Index
95 TechnikNorm
MRK Art10Leitsatz
Standesrechtlich vorgesehene Disziplinarmaßnahmen für bestimmte Meinungsäußerungen verfassungsrechtlich unbedenklich; unverhältnismäßiger Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit des Beschwerdeführers durch die Bewertung sachlicher, in gebotener Form vorgetragener Kritik an der Tätigkeit von Kollegen als Verstoß gegen StandesregelnSpruch
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Die Ingenieurkammer für Wien, Niederösterreich und Burgenland ist schuldig, dem Beschwerdeführer die mit S 27.738,-- bestimmten Kosten zu Handen seines Vertreters binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. Mit Disziplinarerkenntnis vom 11.12.1986, Z176/86, verhängte der Disziplinarsenat der Ingenieurkammer für Wien, Niederösterreich und Burgenland, Sektion Ingenieurkonsulenten, über den Beschwerdeführer die Disziplinarstrafe des schriftlichen Verweises gemäß §49 Abs1 Z1 Ingenieurkammergesetz, BGBl. 71/1969. Der Beschwerdeführer wurde für schuldig befunden,
"1. durch die im Schreiben an den Vorsteher des Bezirksgerichtes Bad Ischl vom 14.3.1985 enthaltenen Äußerungen,
a) 'es ist m.E. nicht möglich, mit Rechenkunststücken (konvergierende Reihe) nachzuweisen, wie der gesunde Grundstücksverkehr den Verlust dieser eigentumsmäßigen, geschützten Rechtsposition bewertet'; und b) 'Verständlich, daß im administrativen Verfahren nur Sachverständige (hier ein Zivilingenieur für Forst- und Holzwirtschaft) beigezogen werden, welche im 'Husch-Pfusch-Verfahren' die Entschädigung deutlich restriktiv ausmessen und wesentliche Entschädigungspositionen geflissentlich übersehen';
2. durch das an den Präsidenten des Landesgerichtes Klagenfurt gerichtete Ersuchen, das unter 1. genannte Schreiben zur Kenntnis zu nehmen, und um 'allfällige Beurteilung der Qualifikation des allgemein beeideten gerichtlichen Sachverständigen, Dipl.Ing. Dr. H M';
3. durch das an den Präsidenten des Landesgerichtes Klagenfurt gerichtete Ersuchen, seine im Schreiben an das Bezirksgericht Feldkirchen vom 4.1.1986 gemachten Ausführungen zur Kenntnis zu nehmen und um 'allfällige Beurteilung der Qualifikation in Enteignungssachen der allgemein beeideten gerichtlichen Sachverständigen Dipl.Ing. H G und Architekt Dipl.Ing. F L';
gegenüber anderen Ziviltechnikern die Grundsätze der Kollegialität nicht beachtet und unsachliche und herabsetzende Kritik an anderen Ziviltechnikern und deren Leistungen geübt zu haben."
Wegen des Verstoßes gegen die Punkte 4.1 und 4.2 der Standesregeln der Ziviltechniker und damit wegen des Disziplinarvergehens nach §48 Abs1 Z1 und 2 Ingenieurkammergesetz wurde über den Beschwerdeführer gemäß §49 Abs1 Z1 Ingenieurkammergesetz die Disziplinarstrafe des schriftlichen Verweises verhängt.
2. Mit dem nunmehr vor dem Verfassungsgerichtshof angefochtenen Berufungserkenntnis vom 15.6.1987, Z BKD. 475/87/kr/n, gab die Berufungskommission in Disziplinarangelegenheiten bei der Bundes-Ingenieurkammer der Berufung des Beschwerdeführers keine Folge. Sie vertrat die Meinung,
"daß die Qualifizierung als 'Husch-Pfusch-Verfahren' und die Behauptung des geflissentlichen Übersehens von Entschädigungspositionen eine unsachliche und herabsetzende Kritik darstellt, weil den in den Entschädigungsverfahren beigezogenen Sachverständigen pflichtwidriges Verhalten vorgeworfen wird."
Die Schreiben an die Vorsteher der Bezirksgerichte Bad Ischl und Feldkirchen zur Beurteilung der Qualifikation einzelner Standeskollegen als Sachverständige und die Übermittlung von Kopien an den Präsidenten des Landesgerichtes Klagenfurt stellen nach Meinung der Berufungskommission
"einen Verstoß gegen die Kollegialität gegenüber anderen Ziviltechnikern dar, weil dadurch bewirkt werden konnte, daß diese namentlich genannten und kritisierten Ziviltechniker nicht mehr als Sachverständige beigezogen werden und damit beruflichen Nachteil erleiden."
