Index
10 VerfassungsrechtNorm
B-VG Art26 Abs1Leitsatz
Nichteintragung in das Wählerverzeichnis; Entscheidung vor Ablauf der Frist für das zwingend eingeräumte Recht auf Gehör; grob mangelhaftes und ergänzungsbedürftiges Ermittlungsverfahren zur maßgebenden Frage des ordentlichen Wohnsitzes; Verletzung im Recht auf Teilnahme an der LandtagswahlSpruch
Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Teilnahme an der Landtagswahl verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Das Land Niederösterreich ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen des Beschwerdevertreters die mit 11.000 S bestimmten Verfahrenskosten binnen vierzehn Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1.1. R T begehrte am 18. September 1988 mit Einspruch bei der Gemeindewahlbehörde Wiener Neudorf, politischer Bezirk Mödling, die Streichung des P R aus dem dort aufliegenden Wählerverzeichnis für die Landtagswahl 1988 gemäß §30 Abs1 NÖ Landtagswahlordnung 1974, LGBl. 0300-3, und zwar in der Hauptsache mit der Begründung, daß der Eingetragene im Juni 1988 in eine andere Gemeinde (Gießhübl) verzogen sei.
1.1.2. Die Gemeindewahlbehörde Wiener Neudorf wies diesen Einspruch mit Bescheid vom 22. September 1988 ab und begründete ihre Entscheidung wörtlich wie folgt:
"Ordentlicher Wohnsitz ist Wiener Neudorf. In Gießhübl laut Auskunft Gemeindeamt Gießhübl nicht gemeldet."
1.2.1. R T brachte gegen die Entscheidung der Gemeindewahlbehörde am 29. September 1988 fristgerecht das Rechtsmittel der Berufung ein.
1.2.2.1. Die Bezirkswahlbehörde Mödling gab dieser Berufung mit Bescheid vom 30. September 1988, Z2-A/88, Folge und ordnete an, daß P R in das Wählerverzeichnis der Gemeinde Wiener Neudorf nicht aufzunehmen sei.
1.2.2.2. Begründend wurde ausgeführt:
"Sie (P R) hatten in der Gemeinde Wiener Neudorf am Stichtag (19. August 1988) keinen ordentlichen Wohnsitz und sind daher gemäß §20 Abs1 NÖ Landtagswahlordnung 1974 nicht wahlberechtigt.
Die Entscheidung der Bezirkswahlbehörde Mödling gründet sich auf das Ergebnis der von Behördenorganen durchgeführten örtlichen Erhebungen."
1.3.1. Gegen diesen Berufungsbescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 (Abs1) B-VG gestützte Beschwerde des P R an den Verfassungsgerichtshof, in der insbesondere die Verletzung des durch Art95 iVm Art26 B-VG gewährleisteten Rechts auf Teilnahme an der Landtagswahl im Bundesland Niederösterreich behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird; hilfsweise wurde die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof beantragt.
1.3.2. Die Bezirkswahlbehörde Mödling als belangte Behörde erstattete eine Gegenschrift und trat darin für die Abweisung der Beschwerde ein.
1.4.1. Die mit "Wahlrecht" überschriebene Bestimmung des §20 Abs1 NÖ Landtagswahlordnung 1974 (LWO), LGBl. 0300-3, lautet folgendermaßen:
"Wahlberechtigt ist jeder österreichische Staatsbürger, der spätestens im Jahr der Wahl das 19. Lebensjahr vollendet, vom Wahlrecht nicht ausgeschlossen ist und in einer Gemeinde des Landes Niederösterreich seinen ordentlichen Wohnsitz hat."
1.4.2. §25 Abs1 Satz 1 LWO bestimmt:
"Die Wahlberechtigten sind in Wählerverzeichnisse einzutragen."
1.4.3. §26 Abs2 LWO hat folgenden Wortlaut:
"Der ordentliche Wohnsitz einer Person ist an jenem Ort begründet, welchen sie zu einem Mittelpunkt ihrer wirtschaftlichen, beruflichen oder gesellschaftlichen Betätigung zu gestalten die Absicht hatte. Dies bedeutet allerdings nicht, daß die Absicht dahin gehen muß, an dem gewählten Ort für immer zu bleiben; es genügt, daß der Ort nur bis auf weiteres zu diesem Mittelpunkt frei gewählt worden ist."
2. Über die Beschwerde wurde erwogen:
2.1. Der administrative Instanzenzug ist ausgeschöpft (§34 Abs2 letzter Satz LWO).
Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen zutreffen, ist die Beschwerde zulässig.
