TE Vfgh Erkenntnis 1989/6/20 G228/88, G3/89, G4/89, V202/88, V1/89, V2/89

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Veröffentlicht am 20.06.1989
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Index

66 Sozialversicherung
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

B-VG Art18 Abs2 / Verordnung gesetzlos
MRK Art6 Abs1 / Tribunal
MRK Art6 Abs1 / civil rights
Verordnung des Bundesministers für soziale Verwaltung vom 08.05.1956, BGBl 105/1956 §15
ASVG §345 idF BGBl 684/1978

Leitsatz

Streitigkeiten aus "Einzelverträgen" dem Kernbereich der civil rights zugehörig; Landesschiedskommission kein Tribunal - fehlende Regelung der Funktionsdauer der Mitglieder

Spruch

I. Der Satzteil "und zur Entscheidung in den Fällen des Überganges der Zuständigkeit nach §344 letzter Satz" in §345 Abs1 erster Satz sowie der zweite Satz in §345 Abs2 ASVG, BGBl. Nr. 189/1955 idF BGBl. Nr. 684/1978, werden als verfassungswidrig aufgehoben.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

II. §15 Abs1 Z3 sowie der Satzteil "und 3" in §15 Abs2 zweiter Satz der Verordnung des Bundesministers für soziale Verwaltung vom 8. Mai 1956, BGBl. Nr. 105/1956, werden als gesetzwidrig aufgehoben.

Der Bundesminister für Arbeit und Soziales ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. In der Rechtssache der antragstellenden Partei Dr.med. J S wider die Steiermärkische Gebietskrankenkasse wegen Einstellung der monatlichen Treueprämienzahlung stellte die (nach Nichtzustandekommen eines Beschlusses der paritätischen Schiedskommission) von der Steiermärkischen Ärztekammer gemäß §344 letzter Satz ASVG angerufene und somit kraft §345 Abs1 ASVG zur Entscheidung der Streitsache zuständig gewordene Landesschiedskommission für das Land Steiermark (LSK) mit Bescheid vom 9. November 1987, LSK 13/1986, fest, daß den nach dem Tod des Antragstellers in das Verfahren eingetretenen Erben, und zwar K S, Mag. R R und Dr. J H S, die in Streit stehende Treueprämie (auch) für den Zeitraum vom 1. November 1984 bis einschließlich 30. April 1987 gebühre.

1.1.2.1. Gegen diesen Bescheid der LSK brachte die Steiermärkische Gebietskrankenkasse eine auf Art144 (Abs1) B-VG gestützte Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof ein (protokolliert zu B697/88), in der die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs2 B-VG) und auf Unversehrtheit des Eigentums (Art5 StGG) behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsaktes (in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof) begehrt wurde.

1.1.2.2. Die LSK als belangte Behörde legte die Administrativakten vor, nahm jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand.

1.1.3.1. Aus Anlaß dieser Beschwerde leitete der Verfassungsgerichtshof mit Beschluß vom 1. Oktober 1988, B697/88-8, von Amts wegen gemäß Art140 Abs1 und 139 Abs1 B-VG ein Verfahren zur Prüfung a) der Verfassungsmäßigkeit des Satzteils "und zur Entscheidung in den Fällen des Überganges der Zuständigkeit nach §344 letzter Satz" in §345 Abs1 erster Satz sowie des zweiten Satzes in §345 Abs2 ASVG, BGBl. 189/1955 idF BGBl. 684/1978, und b) der Gesetzmäßigkeit des §15 Abs1 Z3 sowie des Satzteils "und 3" in §15 Abs2 zweiter Satz der Verordnung des Bundesministers für soziale Verwaltung vom 8. Mai 1956, BGBl. 105/1956, ein (protokolliert zu G228/88 und V202/88).

