TE Vfgh Erkenntnis 1988/12/3 B176/87

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Veröffentlicht am 03.12.1988
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Index

90 Straßenverkehrsrecht, Kraftfahrrecht
90/02 Kraftfahrgesetz 1967

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
MRK österr Vorbehalt zu Art5
MRK Art6 Abs1
MRK Art8
VfGG §88
3. KFG-Nov BGBl 352/1976 ArtIII Abs1
3. KFG-Nov BGBl 352/1976 ArtIII Abs5

Leitsatz

3. KraftfahrG-Nov., BGBl. 352/1976 idF BGBl. 253/1984; Sanktionierung der Verletzung der Gurtenanlegepflicht nach ArtIII Abs5 - verwaltungsstrafrechtliche Norm, strafrechtlicher Charakter iS des Art6 MRK; als systemkonforme Fortentwicklung vom Vorbehalt zu Art5 MRK erfaßt; dem Selbstschutz und dem Schutz Dritter dienende Maßnahme - keine unverhältnismäßige Einschränkung der Dispositionsfreiheit; zur Erreichung des im öffentlichen Interesse liegenden Zieles der Verminderung der Verkehrsunfälle mit Todes- und Verletzungsfolgen geeignet - keine Überschreitung des rechtspolitischen Gestaltungsspielraums; keine Bedenken im Hinblick auf das Gleichheitsgebot; keine gleichheitswidrige Gesetzesanwendung, kein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens iS des Art8 Abs1 MRK

Spruch

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Verfahrenskosten werden nicht zugesprochen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Landeshauptmann von Burgenland erkannte M N mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom 8. Jänner 1987 einer Verwaltungsübertretung nach ArtIII Abs1 der 3. Kraftfahrgesetz-Nov., BGBl. 352/1976 (im folgenden: 3. KFG-Novelle) idF des BG BGBl. 253/1984 schuldig, weil er einen Personenkraftwagen gelenkt hatte, wobei im Zuge einer Anhaltung nach §97 Abs5 StVO 1960 festgestellt worden war, daß er den Sicherheitsgurt nicht bestimmungsgemäß verwendet hatte, obwohl der Sitzplatz des Kraftfahrzeuges (nach kraftfahrgesetzlicher Anordnung) mit einem Sicherheitsgurt ausgerüstet war. Unter Berufung auf ArtIII Abs5 lita der 3. KFG-Nov. wurde über den Bf. eine Geldstrafe von S 200,--, im Fall der Uneinbringlichkeit eine Ersatzarreststrafe von 12 Stunden, verhängt und gemäß §64 VStG 1950 der Beitrag zu den Kosten des Strafverfahrens mit S 20,-- festgesetzt.

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde an den VfGH, in der die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz sowie die Verletzung von Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes, nämlich der vom Bf. wegen Widerspruches zu Art5 und 6 MRK als verfassungswidrig erachteten Abs1 und 5 des ArtIII der 3. KFG-Nov., geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird.

3. Der Landeshauptmann von Burgenland als bel. Beh. hat eine Gegenschrift erstattet, in der er die Abweisung der Beschwerde beantragt und einen Kostenersatz in der Höhe des für das Verfahren vor dem VwGH festgesetzten Pauschalbetrages (insgesamt S 2.760,--) begehrt.

Das Bundeskanzleramt-Verfassungsdienst hat auf Ersuchen des VfGH eine Stellungnahme abgegeben, in der es die Vereinbarkeit des ArtIII Abs1 und 5 der 3. KFG-Nov. mit dem Gleichheitssatz sowie mit Art5 und 6 MRK verteidigt.

II. Der VfGH hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Nach Ansicht des Bf. verstoßen die Abs1 und 5 des ArtIII der 3. KFG-Nov. gegen Art5 und 6 iVm Art64 MRK sowie iVm dem österreichischen Vorbehalt zu Art5 MRK. Dies kurz gefaßt - einerseits deshalb, weil der Vorbehalt Verwaltungsstrafen, die nach anderen als den darin genannten Verfahrensgesetzen (AVG, VStG, VVG, EGVG) verhängt wurden, und somit auch nach ArtIII Abs5 der 3. KFG-Nov. verhängte Strafen nicht decke; zum anderen aber auch deshalb, weil der Vorbehalt keinesfalls Verwaltungsstraftatbestände umfasse, die nach seiner Erklärung, das ist nach dem 3. September 1958, erlassen wurden, weshalb auch der erst mit 1. Juli 1984 in Kraft getretene Verwaltungsstraftatbestand des ArtIII Abs5 der 3. KFG-Nov. vom Vorbehalt nicht erfaßt und daher wegen Widerspruches zu Art5 MRK verfassungswidrig sei.

