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L10013 Gemeindeordnung Gemeindeaufsicht GemeindehaushaltNorm
ABGB §6;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Draxler und die Hofräte DDr. Hauer, Dr. Degischer, Dr. Giendl und Dr. Höfinger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Unterer, über die Beschwerde des B in U, vertreten durch Dr. K, Rechtsanwalt in M, gegen den Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 28. Jänner 1991, Zl. R/1-B-9033, betreffend die Nichtigerklärung einer Baubewilligung, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Das Land Niederösterreich hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 11.480,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Nach den vorgelegten Verwaltungsakten erließ der Bürgermeister der Gemeinde H am 20. August 1990 einen an den Beschwerdeführer gerichteten "Bescheid" mit folgendem Spruch:
"Der Bürgermeister als Baubehörde I. Instanz hat in Erfahrung gebracht, daß Sie beabsichtigen, eine Stützmauer zu errichten und folgend Tanks zur Aufstellung zu bringen. Nach Ansicht der Baubehörde ist hiefür die Bewilligung der Gewerbebehörde sowie der Baubehörde erforderlich. Das Vorhaben wurde weder angezeigt noch ein Bauansuchen eingereicht."
Zur Begründung wurde ausgeführt, daß nach Ansicht der Baubehörde die angezeigten Arbeiten solcher Art seien, daß sie der Bewilligungspflicht nach § 92 der NÖ Bauordnung 1976 (BO) unterliegen. Der Beschwerdeführer wurde aufgefordert, ein entsprechend belegtes Bauansuchen einzubringen, wenn von der Ausführung des Vorhabens nicht Abstand genommen werde.
Nach einem amtlichen Vermerk vom 21. August 1990 sagte der Bürgermeister dem Beschwerdeführer zu, daß er bereits bestellte Betonierungsarbeiten durchführen könne, er machte jedoch darauf aufmerksam, daß der Baustopp nach wie vor aufrecht und die Kommission abzuwarten sei (entgegen der Vorschrift des § 16 AVG fehlt dem Aktenvermerk die Unterschrift des Amtsorganes).
Nach einem weiteren Aktenvermerk vom 22. August 1990 erklärte der Bürgermeister einer Nachbarin, der Beschwerdeführer habe ersucht, wenigstens die Betonierung auf Grund der Bestellung durchführen zu dürfen.
In einer Eingabe vom 23. August 1990 ersuchte der Beschwerdeführer um die Erteilung der baubehördlichen Bewilligung zum Neubau eines Tankfundamentes und zur Aufstellung von elf Weinbehältern aus Kunststoff. Schon am 22. August 1990 war eine mündliche Bauverhandlung für 27. August 1990 anberaumt worden. Bei dieser Verhandlung wurde zunächst als Punkt 1) folgendes festgehalten:
"Vor Erteilung der Baubewilligung ist vom Gemeinderat ein Beschluß zu erwirken, in dem der Bauwerber die Aufstellung von 7 Stück a 50.000 l u. 4 Stück a 30.000 l Tankbehälter beabsichtigt zu errichten."
Für den Fall, daß ein positiver Beschluß erwirkt werde, wurde die Vorlage eines Einreichplanes gefordert, in dem die Lage der Tanks, sämtliche Ansichten mit einem endgültigen Verbauungsvorschlag und die komplette Abwasserbeseitigung darzustellen seien. An der Seite "des X-Vereines" (eines Nachbarn) sei eine Einfriedungsmauer mit einer Gesamthöhe von ca. 3 m und an der Grundgrenze des Anrainers W eine solche in 2 m Höhe zu errichten. Diese Einfriedungsmauer sei so auszustatten, daß eventuellen Belastungen durch die Lagerungen standgehalten werde. Die Sichtflächen an den Anrainerseiten seien zu verputzen. Von der Amtsabordnung wurden noch weitere Auflagen sowie die Vorlage von Attesten und Gutachten als erforderlich angesehen. An dieser Verhandlung nahm der Niederschrift zufolge auch ein Bausachverständiger teil.