1.1.3.2. In den Gründen des Prüfungsbeschlusses heißt es ua. wörtlich:

"Kraft §345 Abs1 ASVG (vgl. auch den letzten Satz der nunmehr bereits aus dem Rechtsbestand ausgeschiedenen Norm des §344 ASVG) geht - bei Nichtzustandekommen eines Beschlusses der paritätischen Schiedskommission - auf Antrag der zuständigen Ärztekammer oder des am Verfahren beteiligten Krankenversicherungsträgers die Zuständigkeit zur Entscheidung der (vor der paritätischen Schiedskommission) anhängigen Streitsache auf die Landesschiedskommission über.

Dies war in der Beschwerdesache der Fall.

Gemäß dem auf Verfassungsstufe stehenden Art6 Abs1 EMRK hat jedermann Anspruch darauf, 'daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen strafrechtlichen Anklage zu entscheiden hat.'

Dazu sprach der Verfassungsgerichtshof - in Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung - in den Entscheidungen vom 14. Oktober 1987, G181/86 ua. (zu §21 ApothekerkammerG), und vom 16. Dezember 1987, G129,205/87 ua. (zu §120 Abs2 NÖ Jagdgesetz), aus, daß sowohl über strafrechtliche Anklagen als auch über Ansprüche und Verpflichtungen, die ihrer rechtlichen Natur nach dem Zivilrecht in engster Bedeutung und somit dem Kernbereich der 'civil rights' zuzuzählen sind, ein Tribunal in der Sache selbst zu entscheiden hat, in diesen Angelegenheiten also die bloß nachprüfende Kontrolle eines Tribunals (so etwa des Verwaltungsgerichtshofes - zu seiner Zuständigkeit bei Einzelvertragsstreitigkeiten nach §345 ASVG vgl. VwGH 19.2.1964 Z1101/63) nicht ausreicht (s. weiters: VfGH 14.6.1988 G48/87 zu §344 ASVG).

Es scheint nun, daß die Landesschiedskommission (auch) über dem Kernbereich der 'civil rights' zuzurechnende zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen zu befinden hat, demnach (insoweit) gesteigerten verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen und als 'unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht' iSd EMRK konstituiert sein muß: Sie erkennt nämlich kraft §345 Abs1 ASVG (§344 dritter Satz ASVG) in Streitigkeiten aus sog. 'Einzelverträgen', ds. privatrechtliche Übereinkommen, welche die Beziehungen der Sozialversicherungsträger ua. zu den freiberuflich tätigen Ärzten regeln (s. §338 Abs1 ASVG; vgl. auch VfGH 14.6.1988 G48/87).

Mitglieder eines 'Tribunals' iS der EMRK müssen nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (von der Regierungsgewalt unabhängig und) zumindest für einen gewissen Zeitraum unabsetzbar sein (vgl. VfSlg. 7099/1973, 7284/1974, 8501/1979, 8523/1979). Fehlt es an einer (gesetzlichen) Regelung der Funktionsdauer, besteht also die grundsätzliche Möglichkeit jederzeitiger Abberufung, weil die Bestimmungen über die Bestellung allein die Ermächtigung zur Enthebung des Bestellten - und sei es auch während eines laufenden Verfahrens - notwendig miteinschließen (VfSlg. 7099/1973, 8317/1978; VfGH 5.3.1986 G232,233/85 ua.), so ergibt sich das Bedenken, daß die im Spruch genannten - den Umständen nach eine untrennbare Einheit bildenden - Vorschriften des §345 ASVG der (auf Verfassungsstufe stehenden) Vorschrift des Art6 EMRK widersprechen (vgl. auch VfGH 14.6.1988 G48/87).

