Verwaltungsorgan ausübt:

Der Gesetzgeber hat nämlich ausdrücklich zwischen derjenigen Kompetenz des Präsidenten des Nationalrates, die dieser in Ausübung seiner Sitzungspolizei (§13 Abs3 leg.cit.), also zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung im Sitzungssaal (§13 Abs2 GOG 1975) wahrnimmt, und derjenigen, die dieser zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung in den anderen Räumen des Hauses beobachtet, unterschieden. Nur letztgenannte Kompetenz ist aber Ausfluß des Hausrechtes und fällt unter den Tatbestand des §14 leg.cit. (Bericht des Geschäftsordnungsausschusses vom 3. Juni 1975 in 1640 der Beilagen des Nationalrates, XIII. GP).

         Da also im Gegenstand die bel. Beh. in einer

öffentlichen Sitzung des Nationalrates in Handhabung der

Geschäftsordnung tätig geworden ist, liegt kein Akt vor, der dem

Bereich der Verwaltung zuzurechnen wäre . . . "

         1.2.2. Das Stenographische Protokoll über die

65. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich vom 8. Juni

1988 (XVII. GP, S 7263 f) enthält folgenden Abschnitt:

         "(Smolle:)

         . . . Ich glaube, die burgenländischen Kroaten haben

auch sehr klare Vorstellungen über ihre Bedürfnisse, diese sind der Bundesregierung bekannt. Ich möchte sie hier nur teilweise ausführen. (Von der Galerie werden Flugblätter in den Sitzungssaal geworfen. - Rufe von der Galerie. - Der Präsident gibt das Glockenzeichen.)

Präsident: Das Parlament läßt sich nicht unter Druck setzen. Wenn keine Ruhe ist, lasse ich die Galerie räumen.

Herr Abgeordneter Smolle, bitte setzen Sie fort. (Weitere Rufe von der Galerie.)

Herr Abgeordneter Smolle, ich bitte Sie, Ihre Rede fortzusetzen.

Abgeordneter Smolle (fortsetzend): Es ist für mich . . . (Weitere anhaltende Rufe von der Galerie. - Der Präsident gibt erneut das Glockenzeichen.)

Präsident: Ich darf das Haus bitten, die Aufmerksamkeit dem Redner zu schenken.

Herr Abgeordneter Smolle, ich bitte Sie, fortzusetzen.

Abgeordneter Smolle (fortsetzend): Es ist, wie Sie verstehen, für mich jetzt nicht einfach fortzusetzen.

Ich halte die Proteste der slowenischen Volksgruppe und auch der Freunde dieser Volksgruppe in dieser Frage für viel mehr als berechtigt, denn es haben sich die Parteien - bitte, nicht hier - nicht vorbildlich verhalten, sondern, im Gegenteil, ich mußte um jeden Halbsatz, um jedes Wort, um jede minimale Veränderung ringen, so als ob es tatsächlich um staatspolitische Fragen ginge.

Die slowenische Volksgruppe . . . (Neuerliche Rufe von der Galerie.)

Präsident: Ich bitte den Herrn Abgeordneten Smolle zu unterbrechen.

Ich unterbreche die Sitzung für genau 5 Minuten, bis die Ruhestörer von der Galerie entfernt sind.

(Die Sitzung wird um 12 Uhr 33 Minuten unterbrochen und um 12 Uhr 38 Minuten wiederaufgenommen.)

Präsident: Ich nehme die unterbrochene Sitzung wieder auf. (Unruhe auf der Galerie.)

Ich unterbreche die Sitzung, bis entsprechend den Bestimmungen der Geschäftsordnung und der Hausordnung die Ruhestörer von der Galerie entfernt worden sind. Ich werde die Sitzung durch Einläuten neuerlich einberufen.

(Die Sitzung wird um 12 Uhr 38 Minuten unterbrochen und um 12 Uhr 53 Minuten wiederaufgenommen.)

Präsident: Ich nehme die unterbrochene Sitzung wieder auf.

Ich darf die Damen und Herren des Hauses um Aufmerksamkeit bitten, weil ich eine Erklärung abgeben möchte.

Ich betrachte es als die Aufgabe des Präsidenten des Nationalrates, dafür zu sorgen, daß die Sitzungen dieses Hauses ohne Druck und ohne Beeinflussung von irgend jemanden - ganz egal, wer es versucht - stattfinden können. Ich werde daher in jedem Fall - ich wiederhole: in jedem Fall - so reagieren wie jetzt eben und entsprechend der Geschäftsordnung und entsprechend der Hausordnung Menschen, die versuchen, dieses Parlament unter Druck zu setzen, von der Galerie entfernen lassen. . . "

2. Über die Beschwerde wurde erwogen:

2.1. Aus den Stenographischen Protokollen über die Nationalratssitzung vom 8. Juni 1988 (s. Pkt. 1.2.2.) und den vorliegenden Akten der Parlamentsdirektion geht hervor, daß der Präsident des Nationalrates während der damaligen Nationalratssitzung mehrere als "Ruhestörer" bezeichnete Personen, darunter auch die Bf., von der (Besucher-)Galerie unter Anwendung von Körperkraft entfernen ließ.

2.2. Wie in der Gegenschrift zutreffend geltend gemacht wurde, handelt es sich bei dieser Maßnahme nicht um einen Akt unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, der mit Beschwerde vor dem VfGH nach Art144 Abs1 B-VG bekämpfbar wäre. Denn der Präsident des Nationalrates wurde damals nicht als Verwaltungsorgan tätig; er traf seine Anordnung auf Räumung der Besuchergalerie vielmehr in Ausübung der ihm als Vorsitzführendem - obliegenden Sitzungspolizei, demnach als Organ der gesetzgebenden Gewalt (vgl. Adamovich-Funk, Österreichisches Verfassungsrecht3, Wien 1985, S 200). Auch Hilfsdienste (vgl. Art30 Abs3 B-VG), die ihm dabei - wie hier - von untergeordneten Bediensteten in strikter Befolgung seines (Räumungs-)Auftrages geleistet werden, ressortieren, wie die Handhabung der Sitzungspolizei während der parlamentarischen Beratungen selbst, zur Staatsfunktion Gesetzgebung (vgl. Rill, Zum Verwaltungsbegriff, in: Ermacora ua. (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, Wien 1979, S 42; Adamovich-Funk, Allgemeines Verwaltungsrecht3, Wien 1987, S 25) und können daher entgegen der in der Beschwerdeschrift verfochtenen Meinung nicht als Verwaltungsakte in der Bedeutung des Art144 B-VG aufgefaßt und verstanden werden. In diesem Sinn sprach der VfGH schon in seinem Beschluß vom 7. Oktober 1958, B204,205/58, aus, daß Maßnahmen, die der Präsident des Nationalrates in Ausübung seiner Präsidialgewalt trifft, keinesfalls dem Bereich der Verwaltung zuzurechnen sind.

Daraus folgt, daß die Beschwerde als unzulässig zurückzuweisen war.

2.3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG 1953: Die vom Präsidenten des Nationalrates begehrten Verfahrenskosten waren nicht zuzusprechen, weil nach Lage des Falles die Betrauung der Finanzprokuratur mit der Vertretung zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung nicht notwendig war (vgl. auch VfGH 25.2.1988 B730/87).

2.4. Dieser Beschluß konnte gemäß §19 Abs3 Z2 lita VerfGG 1953 ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung ergehen.

Schlagworte

VfGH / Zuständigkeit, VfGH / Kosten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1988:B1355.1988

Dokumentnummer

JFT_10118872_88B01355_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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