Die Berufungskommission ist vielmehr der Meinung, daß der Beschwerdeführer "den Sachverhalt, der seine Meinung stützen soll, seiner zuständigen Kammer zur Veranlassung (hätte) mitteilen können."
3. In seiner gegen das Berufungserkenntnis gemäß Art144 Abs1 B-VG erhobenen Beschwerde erachtet sich der Beschwerdeführer in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten nach Art6 und 10 MRK als verletzt und beantragt die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides.
Zur Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Freiheit der Meinungsäußerung gemäß Art10 MRK verweist der Beschwerdeführer vor allem darauf, daß der durch die Disziplinarstrafe bewirkte Eingriff in seine Meinungsäußerungsfreiheit nicht "notwendig" im Sinne des Art10 MRK sei. Im Fall Lingens habe der EGMR ausdrücklich ausgesprochen, "daß die Freiheit der Meinungsäußerung nicht nur für angenehme Nachrichten gelte, sondern auch für Ideen, die provozieren, schockieren oder stören" (EuGRZ 1986, 424 ff., Ziff. 41). Der Beschwerdeführer wendet sich insbesondere dagegen, daß die Weitergabe einer sei es auch in der Sache kritischen Information an eine Gerichtsperson mit der Begründung disziplinär geahndet werde, er hätte diesen Sachverhalt seiner zuständigen Kammer zur Veranlassung mitteilen können.
4. In ihrer Gegenschrift beantragt die belangte Behörde, der Beschwerde keine Folge zu geben. Zur behaupteten Verletzung des Rechtes auf Freiheit der Meinungsäußerung führt die belangte Behörde in ihrer Gegenschrift insbesondere aus, daß ein Vergleich mit den Journalisten gewährten Freiheiten der Meinungsäußerung fehlgehe, "weil sich der Beschwerdeführer freiwillig verpflichtet hat, die Standesregeln der Ziviltechniker zu beachten." Im übrigen wird dargelegt, daß es dem Beschwerdeführer "möglich gewesen wäre, die behaupteten Mängel aufzuzeigen und Abhilfe zu veranlassen".
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1. Mit Beschluß vom 17. März 1988 hat der Verfassungsgerichtshof gemäß Art140 Abs1 B-VG von Amts wegen das Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der §§40 Abs5 und 51 des Ingenieurkammergesetzes eingeleitet.
Mit Erkenntnis vom 12.12.1988, G108, 109, 133, 134/88, hat der Verfassungsgerichtshof die Worte "- oder Ruhe" in §51 Abs2 Ingenieurkammergesetz als verfassungswidrig aufgehoben. Der ebenfalls in Prüfung gezogene §40 Abs5 Ingenieurkammergesetz wurde nicht als verfassungswidrig aufgehoben. Im übrigen wurden die Gesetzesprüfungsverfahren eingestellt.
2. §51 Abs2 erster Satz Ingenieurkammergesetz hat nach Aufhebung der Wendung "- oder Ruhe" nunmehr folgenden Wortlaut:
"Die Berufungskommission besteht aus einem Vorsitzenden, dessen Stellvertreter, die beide Richter des Aktivstandes sein müssen, und aus 15 Beisitzern ..."
Die belangte Behörde war bei Erlassung des angefochtenen Bescheides jedenfalls dem Gesetz entsprechend zusammengesetzt, da die Entscheidung der Berufungskommission unter dem Vorsitz eines aktiven Richters (des Senatspräsidenten des Oberlandesgerichtes Wien Dr. W O) erging. Der Beschwerdeführer ist daher nicht im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.
3. Der Beschwerdeführer erachtet sich durch seine disziplinäre Bestrafung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung gemäß Art13 StGG und Art10 MRK für verletzt. Er ist mit dieser Behauptung im Recht.
a. Gemäß Art13 Abs1 StGG hat jedermann das Recht, durch Wort, Schrift, Druck oder bildliche Darstellung seine Meinung innerhalb der gesetzlichen Schranken frei zu äußern. Das Recht der freien Meinungsäußerung ist zwar nur innerhalb der gesetzlichen Schranken gewährleistet, doch darf auch ein solches Gesetz keinen Inhalt haben, der den Wesensgehalt des Grundrechtes einschränkt (vgl. VfSlg. 6166/1970). Eine nähere Bestimmung dieses Wesensgehaltes findet sich nunmehr in Art10 MRK. Diese Bestimmung bekräftigt den Anspruch auf freie Meinungsäußerung und stellt klar, daß dieses Recht die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen einschließt, sieht aber im Hinblick darauf, daß die Ausübung dieser Freiheit Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, die Möglichkeit von Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen vor, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung von vertraulichen Nachrichten oder zur Gewährleistung des Ansehens und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung notwendig sind (VfSlg. 10700/1985).