Mit Bescheid vom 4. September 1990 erteilte der Bürgermeister die baubehördliche Bewilligung zur Aufstellung von Weintanks "lt. eingereichten Plan" unter Bezugnahme auf das Ergebnis der Bauverhandlung "sowie Kenntnisnahme des Gemeinderates vom 3.9.1990" (ein diesbezüglicher, wohl nicht erforderlicher Gemeinderatsbeschluß erliegt nicht bei den Verwaltungsakten). Dieser Bescheid wurde dem Beschwerdeführer am 4. September 1990 zugestellt.
Mit Schreiben vom 4. September 1990 teilte der Bürgermeister dem Beschwerdeführer mit, daß mit der Ausfertigung des Baubewilligungsbescheides die Bausperre vom 20. August 1990 aufgehoben werde. Im eigenen Interesse werde ersucht, die "Bescheidfrist" von 14 Tagen einzuhalten; sollte während dieser Zeit eine Berufung der Anrainer einlangen, so müsse ein neuerlicher Baustopp bis zur Entscheidung der Baubehörde zweiter Instanz "abgewartet" werden.
Am 17. September 1990 erhoben Nachbarn Berufung. Mit Bescheid des Bürgermeisters vom 19. September 1990 wurde dies dem Beschwerdeführer mitgeteilt. Mit Eingabe vom 30. Oktober 1990 zogen die Nachbarn ihre Berufung zurück.
Am 22. Oktober 1990 nahm ein Amtssachverständiger des NÖ Gebietsbauamtes I - Korneuburg auf Ersuchen der Bezirkshauptmannschaft einen Augenschein vor, bei dem festgestellt wurde, daß elf 50.000 l fassende Weintanks aus glasfaserverstärktem Polyester auf betonierten Fundamenten aufgestellt worden seien. In einem Gutachten vertrat der Amtssachverständige die Auffassung, daß die errichteten Weintanks angesichts des verwendeten Materials, des äußeren Erscheinungsbildes und ihrer Höhe aus der Sicht des Naturschutzsachverständigen sicher eine dauernde und maßgebliche Beeinträchtigung des Landschaftsbildes darstellten. In diesem Zusammenhang wurde auch auf Bestimmungen des NÖ Naturschutzgesetzes verwiesen. In Ausführungen unter dem Titel "Zusatz zum Gutachten" wurde festgestellt, eine Durchsicht des Bauaktes im Gemeindeamt habe ergeben, daß im Verfahren vor der Baubehörde weder die Frage der Flächenwidmung behandelt, noch das Bauvorhaben hinsichtlich der §§ 61 und 120 der Bauordnung für Niederösterreich (BO) überprüft worden sei.