2. Nach Ansicht des VfGH ist der Bf. mit diesen Ausführungen im Ergebnis nicht im Recht.

a) Nach Art6 Abs1 der kraft ArtII Z7 des BVG BGBl. 59/1964 im Verfassungsrang stehenden, auch den Gesetzgeber bindenden (s. zB VfSlg. 8272/1978, S. 178) MRK hat unter anderem jedermann einen Anspruch darauf, daß über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklagen von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden "Tribunal" entschieden wird. Nach der neueren Rechtsprechung des VfGH muß über "strafrechtliche Anklagen" iSd Art6 Abs1 MRK ein Organ entscheiden, das als "Tribunal" im Sinn dieser Vorschrift anzusehen ist; die bloß nachprüfende Kontrolle der Entscheidung durch ein "Tribunal" - etwa auch durch den VfGH oder den VwGH - genügt den Anforderungen des Art6 Abs1 MRK nicht (vgl. zB die Erkenntnisse VfSlg. 10291/1984, 11506/1987, 11523/1987; G164-166/88

v. 1. 10. 1988); der Gesetzgeber ist demnach gehalten, schon im Bereich der Verwaltung die Entscheidung durch "Tribunale" vorzusehen.

Nach Art5 MRK dürfen Freiheitsstrafen nur durch "Tribunale", nicht aber auch durch weisungsgebundene Verwaltungsbehörden verhängt werden.

An dieser Stelle sei festgehalten, daß ArtIII Abs1 der 3. KFG-Nov. nur ein Gebot festlegt und an dessen Nichtbefolgung eine zivilrechtliche Folge knüpft, nicht aber den Tatbestand einer Verwaltungsübertretung normiert. Dies geschieht allein durch ArtIII Abs5 des genannten Gesetzes. Auf ArtIII Abs1 der 3. KFG-Nov. ist daher im folgenden nicht weiter einzugehen.

Für die Beurteilung der Frage, ob der vom Bf. behauptete Widerspruch des ArtIII Abs5 der 3. KFG-Nov. zu Art5 und 6 MRK tatsächlich vorliegt, ist zunächst entscheidend, ob ein wegen Übertretung dieser Vorschrift eingeleitetes Verwaltungsstrafverfahren als "strafrechtliche Anklage" iSd Art6 MRK anzusehen ist.

Der Begriff "strafrechtliche Anklage" bzw. die im authentischen englischen bzw. französischen Text verwendeten Begriffe "any criminal charge" und "toute accusation en matiere penale" sind nach der Rechtsprechung des EGMR (Fall Engel, EuGRZ 1976, S 221, 232; Fall Öztürk, EuGRZ 1985, S 62, 67; Fall Campbell und Fell, EuGRZ 1985, S 538), der sich der VfGH im Erkenntnis VfSlg. 11506/1987 angeschlossen hat, "autonom" im Sinne der Konvention entsprechend deren "Sinn und Zweck" zu verstehen.

Dabei kommt es nach der vom EGMR - namentlich in seiner Entscheidung im Fall Öztürk (EuGRZ 1985, S 67 f.) - entwickelten Auslegung bei der Abgrenzung des Begriffes der strafrechtlichen Anklage iSd Art6 Abs1 MRK insbesondere auf folgende Kriterien an:

Zwar ist zunächst maßgeblich, ob der die fragliche Zuwiderhandlung umschreibende Gesetzestext nach dem jeweiligen staatlichen Recht systematisch dem Strafrecht zugehört, doch ist, wenn dies nicht zutrifft, "die Art des Vergehens ebenso wie die Art und Schwere der angedrohten Sanktion zu beurteilen, und zwar unter Berücksichtigung von Ziel und Zweck des Artikels 6, des Sinnes, der dieser Bestimmung gewöhnlich zukommt sowie des Rechts der Vertragsstaaten" (EuGRZ 1985, S 67). Dabei kommt der - im Zusammenhang mit der Natur der entsprechenden Sanktion zu sehenden - Natur der Zuwiderhandlung ein erheblich größeres Gewicht zu als der Zuordnung zum Strafrecht durch das innerstaatliche Recht: Im allgemeinen fallen Tatbestände, für die Sanktionen vorgesehen sind, die abschreckend wirken sollen und in der Regel in Freiheits- oder Geldstrafen bestehen, unter das Strafrecht.