§15 Abs1 Z3 sowie die Wortfolge 'und 3' in §15 Abs2 zweiter Satz der Verordnung des Bundesministers für soziale Verwaltung vom 8. Mai 1956 über die Geschäftsordnungen der in den §§344 bis 346 ASVG vorgesehenen Schiedskommissionen, BGBl. 105/1956, - einer Verordnung iS des Art139 Abs1 B-VG - finden (nach Aufhebung des §344 ASVG mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 14.6.1988, G48/87) ihre ausschließliche Basis nur mehr in der Bestimmung des in Prüfung gezogenen Teils des §345 Abs1 ASVG, gegen die der Verfassungsgerichtshof die . . . dargelegten verfassungsrechtlichen Bedenken hegt. Sollten diese Bedenken zutreffen und zur Aufhebung der in Rede stehenden Gesetzesstelle führen, wären die im Spruch genannten Teile dieser Verordnung so zu beurteilen, als ob sie ohne gesetzliche Grundlage erlassen worden seien (vgl. VfSlg. 4172/1962, 6945/1972; VfGH 14.6.1988 V14/87). Sie würden also Art18 B-VG widersprechen.

Demgemäß waren (auch) §15 Abs1 Z3 sowie die Worte 'und 3' in §15 Abs2 zweiter Satz der zitierten Verordnung (als verfassungsrechtlich bedenklich) in Prüfung zu ziehen."

1.2.1. In der Rechtssache der antragstellenden Partei Dr.med. A O wider die Vorarlberger Gebietskrankenkasse wegen offener Honorarforderungen faßte die (nach Nichtzustandekommen eines Beschlusses der paritätischen Schiedskommission) von der Vorarlberger Ärztekammer gemäß §344 letzter Satz ASVG angerufene und somit kraft §345 Abs1 ASVG zur Entscheidung der Streitsache zuständig gewordene Landesschiedskommission für Vorarlberg (LSK) am 25. Mai 1988 nachstehenden Beschluß (Z LSK 3/87):

"1. Die Vorarlberger Gebietskrankenkasse ist schuldig, Dr. A O den Betrag von 27.348 S zu bezahlen.

2. Es wird festgestellt, daß die Vorarlberger Gebietskrankenkasse hinsichtlich des Panoramaröntgens (Positionen 24 und 25 des Honorartarifes für konservierend-chirurgische Zahnbehandlung der bundeseinheitlichen Honorarordnung für die Vertragsfachärzte für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde vom 6. Dezember 1973 unter Berücksichtigung der ab 1. Juli 1974 gültigen Honorartarifsätze) verpflichtet gewesen wäre und ist, die Vorgangsweise des §32 des Gesamtvertrages einzuhalten.

3. Das Begehren des Antragstellers, die Vorarlberger Gebietskrankenkasse schuldig zu erkennen, einen weiteren Betrag von 40.979 S an ihn zu bezahlen, wird abgewiesen."

1.2.2.1. Gegen diesen Bescheid der LSK ergriff Dr. A O eine Beschwerde gemäß Art144 (Abs1) B-VG an den Verfassungsgerichtshof (protokolliert zu B1491/88), in der die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, so ua. auf Unversehrtheit des Eigentums (Art5 StGG) und auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art7 B-VG), behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsaktes (in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof) begehrt wurde. (Die Vorarlberger Gebietskrankenkasse hingegen bekämpfte diesen Verwaltungsakt mit Beschwerde nach Art131 Abs1 B-VG beim Verwaltungsgerichtshof; s. dazu auch Punkt 1.3.).

1.2.2.2. Die LSK als belangte Behörde legte die Administrativakten vor, nahm jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand. Die Vorarlberger Gebietskrankenkasse als Beteiligte des verfassungsgerichtlichen Beschwerdeverfahrens brachte eine Gegenschrift ein, in der sie unter Hinweis auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 14. Juni 1988, G48/87, die Einleitung eines Normenkontrollverfahrens zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §345 ASVG anregte, im übrigen jedoch für die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde eintrat.

1.2.3. Auch aus Anlaß dieser Beschwerde leitete der Verfassungsgerichtshof unter Hinweis auf die im Beschluß vom 1. Oktober 1988, B697/88-8, ausgebreiteten Bedenken von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit/Gesetzmäßigkeit der im Spruch genannten Bestimmungen ein (Beschluß vom 28. November 1988, B1491/88-8; protokolliert zu G3/89, V1/89).