2.2.1. Das in Art95 iVm Art26 B-VG verfassungsgesetzlich gewährleistete Wahlrecht zu den Landtagen wird durch rechtswidrige Nichteintragung eines Wahlberechtigten in das Wählerverzeichnis verletzt. Das ist auch dann der Fall, wenn das zur Nichteintragung führende Verwaltungsverfahren an wesentlichen Mängeln leidet (vgl. hiezu insb. VfGH 27.2.1989 B1804/88 und die ständige Judikatur des Verfassungsgerichtshofes zur rechtswidrigen Nichteintragung in Wählerverzeichnisse für Gemeinderatswahlen, zB VfSlg. 5148/1965, 7017/1973, 7766/1976, 10.668/1985; s. auch VfSlg. 8845/1980, VfGH 26.2.1987 B998/86).
2.2.2.1. Dem Berufungsgegner wurde - nach einem gemeindeamtlichen Aktenvermerk vom 29. September 1988 - eine Kopie der Berufung übermittelt, und zwar laut dem beiliegenden Zustellnachweis am 30. September 1988. Wenn die Berufungsbehörde also bereits an diesem Tag über das Rechtsmittel befand (siehe Abschnitt 1.2.2.1.), nahm sie P R rechtswidrig das ihm kraft der zwingenden Bestimmung des §34 Abs1 Satz 2 LWO eingeräumte Recht auf Gehör, für dessen Ausübung ihm eine Frist von zwei Tagen offen stand. Daran vermag auch nichts zu ändern, daß nach dem Inhalt der Administrativakten ein Erhebungsorgan der Bezirkshauptmannschaft Mödling mit P R am 29. September 1988, demnach vor der Verständigung iSd §34 Abs1 Satz 2 LWO, im übrigen ohne Bezugnahme auf die eingebrachte Berufung, telefonisch "Kontakt aufgenommen" hatte (so ein entsprechender Aktenvermerk).
Nicht genug damit, besteht die Begründung des angefochtenen Bescheides in der Hauptsache nur in der unzulänglich-knappen Feststellung, der Beschwerdeführer habe zum Stichtag in der Gemeinde Wiener Neudorf keinen ordentlichen Wohnsitz gehabt. Aus welchen Gründen die belangte Behörde zu dieser Annahme gelangte, wurde nicht einmal ansatzweise angegeben, obwohl der Beschwerdeführer schon im erstinstanzlichen Verfahren dargelegt hatte, daß wohl seine Ehefrau A R über einen Zweitwohnsitz in Gießhübl, er selbst jedoch nur über einen einzigen (inländischen) Wohnsitz, nämlich in Wiener Neudorf verfüge, folglich in keinem anderen Wählerverzeichnis eingetragen sei. Hinzu tritt überdies, daß ein im Akt befindlicher (Erhebungs-)Bericht der Bezirkshauptmannschaft Mödling in der Bescheidbegründung nur mittelbar erwähnt, doch nicht nachvollziehbar ausgewertet und gewürdigt wurde.
2.2.2.2. Dies alles kennzeichnet die von der belangten Berufungsbehörde eingehaltene Prozedur - selbst unter gebührender Berücksichtigung der geringeren Anforderungen, die an das Ermittlungsverfahren vor Wahlbehörden schon angesichts der kurzen zur Verfügung stehenden Fristen zu stellen sind (VfSlg. 8845/1980) - unter dem Aspekt der maßgebenden Frage des ordentlichen Wohnsitzes als derart grob mangelhaft und ergänzungsbedürftig (s. etwa auch: VfSlg. 7017/1973, 7766/1976, 8845/1980; VfGH 9.6.1988 B1263/87), daß bereits von einer Verfassungswidrigkeit iS der zu Punkt 2.2.1. wiedergegebenen verfassungsgerichtlichen Judikatur gesprochen werden muß.
2.2.3. Mithin wurde der Beschwerdeführer durch den angefochtenen, die Streichung aus dem Wählerverzeichnis verfügenden Bescheid in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Wahlrecht zum Landtag (Art95 iVm Art26 B-VG) verletzt.
Der Bescheid war darum schon aus diesem Grund als verfassungswidrig aufzuheben, ohne daß es eines Eingehens auf das sonstige Beschwerdevorbringen bedurfte.
2.3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG 1953. Im zugesprochenen Kostenbetrag ist Umsatzsteuer in der Höhe von 1.000 S enthalten.
2.4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung ergehen.
Schlagworte
Wahlen, Wählerverzeichnis, Wahlrecht aktives, Ermittlungsverfahren Wahlbehörden, ParteiengehörEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1989:B1830.1988Dokumentnummer
JFT_10109388_88B01830_00