Um demnach eine Norm als eine iSd Art6 MRK strafrechtliche zu werten, reicht es aus, daß sie allgemeinen Charakter aufweist, sich also nicht etwa (wie disziplinarrechtliche Normen) lediglich an eine bestimmte Gruppe von besonderem Status, sondern beispielsweise an alle Verkehrsteilnehmer richtet, ein bestimmtes Verhalten vorschreibt und diese Forderung mit einer sowohl präventiven als auch repressiven Charakter aufweisenden Sanktion verbindet. Dies gilt selbst dann, wenn nicht nur die Zuwiderhandlung geringfügig und kaum geeignet ist, dem Ansehen des Täters zu schaden, sondern auch die Sanktion vergleichsweise geringfügig ist (im Fall Öztürk handelte es sich um eine Geldbuße von mindestens fünf und im allgemeinen höchstens 1000 Deutsche Mark). Weder die Geringfügigkeit der Zuwiderhandlung noch die vergleichsweise Geringfügigkeit der angedrohten Sanktion vermögen auszuschließen, daß es sich um eine strafrechtliche Anklage iSd Art6 MRK handelt.

Wendet man diese Kriterien bei der Beurteilung der Frage an, ob ArtIII Abs5 der 3. KFG-Nov. als eine Vorschrift anzusehen ist, der iSd Art6 MRK strafrechtlicher Charakter zukommt, so muß diese Frage bejaht werden. Denn es ist nicht zweifelhaft, daß die nach dieser Vorschrift vorgesehene Strafe sowohl präventive Zwecke verfolgt als auch die Ahndung des Unrechtsgehaltes eines bestimmten - nicht von vornherein auf Angehörige bestimmter Gruppen beschränkten - Verhaltens zum Ziel hat und diesem Verhalten gegenüber ein Unwerturteil ausdrückt. Selbst nach der im gegebenen Zusammenhang am innerstaatlichen Recht orientierten Rechtsprechung des VfGH verleihen diese Kriterien der in Rede stehenden Vorschrift den Charakter einer verwaltungsstrafrechtlichen Norm, die sie von Vorschriften betreffend Zwangsmaßnahmen anderer Art unterscheidet (vgl. zB VfSlg. 6842/1972; siehe etwa auch VfSlg. 8198/1977).

Angesichts der vom EGMR betonten Unerheblichkeit der bloß geringen Schwere der möglichen Sanktion vermag am strafrechtlichen Charakter der gegenständlichen Norm iSd Art6 Abs1 MRK auch die vergleichsweise Geringfügigkeit dieser Sanktion nichts zu ändern, die sich darin zeigt, daß die Obergrenze der Geldstrafe lediglich S 300 beträgt und der Beanstandete einen Rechtsanspruch auf Verhängung einer Organstrafverfügung mit einem Betrag von S 100 hat (siehe dazu VwGH Zl. 86/02/0118 v. 20. 11. 1986), sodaß selbst eine Geldstrafe bis zu S 300 ebenso wie eine Ersatzfreiheitsstrafe von höchstens 24 Stunden nur in Betracht kommt, wenn der Beanstandete entweder die Zahlung des Strafbetrages oder die Entgegennahme eines zur postalischen Einzahlung des Strafbetrages geeigneten Beleges verweigert.

b) Steht somit der strafrechtliche Charakter des ArtIII Abs5 der 3. KFG-Nov. fest, so hängt die Richtigkeit der Beschwerdebehauptung, daß diese Vorschrift infolge Widerspruches zu Art5 und 6 MRK verfassungswidrig sei, davon ab, ob sie durch den von Österreich zu Art5 MRK erklärten Vorbehalt gedeckt ist.

Dieser iSd Art64 MRK erklärte Vorbehalt, daß

"die Bestimmungen des Artikels 5 der Konvention mit der Maßgabe angewendet werden, daß die in den Verwaltungsverfahrensgesetzen, BGBl. Nr. 172/1950, vorgesehenen Maßnahmen des Freiheitsentzuges unter der in der österreichischen Bundesverfassung vorgesehenen nachprüfenden Kontrolle durch den VwGH oder den VfGH unberührt bleiben",