Ein verfassungsrechtlich zulässiger Eingriff in die Freiheit
der Meinungsäußerung muß sohin, wie auch der EGMR ausgesprochen hat
(Fall Sunday Times v. 26.4.1979 = EuGRZ 1979, 390; Fall Barthold
v. 25.3.1985 = EuGRZ 1985, 173),
(1) gesetzlich vorgesehen sein,
(2) einen oder mehrere der in Art10 Abs2 MRK genannten rechtfertigenden Zwecke verfolgen, und
(3) zur Erreichung dieses Zwecks oder dieser Zwecke "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig" sein.
b. Die Disziplinarstrafe des Beschwerdeführers stützt sich nach der vom Verfassungsgerichtshof mit seinem Erkenntnis vom 12.12.1988, G108/88 u.a. bereinigten Rechtslage auf - zumindest unter dem Aspekt des vorliegenden Falles - verfassungsrechtlich unbedenkliche gesetzliche Grundlagen:
§19 Abs1 Ziviltechnikergesetz, BGBl. 146/1957, untersagt den Ziviltechnikern jede Tätigkeit, "welche mit der Ehre und Würde des Standes unvereinbar ist oder durch welche die Vertrauenswürdigkeit bei der Führung ihrer Geschäfte oder die Glaubwürdigkeit ihrer urkundlichen Ausfertigungen erschüttert werden kann." §30 Abs1 Ingenieurkammergesetz beruft die Bundeskammer, "unter Bedachtnahme auf das Ansehen und die Würde des Standes die Berufs- und Standespflichten der Ziviltechniker durch Verordnung (Standesregeln) festzulegen." Punkt 4.1. der Standesregeln verpflichtet den Ziviltechniker, "gegenüber anderen Ziviltechnikern die Grundsätze der Kollegialität zu beachten". Punkt 4.2. der Standesregeln erklärt "eine unsachliche oder herabsetzende Kritik an anderen Ziviltechnikern und deren Leistungen ... (für) unzulässig".
Gemäß §48 Abs1 Ingenieurkammergesetz machen sich Ziviltechniker eines Disziplinarvergehens schuldig, wenn sie
"1. das Ansehen oder die Würde des Standes durch ihr Verhalten, insbesondere der Öffentlichkeit, den Auftraggebern oder den Kollegen gegenüber, beeinträchtigen oder
2. die Berufs- oder Standespflichten verletzen, zu deren Einhaltung sie sich durch Ablegung des Eides (§18 Ziviltechnikergesetz) verpflichtet haben, oder zu deren Einhaltung sie nach dem Ziviltechnikergesetz oder nach anderen Vorschriften verpflichtet sind".
Als Disziplinarstrafe ist unter der Z1. "der schriftliche Verweis" in §49 Abs1 Ingenieurkammergesetz genannt.
Wird eine Meinungsäußerung nach den geschilderten Vorschriften disziplinär geahndet, so handelt es sich somit um einen "vom Gesetz vorgesehenen" Eingriff i.S. des Art10 Abs2 MRK.
c. Kein Zweifel besteht ferner, daß es durch den Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer im Sinne des Art10 Abs2 MRK gerechtfertigt ist, Meinungsäußerungen, die gegen die Grundsätze der Kollegialität verstoßen, die also insbesondere eine unsachliche Kritik an anderen Ziviltechnikern beinhalten, für unzulässig zu erklären und mit Disziplinarstrafen zu belegen.