1.3. Mit Beschluß vom 15. Dezember 1988, A79/88, stellte der Verwaltungsgerichtshof in der bei ihm behängenden Beschwerdesache Z88/08/0232 der Vorarlberger Gebietskrankenkasse gegen den in Punkt 1.2.1. bezeichneten Bescheid der Landesschiedskommission für Vorarlberg, und zwar aus den im Prüfungsbeschluß des Verfassungsgerichtshofes vom 1. Oktober 1988, B697/88-8, dargelegten Bedenken, den Antrag, a) den Satzteil "und zur Entscheidung in den Fällen des Überganges der Zuständigkeit nach §344 letzter Satz" in §345 Abs1 erster Satz sowie den zweiten Satz in §345 Abs2 ASVG, BGBl. 189/1955 idF BGBl. 684/1978, als verfassungswidrig und b) den §15 Abs1 Z3 sowie den Satzteil "und 3" in §15 Abs2 zweiter Satz der Verordnung des Bundesministers für soziale Verwaltung vom 8. Mai 1956, BGBl. 105/1956, als gesetzwidrig aufzuheben (protokolliert zu G4/89 und V2/89).

1.4.1. Die in den Gesetzesprüfungsverfahren zur schriftlichen Äußerung aufgeforderte Bundesregierung nahm im Hinblick auf die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom 14. Juni 1988, G48/87, (: Aufhebung des §344 ASVG wegen Widerspruchs zu Art6 EMRK) von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand und begehrte, der Verfassungsgerichtshof möge im Fall der Aufhebung des Gesetzes gemäß Art140 Abs5 B-VG für das Außerkrafttreten eine Frist bestimmen, und zwar in der Dauer eines Jahres.

1.4.2. Der gemäß §58 Abs2 VerfGG 1953 zur Erstattung einer Äußerung aufgeforderte Bundesminister für Arbeit und Soziales gab keine Stellungnahme ab.

1.5.1. Die mit "Entscheidung von Streitigkeiten aus dem Einzelvertrag" überschriebene (und mit Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 14. Juni 1988, G48/87, als verfassungswidrig aufgehobene) Bestimmung des §344 ASVG, BGBl. 189/1955, hatte folgenden Wortlaut:

"Zur Schlichtung und Entscheidung von Streitigkeiten aus dem Einzelvertrag ist in jedem Land eine paritätische Schiedskommission zu errichten. Diese besteht aus der gleichen Zahl von Vertretern der zuständigen Ärztekammer und der am Verfahren beteiligten Träger der Krankenversicherung. Kommt bei Stimmengleichheit ein Beschluß in der Schiedskommission nicht zustande, dann geht die Zuständigkeit zur Entscheidung der anhängigen Streitsache auf Antrag der zuständigen Ärztekammer oder des am Verfahren beteiligten Trägers der Krankenversicherung auf die Landesschiedskommission über."

1.5.2. §345 ASVG, BGBl. 189/1955 idF BGBl. 684/1978, - übertitelt mit "Entscheidung von Streitigkeiten durch die Landesschiedskommission" - lautet (- die hier relevanten Bestimmungen sind hervorgehoben -):

"(1) Zur Schlichtung und Entscheidung von Streitigkeiten zwischen den Parteien eines Gesamtvertrages über die Auslegung oder über die Anwendung eines bestehenden Gesamtvertrages, zur Entscheidung über die Zulässigkeit einer Kündigung gemäß §343 Abs4 und zur Entscheidung in den Fällen des Überganges der Zuständigkeit nach §344 letzter Satz ist für jedes Land eine Landesschiedskommission zu errichten. Diese besteht aus einem Richter als Vorsitzenden und aus vier Beisitzern. Der Vorsitzende wird vom Bundesministerium für Justiz bestellt; je zwei Beisitzer werden von der zuständigen Ärztekammer und vom Hauptverband berufen.

(2) Gegen die Entscheidungen der Landesschiedskommission kann Berufung an die Bundesschiedskommission erhoben werden. Gegen die Entscheidungen, für die die Landesschiedskommission gemäß §344 letzter Satz zuständig wurde, ist keine Berufung zulässig."