deckt nach der Rechtsprechung des VfGH die Verhängung von Arreststrafen durch weisungsgebundene Verwaltungsbehörden, und zwar ohne Rücksicht darauf, für welche Verwaltungsübertretung die Arreststrafe im einzelnen in den Verwaltungsvorschriften (§10 VStG 1950) vorgesehen ist. Vom Vorbehalt erfaßt ist aber auch die Verhängung von Geldstrafen durch Verwaltungsbehörden, gleichgültig, welche materiellen Verwaltungsvorschriften iSd §10 VStG 1950 den Tatbestand enthalten (vgl. zu all dem etwa VfSlg. 8234/1978, 10291/1984; G141-142/86 v. 16. 6. 1987; G164-166/88 v. 1. 10. 1988). Für alle diese Verfahren schließt der Vorbehalt auch die Anwendung des Art6 MRK aus (vgl. G141-142/86 v. 16. 6. 1987 und die dort zitierte Vorjudikatur, insbesondere VfSlg. 10291/1984 mwH; siehe auch EKMR Entscheidung v. 3. 3. 1983, Beschwerde Nr. 8998/80, EuGRZ 1984, S. 74 ff.).

Der Vorbehalt umfaßt seinem Sinn nach auch jene Gesetze, die zwar nach Erklärung des Vorbehaltes - das war am 3. September 1958 - erlassen worden sind, die aber keine nachträgliche Erweiterung jenes materiell-rechtlichen Bereiches bewirken, der durch die Erklärung des Vorbehaltes ausgeschlossen werden sollte (so etwa VfSlg. 8234/1978, 8428/1978, 10291/1984, 11369/1987, 11371/1987, 11523/1987; G164-166/88 v. 1. 10. 1988; im gleichen Sinn auch EKMR Entscheidung v. 14. 12. 1970, Beschwerde Nr. 3923/69). Vom Vorbehalt sind daher Gesetze auch dann gedeckt, wenn gleichartige Straftatbestände bereits in Verwaltungsvorschriften enthalten waren, die vor dem 3. September 1958 erlassen wurden (siehe etwa VfSlg. 11369/1987).

Der Vorbehalt umfaßt nach dem 3. September 1958 erlassene Verwaltungsstrafvorschriften ferner auch dann, wenn nach der Rechtslage in jenem Zeitpunkt eine entsprechende Verwaltungsstrafvorschrift zwar nicht bestanden hat, die neue Verwaltungsstrafvorschrift aber eine systemimmanente Fortentwicklung von damals in Geltung gestandenen Verwaltungsvorschriften darstellt (VfSlg. 11369/1987; in diesem Sinn auch VwGH Zl. 86/02/0183 v. 26. 3. 1987 unter Berufung auf Adamovich-Funk, Österreichisches Verfassungsrecht3, S 402).

Nun fand sich zwar im Kraftfahrgesetz 1955, BGBl. 223, das am 3. September 1958 idF der Kraftfahrgesetz-Nov. 1958, BGBl. 49, in Geltung stand, keine dem ArtIII Abs5 der 3. KFG-Nov. entsprechende Verwaltungsstrafbestimmung. Bereits das Kraftfahrgesetz 1955 (KFG 1955) und die in seiner Durchführung erlassene Kraftfahrverordnung 1955 (KFV 1955) enthielten jedoch die Einrichtung und Ausrüstung von Kraftfahrzeugen betreffende Vorschriften, die, wenngleich nicht ausschließlich, so doch jedenfalls auch dem Schutz von Leben, Gesundheit und Sicherheit des Lenkers und der mitfahrenden Personen dienten, wobei Zuwiderhandlungen gegen diese Vorschriften als Verwaltungsübertretungen mit Strafe bedroht waren. Zu diesen Vorschriften gehörte etwa §11 KFG 1955, dem zufolge für Windschutzscheiben, Außenfenster, Klarsichtscheiben und Innenverglasungen bei Kraftfahrzeugen nur ein Stoff verwendet werden durfte, der bei Bruch keine scharfen Splitter bildet; ferner die insbesondere auf der Ermächtigung des - den jeweiligen Stand der Technik für maßgeblich erklärenden - §11 Abs2 KFG 1955 beruhende Vorschrift des §7 Abs1 KFV 1955, wonach der für Windschutzscheiben, Außenfenster, Klarsichtscheiben und Innenverglasungen von Kraftfahrzeugen verwendete Stoff bei Bruch in Stücke zerfallen muß, die keine ernsten Verletzungen erwarten lassen. Das KFG 1955 enthielt auch bereits Vorschriften, die die Handhabung bestimmter, für Kraftfahrzeuge vorgeschriebener Vorrichtungen jedenfalls auch im Interesse des Schutzes von Leben, Gesundheit und Sicherheit des Lenkers und der mitfahrenden Personen betrafen (vgl. etwa §85 Abs2 zweiter Satz, wonach der Lenker während der Fahrt die Lenkvorrichtung nicht loslassen darf). Zuwiderhandlungen auch gegen derartige Schutzvorschriften waren durch §111 KFG 1955 zu Verwaltungsübertretungen erklärt und mit Strafe bedroht.