Ohne weiteres Ermittlungsverfahren hob die Bezirkshauptmannschaft mit Bescheid vom 7. November 1990 die genannte Baubewilligung wegen Gesetzwidrigkeit auf. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Bürgermeister als Baubehörde erster Instanz sei durch eine Beschwerde von Anrainern davon in Kenntnis gesetzt worden, daß der Beschwerdeführer ein Weintanklager errichte. Auf Betreiben des Bürgermeisters habe der Beschwerdeführer dann ein Bauansuchen eingebracht. Auf Grund des Bauansuchens habe die Baubehörde erster Instanz am 27. August 1990 eine mündliche Verhandlung an Ort und Stelle durchgeführt. Bei dieser Verhandlung seien vom anwesenden Bausachverständigen verschiedene Auflagen angeführt worden, ohne eine fachliche Beurteilung des Projektes vorzunehmen. Die Grundflächen seien nach dem Flächenwidmungsplan als Grünland mit der Nutzungsart Landwirtschaft gewidmet. Eine Beurteilung des Bauansuchens im Hinblick auf die gegebene Flächenwidmung sei nicht vorgenommen worden. Es sei auch keine Beurteilung der Frage erfolgt, ob durch das Bauwerk das Orts- bzw. Landschaftsbild gestört werde, oder das geplante Vorhaben zur bestehenden Bebauung in einem auffallenden Widerspruch stehe. Dennoch habe der Bürgermeister mit Bescheid vom 4. September 1990 die Baubewilligung erteilt. Die Bezirkshauptmannschaft verwies ferner auf das Gutachten des "Amtssachverständigen für Naturschutz", der festgestellt habe, daß die errichteten Weintanks eine maßgebliche Beeinträchtigung des Landschaftsbildes darstellten. Bei Berücksichtigung der (wiedergegebenen) Bestimmungen der §§ 61, 100 Abs. 2 und 120 Abs. 3 und 4 BO sowie des § 19 des NÖ Raumordnungsgesetzes (ROG) komme die Aufsichtsbehörde zu dem Schluß, daß diese Bestimmungen nicht beachtet worden seien bzw. entgegen diesen Bestimmungen eine Baubewilligung erteilt worden sei. Die Baubehörde hätte bereits im Verfahren gemäß § 98 BO zu prüfen gehabt, ob dem Bauvorhaben der Flächenwidmungsplan bzw. eine andere Bestimmung dieses Gesetzes oder einer Durchführungsverordnung entgegenstehe. Gemäß § 118 Abs. 4 BO leiden Bescheide, welche u.a. entgegen der Bestimmung des § 100 Abs. 2 erlassen worden seien, an einem mit Nichtigkeit bedrohten Fehler. Gemäß § 93 Abs. 1 lit. d der NÖ Gemeindeordnung könnten von der Aufsichtsbehörde von Amts wegen rechtskräftige gesetzwidrige Bescheide in Handhabung des Aufsichtsrechtes aufgehoben werden, wenn der Bescheid an einem durch gesetzliche Vorschrift ausdrücklich mit Nichtigkeit bedrohten Fehler leide. Auf Grund der aufgezeigten Sach- und Rechtslage habe daher die Aufsichtsbehörde die vom Bürgermeister erteilte Baubewilligung wegen Gesetzwidrigkeit spruchgemäß aufzuheben. Wenn § 118 Abs. 4 Z. 2 BO bestimme, daß eine Aufhebung wegen Nichtigkeit nur bis zum Baubeginn möglich sei, so sei im vorliegenden Fall darauf hinzuweisen, daß der tatsächliche Baubeginn vor Erteilung einer rechtskräftigen Bewilligung erfolgt und daher nicht als rechtlicher Baubeginn im Sinne der NÖ Bauordnung anzusehen sei. In diesem Zusammenhang werde auf § 106 Abs. 1 BO verwiesen, in dem ausdrücklich festgehalten werde, daß vor Rechtskraft eines Baubewilligungsbescheides mit der Ausführung des Vorhabens nicht begonnen werden dürfe. Außerdem würde es der allgemeinen Rechtsauffassung widersprechen, wenn jemand durch ein gesetztes Unrecht in den Genuß einer im Gesetz vorgesehenen Rechtswohltat gelangen würde.
