Index
10 VerfassungsrechtNorm
B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelbLeitsatz
Gesetzwidrige Festnahme und Anhaltung; kein Vorliegen eines dringenden Tatverdachtes bzw. des allein relevierten Haftgrundes der Verdunkelungsgefahr im Sinn des §175 Abs1 Z3 iVm. §177 Abs1 Z 2 StPO; Verletzung im Recht auf persönliche FreiheitSpruch
1. Die Beschwerdeführerin ist dadurch, daß sie am 22. Dezember 1987 um 9.45 Uhr von Organen der Bundespolizeidirektion Wien festgenommen und bis 23. Dezember 1987, 14.00 Uhr, in Haft gehalten wurde, in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.
2. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zu Handen ihres Vertreters die mit S 11.000,-- bestimmten Verfahrenskosten binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. F T beantragt mit ihrer an den Verfassungsgerichtshof gerichteten Beschwerde nach Art144 Abs1 B-VG die kostenpflichtige Feststellung, sie sei dadurch, daß sie am 21. Dezember 1987 um ca. 8.00 Uhr von Organen der Bundespolizeidirektion Wien festgenommen und bis 22. Dezember 1987, 14.00 Uhr in Haft gehalten wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit gemäß Art8 StGG verletzt worden.
2. Die - durch die Finanzprokuratur vertretene - Bundespolizeidirektion Wien erstattete eine Gegenschrift, in der nach einer weitwendigen Schilderung von polizeilichen Erhebungen, die mit dem beschwerdegegenständlichen Vorfall nur am Rande zu tun haben, die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt wird.
3. Über Anfrage des Verfassungsgerichtshofes teilte die Beschwerdeführerin mit, daß die von ihr in Beschwerde gezogene Verhaftung nicht wie ursprünglich irrtümlich angegeben vom 21. auf 22. Dezember 1987, sondern vielmehr, wie auch von der belangten Behörde bestätigt wurde, vom 22. auf 23. Dezember 1987 stattfand.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
1. Aufgrund des übereinstimmenden Parteienvorbringens sowie der Einsichtnahme in den Akt II-24.118/SB/87 der Bundespolizeidirektion Wien, Sicherheitsbüro, und in den Akt 26c Vr 13.963/87 des Landesgerichts für Strafsachen Wien nimmt der Verfassungsgerichtshof folgenden Sachverhalt als erwiesen an:
Am 22. Dezember 1987 begaben sich die Kriminalbeamten GrInsp. H P, GrInsp. J G und BezInsp. K H in die Wohnung des K E, der im Zuge der Aufklärung eines Todesfalles durch Suchtgiftmißbrauch des Suchtgifthandels verdächtigt wurde. Die Beamten trafen in der Wohnung neben dem Verdächtigen auch seine Lebensgefährtin, die nunmehrige Beschwerdeführerin F T an. Nach Ausspruch der Festnahme des gesuchten K E sagte dieser mehrere Worte in türkischer Sprache zur Beschwerdeführerin. Daraufhin wurde die Beschwerdeführerin um 9.45 Uhr gemäß §177 Abs1 Z2 iVm §175 Abs1 Z3 StPO ebenfalls wegen Verdachtes des Suchtgifthandels festgenommen und ins Polizeigefangenhaus Wien überstellt, ohne daß gegen sie ein konkreter Tatverdacht bestand. Nach Einvernahme des K E sowie der Beschwerdeführerin, in der beide den Handel mit Suchtgiften entschieden in Abrede stellten und die Beschwerdeführerin erklärte, niemals Rauschgift konsumiert zu haben, wurde sie am 23. Dezember 1987 um 14.00 Uhr aus der Haft entlassen. Da es keinen Hinweis auf ein strafbares Verhalten der Beschwerdeführerin gab, wurde gegen sie keine Anzeige erstattet.
Zufolge der Anhaltemeldung der einschreitenden Kriminalbeamten sowie des Berichtes von BezInsp. K H vom 22. Dezember 1987 standen sowohl K E als auch - angeblich - die Beschwerdeführerin in dringendem Verdacht, schon seit längerer Zeit mit bereits in Haft befindlichen Personen einen Suchtgifthandel betrieben zu haben. Tatsächlich wurde jedoch in keinem der in den Akten befindlichen Vernehmungsprotokolle die Beschwerdeführerin in den Verdacht des Suchtgifthandels gebracht oder in Zusammenhang damit genannt. Während K E im Zuge einiger Vernehmungen von den Betreffenden nach Vorlage einer Lichtbildersammlung als Suchtgiftlieferant bezeichnet wurde, war dabei von der Beschwerdeführerin niemals die Rede. Den Hinweis der belangten Behörde in der Gegenschrift, die Beschwerdeführerin sei dadurch, daß K E ihr nach seiner Festnahme mehrere Worte in türkischer Sprache zugerufen habe, verdächtig geworden, "mit dem Suchtgifthandel in Verbindung zu stehen" und es habe daher Verdunkelungsgefahr bestanden, versteht der Verfassungsgerichtshof sohin als bloße Schutzbehauptung.
2. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG erkennt der Verfassungsgerichtshof über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Novelle 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung einer Person zutrifft (VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 9836/1983; VfGH 27.11.1987 B462/87, 9.6.1988 B746/87).
3. Das Gesetz zum Schutz der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, bestimmt in seinem §4, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen. Gesetzliche Bestimmungen im Sinne des §4 leg.cit. sind u.a. die §§175 bis 177 StPO.
4. Der Verfassungsgerichtshof geht bei der rechtlichen Beurteilung der in Beschwerde gezogenen Festnahme und Anhaltung davon aus, daß die Beschwerdeführerin im Dienste der Strafjustiz ohne richterlichen Haftbefehl festgenommen und verwahrt wurde. Gemäß §177 Abs1 StPO dürfen ausnahmsweise auch Organe der Sicherheitsbehörden die vorläufige Verwahrung einer Person, die eines Verbrechens oder eines - nicht den Bezirksgerichten zur Aburteilung zugewiesenen - Vergehens verdächtig ist, in dem hier von den einschreitenden Sicherheitswachebeamten und von der belangten Behörde (S. 9 der Gegenschrift) ausdrücklich herangezogenen und damit allein in Betracht kommenden und maßgebenden (s. VfSlg. 5232/1966, 10229/1984; VfGH 27.11.1987 B462/87, 9.6.1988 B746/87; vgl. auch VfSlg. 9393/1982, 10975/1986) Fall des Haftgrundes der Verdunkelungsgefahr nach §175 Abs1 Z3 StPO zum Zweck der Vorführung vor den Untersuchungsrichter auch ohne schriftliche Anordnung verfügen.
5. Nach dem vom Verfassungsgerichtshof festgestellten Sachverhalt fehlte es sowohl an dem für eine Festnahme zwingend vorausgesetzten, konkreten Tatverdacht (vgl. VfSlg. 10665/1985 und die dort angeführte Vorjudikatur) als auch an der Kollusionsgefahr.
Wie sich aus der Darstellung des Sachverhaltes unter II.1. ergibt, rechtfertigten die im Zeitpunkt der Verhaftung der Beschwerdeführerin den Organen der Sicherheitsbehörde bekannten Umstände nicht die Annahme, daß die Beschwerdeführerin einer konkreten gerichtlich strafbaren Handlung verdächtig sei.
Verdunkelungsgefahr ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes dann zu bejahen, wenn es wirklich zu einem Verdunkelungsversuch kam oder konkrete Anhaltspunkte darauf hinweisen, daß ein Versuch, die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen, unternommen werden würde (vgl. VfSlg. 3770/1960, 6560/1971, 6910/1972, 9836/1983; VfGH 27.11.1987 B462/87, 9.6.1988 B746/87).
Daß die Beschwerdeführerin bereits versucht habe, die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen, behauptet die belangte Behörde selbst nicht. Daß ihr vom gleichzeitig festgenommenen Lebensgefährten Worte in türkischer Sprache zugerufen worden sind, reicht aber nicht aus, die Beschwerdeführerin zu verdächtigen, sie wolle versuchen, die Ermittlung der Wahrheit zu erschweren.
Der Verfassungsgerichtshof vermag sohin unter voller Zugrundelegung der Sachverhaltsschilderung der belangten Behörde weder das Vorliegen eines dringenden Tatverdachtes noch das Bestehen des - nach dem bereits Gesagten allein relevierten - Haftgrundes der Verdunkelungsgefahr zu erkennen.
6. Schon daraus folgt, daß die Festnahme und die Anhaltung der Beschwerdeführerin gesetzwidrig waren, ohne daß es der Prüfung der Frage bedurfte, ob die die Festnahme aussprechenden Sicherheitswachebeamten vertretbarerweise die Beschwerdeführerin des Suchtgifthandels oder der Beteiligung daran verdächtigen konnten.
7. Demgemäß wurde die Beschwerdeführerin durch ihre Festnahme und Anhaltung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit gemäß Art8 StGG verletzt.
8. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VerfGG 1953. Im zugesprochenen Kostenbetrag ist Umsatzsteuer in der Höhe von
S 1.000,-- enthalten.
9. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in einer der Bestimmung des §7 Abs2 litc VerfGG 1953 genügenden Zusammensetzung vom Verfassungsgerichtshof getroffen werden.
Schlagworte
Festnehmung, Verdunkelungsgefahr, Tatverdacht dringender, Ausübung unmittelbarer Befehls- und ZwangsgewaltEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1989:B142.1988Dokumentnummer
JFT_10109387_88B00142_00