So gesehen, handelt es sich - da die verwaltungsstrafrechtliche Sanktionierung der Verletzung der Gurtenanlegepflicht - wie unter 4.b ausgeführt - jedenfalls nicht ausschließlich dem Selbstschutz dient und insofern daher nicht mit Recht von einer "qualitativen Neuartigkeit" des Tatbestandes gesprochen werden kann (so aber 314 BlgNR XVI. GP, S 2) - bei der Normierung dieses Verwaltungsstraftatbestandes um eine Regelung, die noch als systemkonforme Fortentwicklung der am 3. September 1958 in Geltung gewesenen Regelungen gelten kann.

Die Strafbestimmung des ArtIII Abs5 der

3. KFG-Nov. ist infolgedessen vom österreichischen Vorbehalt zu Art5 MRK erfaßt.

Aus dem Dargelegten ergibt sich, daß ArtIII Abs5 der

3. KFG-Nov. nicht wegen Widerspruches zu Art5 und 6 MRK verfassungswidrig ist.

3. Nach Ansicht des Bf. stehen die von der bel. Beh. angewendeten Bestimmungen des ArtIII Abs(1 und) 5 der

3. KFG-Nov. (idF des BG BGBl. 253/1984) auch im Widerspruch zu dem - auch den Gesetzgeber bindenden - Gleichheitssatz. Der Bf. bringt in diesem Zusammenhang der Sache nach vor, es könne, da der österreichischen Rechtsordnung (sogar) die Bestrafung vorsätzlicher oder fahrlässiger Selbstbeschädigung (sofern nicht durch vorsätzliche Selbstbeschädigung in konkrete allgemeine Interessen eingegriffen werde) fremd sei, auch die lediglich potentielle Selbstgefährdung durch Nichtanlegen des Sicherheitsgurtes nicht mit Strafe bedroht werden, ohne mit dem Gleichheitssatz in Widerspruch zu geraten. Die durch den Gleichheitssatz gebotene gleichartige Regelung gleichartiger Fälle durch den Gesetzgeber lasse es nicht zu, die Selbstgefährdung durch Nichtanlegen des Sicherheitsgurtes gesetzlich - durch verwaltungsstrafrechtliche Sanktionierung anders zu behandeln als sonstige Fälle von Selbstgefährdung (und sogar Selbstbeschädigung).

4. Der VfGH vermag dem Standpunkt des Bf. auch in dieser Hinsicht nicht beizupflichten.

a) Der Gleichheitsgrundsatz richtet sich auch an den Gesetzgeber; er setzt ihm insofern Schranken, als er ihm verbietet, Differenzierungen vorzunehmen, die sachlich nicht gerechtfertigt sind (vgl. zB VfSlg. 8457/1978, 10064/1984, 10084/1984).

Nachdem der Gesetzgeber mit der durch die 2. KFG-Nov., BGBl. 286/1974, vorgenommenen Neufassung des §4 Abs5 des Kraftfahrgesetzes 1967 - von Ausnahmen abgesehen - die Ausrüstung von PKW, Kombinationskraftwagen und LKW mit Sicherheitsgurten vorgeschrieben hatte, ohne zunächst die Pflicht zu deren Benützung zu statuieren, führte er durch die (zufolge ihres ArtIV) mit 15. Juli 1976 in Kraft getretene 3. KFG-Nov., BGBl. 352/1976, die Gurtenanlegepflicht ein, wobei er an die Verletzung dieser Pflicht (zunächst bloß) eine zivilrechtliche Sanktion knüpfte. Nach ArtIII Abs1 erster Satz der 3. KFG-Nov. sind dann, wenn ein Sitzplatz eines Kraftfahrzeuges nach kraftfahrgesetzlicher Anordnung mit einem Sicherheitsgurt ausgerüstet ist, Lenker und beförderte Personen, die einen solchen Sitzplatz benützen, je für sich zum bestimmungsgemäßen Gebrauch des Sicherheitsgurtes verpflichtet. Die Verletzung dieser Pflicht begründet, jedoch nur soweit es sich um einen allfälligen Schmerzengeldanspruch handelt, im Fall der Tötung oder Verletzung des Benützers durch einen Unfall ein Mitverschulden an diesen Folgen im Sinn des §1304 ABGB.