1.5.3. §15 der Verordnung des Bundesministers für soziale Verwaltung vom 8. Mai 1956, BGBl. 105/1956, legt fest:

"(1) Die Landesschiedskommission ist zuständig:

1. Zur Schlichtung und Entscheidung von Streitigkeiten zwischen den Parteien eines Gesamtvertrages gemäß den §§345 und 351 ASVG;

2. zur Entscheidung über die Zulässigkeit einer Kündigung (§343 Abs. 4 ASVG, beziehungsweise §349 Abs1 ASVG);

3. zur Entscheidung in den Fällen des Überganges der Zuständigkeit gemäß §344 letzter Satz ASVG.

(2) Bei Streitigkeiten aus einem Gesamtvertrag ist für die örtliche Zuständigkeit der Sitz der am Verfahren beteiligten gesetzlichen Interessenvertretung maßgebend. Bei Streitigkeiten aus einem Vertragsverhältnis nach Abs1 Z2 und 3 wird die örtliche Zuständigkeit durch den Berufssitz des Vertragsarztes (des Vertragsdentisten, der Hebamme, des Apothekers) bestimmt, der am Streitverfahren als Partei beteiligt ist."

2. In den zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbundenen Normenkontrollverfahren wurde erwogen:

2.1. Zu den Prozeßvoraussetzungen:

2.1.1. Verfahren G228/88, G3/89 und V202/88, V1/89:

2.1.1.1. Gemäß §345 Abs1 ASVG (vgl. auch den letzten Satz der nunmehr bereits aus dem Rechtsbestand ausgeschiedenen Norm des §344 ASVG; s. BGBl. 526/1988) geht - bei Nichtzustandekommen eines Beschlusses der paritätischen Schiedskommission - auf Antrag der zuständigen Ärztekammer oder des am Verfahren beteiligten Krankenversicherungsträgers die Zuständigkeit zur Entscheidung über eine (vor der paritätischen Schiedskommission) anhängige Streitigkeit aus dem Einzelvertrag auf die Landesschiedskommission über.

Da in den Anlaßbeschwerdefällen B697/88 und B1491/88 derartige Anträge (wegen des Nichtzustandekommens von Beschlüssen der paritätischen Schiedskommissionen für Steiermark und Vorarlberg) gestellt wurden, die Entscheidungen der Landesschiedskommissionen über Streitigkeiten aus dem Einzelvertrag kraft §345 Abs2 letzter Satz ASVG keinem administrativen Rechtsmittel unterliegen und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen zutreffen, sind die beiden Beschwerden (B 697/88 und B1491/88) zulässig.

2.1.1.2. Die in Prüfung stehenden generellen Normen über die Zuständigkeit und Einrichtung der Landesschiedskommissionen zählen (mit) zu den Rechtsgrundlagen der angefochtenen Verwaltungsakte (vgl. auch VfSlg. 9887/1983, 10.800/1986; VfGH 14.6.1988 G48/87); sie sind demnach auch vom Verfassungsgerichtshof bei Schöpfung der Erkenntnisse über die von den Beschwerdeführern erhobenen Beschwerden gemäß Art144 Abs1 B-VG anzuwenden und somit in diesen Beschwerdesachen präjudiziell iSd Art140 Abs1 Satz 1 B-VG und des Art139 Abs1 Satz 1 B-VG.

Damit ist auch die Zulässigkeit der von Amts wegen eingeleiteten Normenkontrollverfahren (G 228/88, G3/89, V202/88, V1/89) zu bejahen.

2.1.2. Verfahren G4/89, V2/89:

Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist der Verwaltungsgerichtshof zur Stellung eines Antrags iS des Art139 bzw. 140 B-VG dann legitimiert, wenn die - angefochtene - Norm denkmöglicherweise eine Voraussetzung der Entscheidung im Anlaßbeschwerdefall bildet (vgl. zB VfSlg. 9284/1981, 10.311/1984).

Dies ist hier der Fall.