d. In Übereinstimmung mit seiner bisherigen Judikatur zur verfassungsrechtlichen Unbedenklichkeit des Disziplinarrechtes freier Berufe (VfSlg. 3290/1957, 9160/1981, 10343/1985; VfGH v. 2.7.1987, B334/86), in der diese Frage allerdings nicht näher erörtert wurde, nimmt der Gerichtshof auch an, daß es "in einer demokratischen Gesellschaft als notwendig" angesehen werden kann, abwertende, den Grundsatz der Kollegialität verletzende und die Stellung von Berufskollegen in der Öffentlichkeit benachteiligende Meinungsäußerungen im Wege einer besonderen Standesgerichtsbarkeit zu ahnden, sofern diese Meinungsäußerungen in der Art ihrer Formulierung oder in ihrem Inhalt eine unsachliche Kritik in sich bergen. Soweit die geschilderten gesetzlichen Regelungen des Disziplinarrechtes für Ziviltechniker derartige, nach Form oder/und Inhalt bedenkliche, weil Berufskollegen unsachlich benachteiligende Äußerungen hintanzuhalten geeignet sind, besteht danach ein "dringendes soziales Bedürfnis" (EGMR, Fall Sunday Times, EuGRZ 1979, 388 f.; Fall Barthold, EuGRZ 1985, 174; VfSlg 10700/1985). Standesrechtlich vorgesehene Disziplinarmaßnahmen bei bestimmten Meinungsäußerungen sind daher zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer in einer demokratischen Gesellschaft notwendig und insoweit verfassungsrechtlich zulässig.
Angesichts der besonderen Bedeutung und Funktion der Meinungsäußerungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft, die auch der EGMR mehrfach (Fall Handyside v. 7.12.1976, EuGRZ 1977, 38, 42; Fall Barthold, a.a.O., 175; Fall Lingens v. 8.7.1986, EuGRZ 1986, 428) betonte, muß allerdings die Notwendigkeit der mit einer Bestrafung verbundenen Einschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung - gemessen an der Entscheidung des Gesetzgebers - unter Bedachtnahme auf das in Rede stehende Grundrecht im Einzelfall außer Zweifel stehen. (So bereits VfSlg. 10700/1985 zum Verhältnis von verwaltungsstrafrechtlich ahndbarer Anstandsverletzung und Art10 MRK).
e. Mögen sohin auch unter dem Blickwinkel des vorliegenden Beschwerdefalles - nach Aufhebung der unter II.1. angeführten Worte in §51 Abs2 Ingenieurkammergesetz durch den Verfassungsgerichtshof - gegen die angewendeten Rechtsgrundlagen keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen, so ist der angefochtene Bescheid, - wie dies auch der ständigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes zur denkunmöglichen Gesetzesanwendung (VfSlg. 3290/1957, 3762/1960, 5463/1967, 9160/1981 und insbesondere 10700/1985) entspricht, - trotzdem verfassungswidrig, wenn die Behörde dem Gesetz fälschlich einen verfassungswidrigen, weil die besonderen Schranken des Art10 MRK mißachtenden, Inhalt unterstellt hat. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die durch Verwaltungsakt verfügte Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit über das hinausgeht, was zur Erreichung des im Sinne des Art10 Abs2 MRK berechtigten Zweckes notwendig war (EGMR, Fall Barthold, a.a.O., 175), sohin dann, wenn der Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit "im Hinblick auf den damit verfolgten berechtigten Zweck unverhältnismäßig" war (EGMR, Fall Lingens, a.a.O., 429).
Der vom Beschwerdeführer erhobene Vorwurf der verfassungswidrigen Auslegung und Anwendung des Standes- und Disziplinarrechts der Ziviltechniker durch die belangte Behörde trifft nun im Ergebnis zu.
Gerade die unter einer besonderen öffentlichen Verantwortung tätigen Angehörigen freier Berufe, wie insbesondere die Ziviltechniker nach dem Ziviltechnikergesetz, sind in einer demokratischen Gesellschaft nicht vor Kritik geschützt. Vielmehr bildet die Möglichkeit zur sachlichen und in der gebotenen Form geäußerten Kritik ein unverzichtbares, aus der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art10 MRK erfließendes, jedermann zustehendes Recht in einem demokratischen Gemeinwesen. Eine derartige, den Umständen nach möglicherweise geradezu gebotene sachliche Kritik an der Tätigkeit und damit auch der Qualifikation eines ziviltechnischen Sachverständigen zu üben, ist jedermann verfassungsgesetzlich gewährleistet. Umsomehr muß sie aber dem Berufsgenossen eröffnet sein, weil vielfach nur dieser über das für eine tiefgreifende Kritik erforderliche Maß an Fachwissen verfügt. Weder der Grundsatz der Kollegialität, geschweige denn die Achtung "der Ehre und Würde des Standes" können daher einen Ziviltechniker (ebenso wie Angehörige anderer freier Berufe) vor einer sachlichen, in der gebotenen Form geäußerten Kritik durch einen anderen Standesangehörigen schützen. Sosehr es angesichts der Aufgaben und angesichts des besonderen Vertrauens, das Ziviltechniker in der Öffentlichkeit genießen, berechtigt ist, "eine unsachliche oder herabsetzende Kritik an anderen Ziviltechnikern und deren Leistungen" für "unzulässig" zu erklären und disziplinarstrafrechtlich zu ahnden, (wie dies durch Punkt 4.2. der Standesregeln in Verbindung mit dem Disziplinarrecht geschehen ist), sowenig dürfen "die Grundsätze der Kollegialität" nach Punkt
4.1. der Standesregeln dahin verstanden werden, daß dadurch die sachliche, in der gebotenen Form vorgetragene Kritik eines Ziviltechnikers an der Tätigkeit eines Fachkollegen verhindert würde.