Die dagegen vom Beschwerdeführer erhobene Berufung wies die NÖ Landesregierung mit dem nunmehr in Beschwerde gezogenen Bescheid als unbegründet ab. Nach kurzer Wiedergabe des Verwaltungsgeschehens führte die Gemeindeaufsichtsbehörde zweiter Instanz in Widerlegung eines Vorbringens des Beschwerdeführers aus, daß die Bezirkshauptmannschaft auf Grund der Vorschrift des § 93 Abs. 1 lit. d der NÖ Gemeindeordnung 1973 zur Aufhebung rechtskräftiger gesetzwidriger Bescheide in Handhabung des Aufsichtsrechtes zuständig sei, wenn der Bescheid an einem durch gesetzliche Vorschrift ausdrücklich mit Nichtigkeit bedrohten Fehler leidet. Diese Bestimmung entspreche inhaltlich der des § 68 Abs. 4 lit. d AVG. Die Landesregierung teilte die Auffassung der Verwaltungsbehörde erster Instanz, daß die Prüfung der Übereinstimmung der Weintanks mit dem Flächenwidmungsplan unterblieben sei. Es hätte im Bauverfahren auch geprüft werden müssen, ob im Sinne des § 61 BO die Weintanks das Orts- und Landschaftsbild erheblich stören. Weiters sei die Prüfung, ob die Weintanks in einem auffallenden Widerspruch zur bestehenden Bebauung im Sinne des § 120 Abs. 3 und 4 BO stünden, unterblieben. Zur Prüfung der vorgenannten Fragen sei die Einholung von Sachverständigengutachten erforderlich gewesen, wie § 99 Abs. 2 BO normiere. Somit sei der Baubewilligungsbescheid entgegen den Bestimmungen des § 99 Abs. 2 sowie des § 100 Abs. 2 BO erlassen worden und leide gemäß § 118 Abs. 4 desselben Gesetzes an einem mit Nichtigkeit bedrohten Fehler. Auf Grund dieser Erwägungen stehe für die Berufungsbehörde fest, daß die Bezirkshauptmannschaft die Baubewilligung zu Recht für nichtig erklärt habe.
In seiner Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof beantragt der Beschwerdeführer, den angefochtenen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Über diese Beschwerde sowie über die von der belangten Behörde erstattete Gegenschrift hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:
Nach § 86 Abs. 1 der NÖ Gemeindeordnung 1973 ist Aufsichtsbehörde erster Instanz die Bezirkshauptmannschaft. Nach § 93 Abs. 1 lit. d der NÖ Gemeindeordnung 1973 kann ein rechtskräftiger gesetzwidriger Bescheid einer Gemeindebehörde von der Aufsichtsbehörde von Amts wegen in Handhabung des Aufsichtsrechtes aufgehoben werden, wenn der Bescheid an einem durch gesetzliche Vorschrift ausdrücklich mit Nichtigkeit bedrohten Fehler leidet.
Auf Grund dieser gesetzlichen Bestimmungen ergibt sich zunächst, daß die Bezirkshauptmannschaft im vorliegenden Fall zu Recht als Gemeindeaufsichtsbehörde tätig geworden ist. Die Möglichkeit der Aufhebung rechtskräftiger Bescheide von Gemeindebehörden darf nicht mit der Möglichkeit der Anrufung der Landesregierung als Vorstellungsbehörde im Sinne des § 61 der NÖ Gemeindeordnung 1973 verwechselt werden, wie dies in der Beschwerde geschehen ist. Im Beschwerdefall war ja auch nicht eine Vorstellung gegen einen letztinstanzlichen Gemeindebescheid zu erledigen, sondern die Gemeindeaufsichtsbehörde erster Instanz hat von Amts wegen einen ihrer Meinung nach gesetzwidrigen Gemeindebescheid aufgehoben.
Der Beschwerdeführer behauptet weiters, daß eine gesetzliche Grundlage für die Aufhebung des rechtskräftigen Bescheides der Baubehörde nicht gegeben sei. Diesen Ausführungen kommt im Ergebnis Berechtigung zu.
Nach § 118 Abs. 4 der NÖ Bauordnung 1976 (BO), LGBl. 8200-0 in der Fassung der Novelle LGBl. 8200-6, leiden Bescheide, welche entgegen den Bestimmungen des Abs. 3 und des § 9 Abs. 4, § 10 Abs. 6 und 7, § 18 Abs. 2, § 20, § 99 Abs. 1 und 2, § 99a sowie § 100 Abs. 2 erlassen wurden, an einem mit Nichtigkeit bedrohten Fehler. Eine Aufhebung ist jedoch nur möglich
1. in den Fällen des § 10 bis zur Durchführung im Grundbuch und
2. in allen übrigen Fällen bis zum Baubeginn gemäß § 106 Abs. 1.