Der Gesetzgeber hielt es für erforderlich, mit dieser Regelung, wie in den Erläuterungen zur RV betreffend die

3. KFG-Nov. (57 BlgNR XIV. GP, S 50 f.) dargelegt ist, nach der Schaffung der Voraussetzungen für die Verwendung von Sicherheitsgurten durch die 2. KFG-Nov. angesichts der seither gewonnenen Erkenntnisse über die Bedeutung des Sicherheitsgurtes bei Verkehrsunfällen einen weiteren Schritt zu setzen, um den Gebrauch der Sicherheitsgurten zu bewirken. Die sachliche Rechtfertigung dafür sah er in der seiner Meinung nach durch eingehende technische und medizinische Untersuchungen gewonnenen Erkenntnis, daß in der überwiegenden Anzahl von Kraftfahrzeugunfällen die Verletzungsfolgen bei Verwendung von Sicherheitsgurten milder gewesen wären und daß diese Folgen dank der Verwendung von Sicherheitsgurten glimpflicher ausgefallen oder nicht eingetreten sind. Die normierte zivilrechtliche Folge des Mitverschuldens (vgl. dazu auch den Bericht und Antrag des Verkehrsausschusses 295 BlgNR XIV. GP) - mit der die Hoffnung verbunden wurde, daß sie genügen würde, "um die erforderliche Motivationskraft zu entfalten, sich der Sicherheitsgurte zu bedienen" - wird in den erwähnten Erläuterungen insbesondere mit der Erwägung gerechtfertigt, daß "die zahllosen Kraftfahrzeugunfälle mit schweren und schwersten Verletzungsfolgen zu einer dringenden Angelegenheit der Volksgesundheit und der Volkswirtschaft geworden sind und daher die Frage des Gurtengebrauchs die Allgemeinheit in erheblichem Maße angeht".

In der Folge wurde durch ArtI Z2 der mit 1. Juli 1984 (ArtIV Abs1) in Kraft getretenen

11. Straßenverkehrsordnungsnovelle, BGBl. 253/1984, (näherhin durch den dem ArtIII der 3. KFG-Nov. angefügten neuen Abs5) die Verletzung der (bereits bestehenden) Gurtenanlegepflicht zum Tatbestand einer mit Geld- bzw. Ersatzfreiheitsstrafe bedrohten Verwaltungsübertretung.

b) Nach dem Bericht des Verkehrsausschusses (314 BlgNR XVI. GP) stellt die Strafbarkeit der Verletzung der Gurtenanlegepflicht eine Weiterentwicklung der bestehenden, bloß zivilrechtlich abgesicherten Verpflichtung dar. Sie wurde offensichtlich deshalb für notwendig erachtet, weil sich die Hoffnung des Gesetzgebers, die bloß zivilrechtliche Sanktionierung der Gurtenanlegepflicht werde in ausreichendem Maße die bestimmungsgemäße Benützung des Sicherheitsgurtes bewirken, nicht erfüllt hatte (vgl. dazu etwa Apathy, Zivilrechtliche Folgen der Nichtverwendung von Sicherheitsgurten, JBl. 1985, S 641 ff., hier S 643).

Als hauptsächlicher Zweck der verwaltungsstrafrechtlichen Sanktionierung der Gurtenanlegepflicht ist im Bericht des Verkehrsausschusses (314 BlgNR XVI. GP, S 1 f.) der Selbstschutz angegeben. An anderer Stelle des Ausschußberichtes (S 2) wird zwar die vorgesehene Strafsanktion als "allein durch den Zweck des Selbstschutzes ... motiviert" bezeichnet, doch wird auch "der Schutz anderer Personen, wie er etwa in dem durch die Sicherheitsgurten bewirkten gegenseitigen Schutz der Fahrzeuginsassen vor dem Aufeinanderprallen bei Zusammenstößen besteht" (Hervorhebung nicht im Original) - wenn auch als gegenüber dem Selbstschutz in den Hintergrund tretend ausdrücklich erwähnt.