Keinesfalls wäre es unter dem Aspekt des Art10 Abs2 MRK auch gerechtfertigt, die an sich zulässige Kritik an der Tätigkeit eines Fachkollegen auf ein Vorbringen vor der "zuständigen Kammer" zu beschränken, wie dies in der Begründung des angefochtenen Bescheides anklingt.
f. Der Gerichtshof tritt zwar angesichts der dargestellten Rechts- und Verfassungslage der belangten Behörde nicht entgegen, wenn sie die Verwendung des Ausdrucks "Husch-Pfusch-Verfahren" und wenn sie die Behauptung des Beschwerdeführers, Fachkollegen würden beim Erstellen von Gutachten Entschädigungspositionen geflissentlich übersehen, im gegebenen Zusammenhang als "eine unsachliche und herabsetzende Kritik" versteht; wenn sie ferner auch die Übersendung eines, diese Kritik enthaltenden Schreibens an den Vorsteher des Bezirksgerichtes Bad Ischl und an den Präsidenten des Landesgerichtes Klagenfurt als "unsachliche und herabsetzende Kritik" gemäß Punkt 4.2. der Standesregeln qualifiziert und infolgedessen die Strafbarkeit dieses Verhaltens gemäß §48 Ingenieurkammergesetz angenommen hat.
Hingegen darf das bloße Ersuchen an den Präsidenten des Landesgerichtes Klagenfurt um Kenntnisnahme eines (an das Bezirksgericht Feldkirchen adressierten) Schreibens, in dem sich der Beschwerdeführer in sachlicher und eingehender Weise mit der Sachverständigentätigkeit von Berufskollegen auseinandersetzt, ebenso wie die in diesem Zusammenhang ausgesprochene Aufforderung zur allfälligen Beurteilung der Qualifikation bestimmter Sachverständiger verfassungskonform nicht als Verstoß gegen Standesregeln verstanden werden.
Es bildet einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit des Beschwerdeführers, die Übermittlung eines Schreibens an Gerichte, in dem dieser in sachlicher Weise gegen eine konkrete Gutachtertätigkeit von Kollegen Argumente vorbringt, als Verletzung des Grundsatzes der Kollegialität und damit einer Standespflicht zu bewerten. Eine verfassungskonforme Auslegung des §30 Ingenieurkammergesetz in Verbindung mit Punkt
4.1. der Standesregeln führt zum Ergebnis, daß sich der Beschwerdeführer durch sein ihm im angefochtenen Bescheid unter Z3. zur Last gelegten Verhalten keines Disziplinarvergehens nach §48 Abs1 Ingenieurkammergesetz schuldig gemacht hat.
Dadurch, daß die belangte Behörde den genannten Rechtsvorschriften einen dem Art10 Abs2 MRK widersprechenden und daher verfassungswidrigen Inhalt unterstellte, hat sie den Beschwerdeführer im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung verletzt. Der angefochtene Bescheid war daher aufzuheben.
III. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG 1953. Im zugesprochenen Betrag sind S 2.000,-- an Umsatzsteuer enthalten.
Die Verpflichtung der Ingenieurkammer für Wien, Niederösterreich und Burgenland zum Ersatz der Prozeßkosten gründet auf §67 Ingenieurkammergesetz.
Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 abgesehen.
Schlagworte
Meinungsäußerungsfreiheit, Disziplinarrecht Ziviltechniker, Berufe freie, ZiviltechnikerEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1989:B847.1987Dokumentnummer
JFT_10109697_87B00847_00