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist der Normenprüfungsantrag des Verwaltungsgerichtshofes nach Art139 und 140 B-VG zulässig.

2.2. Zur Sache:

Die Bedenken des Verfassungsgerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes gegen die in Prüfung gezogenen Bestimmungen sowohl des §345 ASVG als auch des §15 der Verordnung BGBl. 105/1956 sind begründet.

2.2.1. Zu §345 ASVG:

In den Gesetzesprüfungsverfahren - die Bundesregierung gab, wie schon erwähnt, in der Sache selbst keine Stellungnahme ab - kam nichts hervor, was die in den Prüfungsbeschlüssen und im Antrag des Verwaltungsgerichtshofes ausgebreiteten Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der im Spruch genannten Teile der Abs1 und 2 des §345 ASVG hätte entkräften können. Die im Prüfungsbeschluß vom 1. Oktober 1988, B697/88-8, aufgezeigten und sowohl im Beschluß vom 28. November 1988, B1491/88-8, als auch im Antrag des Verwaltungsgerichtshofes wiederholten Bedenken erwiesen sich vielmehr aus den dort dargelegten Erwägungen als voll zutreffend:

Die Landesschiedskommission hat bei der Entscheidung in Streitigkeiten aus sogenannten "Einzelverträgen" (d.s. privatrechtliche Übereinkommen, welche ua. die Beziehungen der Sozialversicherungsträger zu den freiberuflich tätigen Ärzten regeln; s. §338 Abs1 ASVG) über dem Kernbereich der "civil rights" zuzurechnende zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen zu befinden (s. VfGH 14.6.1988 G48/87); sie muß also (insoweit) gesteigerten verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen und als "unabhängiges und unparteiisches, auf Gesetz beruhendes Gericht" iSd Art6 EMRK konstituiert sein (VfGH 16.12.1987 G129/87 ua.). Da aber das Gesetz (§345 ASVG) die Funktionsdauer der Kommissionsmitglieder ungeregelt läßt, die Landesschiedskommission daher - infolge der fehlenden Unabhängigkeit ihrer Organe - auch nicht als unabhängiges und unparteiisches Tribunal iSd Art6 EMRK eingerichtet ist (vgl. VfSlg. 10.800/1986, 14.6.1988 G48/87), widersprechen die in Prüfung gezogenen und den Umständen nach eine untrennbare Einheit bildenden Vorschriften des §345 ASVG der Verfassungsbestimmung des Art6 Abs1 EMRK.

Demzufolge mußte zu Abschnitt I. spruchgemäß entschieden werden.

Der Ausspruch über die Kundmachungspflicht stützt sich auf Art140 Abs5, der frühere gesetzliche Bestimmungen betreffende auf Art140 Abs6 B-VG. Dabei ging der Verfassungsgerichtshof von der Überlegung aus, daß eine auch nur befristete Aufrechterhaltung des hier als verfassungs- und konventionswidrig erkannten Zustandes vermieden werden soll.

2.2.2. Zur Verordnung BGBl. 105/1956:

Die in Prüfung gezogenen Teile des §15 der Verordnung des Bundesministers für soziale Verwaltung vom 8. Mai 1956, BGBl. 105/1956, finden ihre ausschließliche materielle Basis unbestrittenermaßen in den Bestimmungen des §345 ASVG, die unter einem (s. Punkt I. des Spruches) als verfassungswidrig aufgehoben wurden. Die zu prüfenden Stellen dieser Verordnung sind darum nunmehr so zu beurteilen, als ob sie ohne gesetzliche Grundlage erlassen worden wären (vgl. VfSlg. 4172/1962, 6945/1972, 10.800/1986; VfGH 14.6.1988 V14/87). Sie widersprechen folglich Art18 B-VG und waren aufzuheben.

Die übrige Entscheidung fußt auf Art139 Abs5 B-VG.

Schlagworte

Sozialversicherung, Ärzte, Tribunal, civil rights, Verordnung Durchführungs-

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1989:G228.1988

Dokumentnummer

JFT_10109380_88G00228_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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