Auch in der Debatte im Nationalrat wurde ausgeführt, daß das Gesetz nicht nur dem Selbstschutz, sondern auch dem Schutz Dritter diene (StenProtNR XVI. GP 49. Sitzung, S 4076); überdies wurde die volkswirtschaftliche Seite des Problems und die Belastung der Allgemeinheit mit Unfallkosten zur Sprache gebracht (StenProtNR XVI. GP 49. Sitzung, S 4078). Bereits bei der Einführung der (damals bloß zivilrechtlich sanktionierten) Gurtenanlegepflicht waren, wie erwähnt, in den Erläuterungen zur Regierungsvorlage (57 BlgNR XIV. GP, S 51) die "zahllosen Kraftfahrzeugunfälle mit schweren und schwersten Verletzungsfolgen" als eine dringende Angelegenheit der Volksgesundheit und der Volkswirtschaft und die Frage des Gurtengebrauches daher als eine die Allgemeinheit in erheblichem Maße angehende bezeichnet worden.

Dies läßt erkennen, daß der Gesetzgeber (worauf auch Apathy, aaO, S 642, hinweist) bei der verwaltungsstrafrechtlichen Sanktionierung der Gurtenanlegepflicht nicht allein das Ziel des Selbstschutzes, sondern überdies auch den Schutz Dritter sowie die - im öffentlichen Interesse liegende - Verringerung der Folgekosten von Verkehrsunfällen mit Todes- oder Verletzungsfolgen im Auge hatte.

Es ist nicht ernstlich zu bezweifeln, daß die in Rede stehende gesetzgeberische Maßnahme nicht bloß nach der aus den Gesetzesmaterialien erkennbaren Intention des Gesetzgebers, sondern auch tatsächlich außer dem Selbstschutz zugleich dem Schutz Dritter dient, zumal wenn darunter außer dem Schutz von Leben, Gesundheit und Sicherheit auch die Bewahrung vor sonstigen Nachteilen verstanden wird. In diesem Sinn ist unter anderem an den Schutz der durch die (unfallbedingte) Tötung oder Verletzung eines Menschen mittelbar Betroffenen zu denken, etwa seiner Angehörigen, aber zB auch der für unfallbedingte Personenschäden Haftenden.

Die Annahme des Bf., die verwaltungsstrafrechtliche Sanktionierung der Gurtenanlegepflicht diene allein dem Selbstschutz, erweist sich somit als unzutreffend.

Aus diesem Grund kann die Frage, ob der Gesetzgeber Zwangsmaßnahmen (allein) zum Schutz von Leben, Gesundheit und Sicherheit der eigenen Person überhaupt zu treffen befugt ist, auf sich beruhen (vgl. in diesem Zusammenhang etwa das Erkenntnis VfSlg. 11072/1986). Es erweist sich ferner der Beschwerdevorwurf als unbegründet, der Gesetzgeber habe mit der gegenständlichen Regelung, indem er die Nichteinhaltung eines ausschließlich dem Selbstschutz dienenden Gebotes zum Tatbestand einer mit Geldbzw. mit Ersatzfreiheitsstrafe bedrohten Verwaltungsübertretung erklärte, eine sachlich nicht gerechtfertigte Differenzierung insofern vorgenommen, als sonst ein lediglich eine (vorsätzliche oder fahrlässige) Selbstgefährdung oder Selbstbeschädigung darstellendes Verhalten zumindest in der Regel nicht strafrechtlich sanktioniert sei.

c) ArtIII Abs5 der 3. KFG-Nov. steht aber auch nicht aus anderen Gründen mit dem Gleichheitssatz in Widerspruch. Die aufgezeigten Ziele, deren Verwirklichung diese Vorschrift dient, sind - auch angesichts der Häufigkeit der zu bekämpfenden Gefahren - an sich nicht unsachlich. Sie vermögen diese Regelung ungeachtet des Umstandes zu rechtfertigen, daß der Gesetzgeber bestimmte andere mit Gefahren verbundene Tätigkeiten, wie etwa die Ausübung gefährlicher Sportarten, weder verboten noch besonders beschränkt hat. Die mit der gegenständlichen Regelung normierte, dem Schutz vor bestimmten, für den Straßenverkehr typischen Gefahren dienende Verpflichtung trifft nur Personen, die sich diesen Gefahren durch eine bestimmte Form der Teilnahme am Straßenverkehr aussetzen. Deren Dispositionsfreiheit (Entscheidung für eine bestimmte Form der Teilnahme am Straßenverkehr) wird durch diese Verpflichtung weder beseitigt noch inhaltlich (zB auf bestimmte Zeiträume) beschränkt; die Verpflichtung bezieht sich vielmehr nur auf eine Modalität der Ausübung dieser Dispositionsfreiheit. Sie belastet ihrer Art und Intensität nach den Verpflichteten nur in einem an sich geringen, die Grenzen des Zumutbaren keineswegs überschreitenden Ausmaß. Angesichts all dessen kann sie nicht als unverhältnismäßig angesehen werden.