Nach § 106 Abs. 1 BO darf vor Rechtskraft der Bescheide gemäß §§ 92, 93 und 101 mit der Ausführung des Vorhabens nicht begonnen werden. Als Zeitpunkt des Baubeginnes gilt jener Tag, an dem mit den Erd- oder Bauarbeiten begonnen wird, die der Verwirklichung des Vorhabens dienen. Von diesem Zeitpunkt an bis zur Bauvollendung darf die zur Ausführung des Vorhabens erforderliche Baustelleneinrichtung ohne weitere Bewilligung aufgestellt werden.
Bei der Auslegung der hier maßgeblichen Gesetzesstellen ist zunächst klarzustellen, daß nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes und Verwaltungsgerichtshofes keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die gesetzliche Ermächtigung der Gemeindeaufsichtsbehörde bestehen, rechtskräftige Bescheide einer Gemeindebehörde unter bestimmten Voraussetzungen aufzuheben (vgl. etwa die Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes vom 1. Juli 1971, Slg. 6494, vom 27. Jänner 1977, Slg. 7978, vom 22. Oktober 1980, Slg. 8929, u. a., sowie des Verwaltungsgerichtshofes vom 11. Juni 1981, Zl. 06/1737/79, vom 19. September 1991, Zl. 90/06/0022, u.a.). In seinem Erkenntnis vom 12. Dezember 1989, Zl. 89/05/0130, ergangen zu § 103 Abs. 1 der O.ö. Gemeindeordnung, hat der Verwaltungsgerichtshof darauf verwiesen, daß der Gesetzgeber, der Eingriffe in die Rechtskraft von Bescheiden ermöglicht, eine sorgfältige Abwägung zwischen den Interessen der Rechtssicherheit und den Forderungen nach Rechtsrichtigkeit vorzunehmen hat. Unter Hinweis auf Art. 119 Abs. 7 letzter Satz B-VG, wonach Aufsichtsmittel unter möglichster Schonung erworbener Rechte Dritter zu handhaben sind, hat der Gerichtshof näher ausgeführt, daß ein solches Aufsichtsrecht Schranken unterliegt und eine solche gesetzliche Ermächtigung zu Eingriffen in rechtskräftige Bescheide restriktiv auszulegen ist. In seinem Erkenntnis vom 23. Jänner 1992,
Zlen. 91/06/0164, 0175, ergangen zu § 113 der Tiroler Gemeindeordnung, hat der Verwaltungsgerichtshof aus Art. 119 Abs. 7 B-VG ein Gebot der Verhältnismäßigkeit des Eingriffes in erworbene Rechte abgeleitet. Im Hinblick auf diese Entscheidungen sind gesetzliche Bestimmungen, die Eingriffe in rechtskräftige Bescheide ermöglichen, einschränkend auszulegen.