Daß der Gesetzgeber die Regelung vertretbarerweise als zur Erreichung der angestrebten Ziele geeignet ansehen konnte, wird nach dem derzeitigen Erkenntnisstand durch die Ergebnisse der vom Bundeskanzleramt-Verfassungsdienst vorgelegten, vom Bundesministerium für öffentliche Wirtschaft und Verkehr herausgegebenen Studie von Hanreich/Käfer/Reicher, Gurt- und Helmpflicht. Sicherheitstechnische Analyse (Forschungsarbeiten aus dem Verkehrswesen, Bd. 12, Wien 1987) gestützt. Wie darin näher dargestellt, war nach der Einführung der Strafsanktion für die Verletzung der Gurtenanlegepflicht ein erhebliches Ansteigen der Sicherheitsgurt-Anlegequote und unter anderem insgesamt eine Verminderung der durch Straßenverkehrsunfälle bewirkten Todesfälle und Verletzungsfolgen festzustellen.

Somit ergibt sich, daß der Gesetzgeber bei der Erlassung der in Rede stehenden Regelung im Rahmen des ihm durch den Gleichheitssatz offen gelassenen rechtspolitischen Gestaltungsspielraumes gehandelt hat.

d) Der VfGH ist aus den angeführten Gründen der Auffassung, daß aus der Sicht des vorliegenden Beschwerdefalles die gegenständliche Regelung nicht wegen Verstoßes gegen das Gleichheitsgebot verfassungswidrig ist.

5. Der VfGH teilt daher die vom Bf. vorgebrachten Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der angewendeten Strafbestimmung des ArtIII Abs5 der 3. KFG-Nov. nicht. Da er unter dem Blickwinkel des vorliegenden Beschwerdefalles auch sonst gegen diese Rechtsvorschrift keine verfassungsrechtlichen Bedenken hat (siehe dazu auch unter 7.), sieht er sich zur angeregten Einleitung eines Gesetzesprüfungsverfahrens nicht veranlaßt.

6. Unter diesen Umständen würde der angefochtene Bescheid das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz nur verletzen, wenn die Behörde bei seiner Erlassung der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt oder Willkür geübt hätte (vgl. etwa VfSlg. 10413/1985). Derartiges hat weder der Bf. behauptet noch ist dies sonst im Verfahren hervorgekommen.

7. Die behauptete Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Gleichheitsrechtes sowie die behauptete Verletzung von Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes hat somit nicht stattgefunden.

Das Verfahren hat auch nicht ergeben, daß der Bf. in einem von ihm nicht geltend gemachten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt worden wäre. Es sei hier nur auf die Entscheidung der EKMR (v. 13. 12. 1979, Beschwerde Nr. 8707/79, EuGRZ 1980, S 170) verwiesen, in der diese Behörde in bezug auf die Frage, ob die Gurtenanlegepflicht in das Recht auf Achtung des Privatlebens im Sinne des Art8 Abs1 MRK eingreift, im Anschluß an die Betonung der Notwendigkeit behördlicher Maßnahmen, "die im öffentlichen Interesse zum Schutz des Einzelnen oder der Gesellschaft angeordnet werden", unter anderem ausgeführt hat: "Die Pflicht zum Anlegen von Sicherheitsgurten für die Fahrer und Mitfahrer von Kraftfahrzeugen, deren Wirksamkeit durch zahlreiche Statistiken überzeugend nachgewiesen ist, gehört zu den Maßnahmen dieser Art. Nach Ansicht der Kommission greifen sie in keiner Weise in das 'Privatleben' ein, eine wie weite Auslegung auch immer man diesem Begriff beilegen mag."

Die Beschwerde war daher abzuweisen.

8. Verfahrenskosten waren nicht zuzusprechen, weil der von der bel. Beh. begehrte Ersatz des Aufwandes für die Vorlage der Verwaltungsakten und für die Erstattung der Gegenschrift in Beschwerdeverfahren vor dem VfGH nicht vorgesehen ist (vgl. VfSlg. 10011/1984) und eine sinngemäße Anwendung der für das Verfahren vor dem VwGH geltenden Kostenbestimmungen nicht in Betracht kommt (VfSlg. 7315/1974, 9488/1982).

9. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne mündliche Verhandlung getroffen werden.

Schlagworte

Kraftfahrrecht, VfGH / Kosten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1988:B176.1987

Dokumentnummer

JFT_10118797_87B00176_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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