Ausdrücklich hat nun der niederösterreichische Landesgesetzgeber im § 119 Abs. 4 BO auch für rechtskräftige Baubewilligungsbescheide bei einem Verstoß gegen bestimmte gesetzliche Anordnungen die Möglichkeit einer Nichtigerklärung (im Sinne des § 68 Abs. 4 lit. b AVG) vorgesehen. Nach Z. 2 dieser Gesetzesstelle ist jedoch die Aufhebung (in allen übrigen Fällen) nur bis zum Baubeginn gemäß § 106 Abs. 1 (BO) möglich. Folgt man der Ansicht, daß ein Baubeginn im Sinne des § 106 Abs. 1 BO nur dann gegeben ist, wenn nach Rechtskraft einer Baubewilligung mit der Verwirklichung des bewilligten Bauvorhabens begonnen wird, so kann dies zu der von der belangten Behörde vertretenen Auffassung führen, daß die Aufhebung nachträglich erteilter Baubewilligungen ohne zeitliche Beschränkung für die Dauer des Bestandes der Baulichkeit, also auch noch nach Jahrzehnten, zulässig wäre. Schon die aufgezeigten verfassungsrechtlichen Erwägungen sprechen gegen eine solche Auslegung des Gesetzes. Eine restriktive und verfassungskonforme Auslegung führt zu dem Ergebnis, daß der Gesetzgeber die Nichtigerklärung von Bescheiden für den Fall des Vorliegens der erschöpfend aufgezählten Gründe nur befristet als zulässig erklärte, die Aufhebung also nur innerhalb eines (sehr) beschränkten Zeitraumes "möglich" ist. Im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsschutzes des Bescheidadressaten wäre auch nicht einzusehen, daß bei nachträglichen Baubewilligungen eine zeitlich unbefristete Nichtigerklärung zulässig sein sollte. Der Verweis auf den Baubeginn nach § 106 im § 118 Abs. 4 Z. 2 BO ist daher nur so zu verstehen, daß damit zum Ausdruck gebracht werden sollte, wann ein "Baubeginn" im Sinne des Gesetzes gegeben ist, nämlich mit demjenigen Tag, an dem mit den Erd- oder Bauarbeiten begonnen wird, die der Verwirklichung des Vorhabens dienen. Zusammenfassend hält daher der Verwaltungsgerichtshof bei nachträglich erteilten Baubewilligungen eine Nichtigerklärung nach § 118 Abs. 4 Z. 2 BO für nicht zulässig.
Mit der Auslegung der genannten Bestimmung hat sich der Verwaltungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom 6. November 1990, Zl. 90/05/0129, auseinandergesetzt und schon damals im Interesse des Rechtsschutzes des Einzelnen die Auffassung der belangten Behörde abgelehnt, daß die Durchführung bloß geringfügiger Bauarbeiten vor Erteilung der Baubewilligung die Aufhebung eines rechtskräftigen Bescheides auch noch nach Jahren ermöglichen solle. Schon damals hat der Gerichtshof die Auffassung vertreten, daß nicht jede Tätigkeit vor Rechtskraft des Baubewilligungsbescheides als Baubeginn im Sinne der genannten Gesetzesstelle in Betracht komme, was freilich nicht bedeutet, daß bei der Erteilung von Baubewilligungen nach Baubeginn eine Nichtigerklärung zeitlich unbeschränkt möglich ist.
Schon aus den aufgezeigten Erwägungen erweist sich der angefochtene Bescheid mit einer inhaltlichen Rechtswidrigkeit belastet, weshalb er gemäß 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben war.
Bemerkt sei noch, daß nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes auch keine Verletzung des § 99 Abs. 2 BO, wonach von der Aufnahme des Beweises durch Sachverständige bei der Bauverhandlung nicht abgesehen werden kann, erfolgt ist. Die Gemeindebehörde erster Instanz hat nämlich zur anberaumten mündlichen Verhandlung einen Sachverständigen beigezogen und dieser Sachverständige hat unter Vorschreibung von Auflagen das Bauvorhaben als bewilligungsfähig erachtet. Der Umstand, daß der Sachverständige ein ausdrückliches Gutachten zu den von der belangten Behörde aufgeworfenen Fragen nicht abgegeben hat, stellt noch keine Verletzung des § 99 Abs. 2 BO dar, bedeutet diese Gesetzesstelle doch nicht, daß hinsichtlich jeder denkmöglichen Frage der Übereinstimmung des Projekts mit den Bauvorschriften ein Gutachten erstattet werden müßte.
Der Zuspruch von Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff. VwGG und die Verordnung BGBl. Nr. 104/1991.
Schlagworte
Anforderung an ein Gutachten Rechtskraft Umfang der Rechtskraftwirkung Allgemein Bindung der Behörde Sachverständiger Erfordernis der Beiziehung Techniker Bautechniker Ortsbild LandschaftsbildEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1992:1991050065.X00Im RIS seit
11.07.2001