TE Vwgh Erkenntnis 1992/3/25 90/13/0238

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Veröffentlicht am 25.03.1992
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG);
32/01 Finanzverfahren allgemeines Abgabenrecht;
32/02 Steuern vom Einkommen und Ertrag;
40/01 Verwaltungsverfahren;

Norm

AVG §69 Abs1;
AVG §69 Abs3;
BAO §184 Abs1;
BAO §20;
BAO §303 Abs1;
BAO §303 Abs4;
B-VG Art130 Abs2;
EStG 1972 §27;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schubert und die Hofräte Dr. Pokorny, Dr. Fellner, Dr. Hargassner und Mag. Heinzl als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Cerne, über die Beschwerde des NN in W, vertreten durch Dr. L, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid (Berufungsentscheidung) der Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland, Berufungssenat VII, vom 1. Juni 1990, GZ. 6/3-3327/89-09, betreffend Wiederaufnahme des Verfahrens hinsichtlich Einkommensteuer 1986, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 11.480,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer beantragte in der Einkommensteuererklärung für 1986 Steuerermäßigung wegen außergewöhnlicher Belastung im Sinne des § 34 EStG 1972 aus Anlaß von Unterhaltsleistungen an die geschiedene Ehegattin und an ein Kind in Höhe von zusammen S 195.260,--. Mit Bescheid des Finanzamtes vom 29. Juni 1987 wurde eine Überbelastung im Ausmaß von S 121.435,-- gemäß § 34 EStG 1972 einkommensmindernd berücksichtigt.

In der Folge hob die Finanzlandesdirektion für Wien, Niederösterreich und Burgenland den Einkommensteuerbescheid 1986 nach § 299 Abs. 1 lit. c und Abs. 2 BAO auf. Dieser Aufhebungsbescheid wurde mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 8. Februar 1989, 88/13/0172, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

In einer sodann über Aufforderung des Finanzamtes eingereichten Vermögensteuererklärung zum 1.1.1986 wurde u.a. ein Bankguthaben von S 27.448,--, ein Sparguthaben des Beschwerdeführers in Höhe von S 1.109,-- und ein Sparguthaben seiner (nunmehrigen) Ehegattin in Höhe von S 2.242,-- erklärt. In einer Eingabe vom 12. Mai 1989 wurde ausgeführt, daß die 1986 zugeflossenen Sparzinsen unter dem entsprechenden Freibetrag gelegen seien.

In der Folge verfügte das Finanzamt die Wiederaufnahme des Verfahrens und erließ einen neuerlichen Einkommensteuerbescheid für 1986, in dem eine Überbelastung in Höhe von S 6.314,-- ausgewiesen wurde. Begründet wurde die Wiederaufnahme des Verfahrens damit, dem Finanzamt sei durch die Vermögensteuererklärung zum 1.1.1986 bekanntgeworden, daß zu diesem Stichtag Sparguthaben vorhanden gewesen seien. Da die Höhe der Zinsen nicht bekanntgegeben worden sei, würden sie mit S 1.000,-- geschätzt. Damit erhöhe sich die Bemessungsgrundlage der zumutbaren Mehrbelastung.

Mit dem in Beschwerde gezogenen Bescheid wurde die gegen den Wiederaufnahmebescheid und den berichtigten Einkommensteuerbescheid 1986 erhobene Berufung als unbegründet abgewiesen. Begründet wurde der Bescheid insbesondere damit, daß zwar lediglich ein in seinen steuerlichen Auswirkungen geringfügiger Wiederaufnahmegrund vorliege, die Gesamtnachforderung zumindest durch ein Mitverschulden der Abgabenbehörde erster Instanz verursacht worden sei, die Wiederaufnahme des Verfahrens sich hinsichtlich der Berücksichtigung (weiterer) Sonderausgaben zugunsten des Beschwerdeführers auswirke, dem Beschwerdeführer aber kein unverdienter steuerlicher Nachteil erwachse, der Wiederaufnahmegrund - wenn auch geringe - Bedeutung für die Folgejahre habe, der Beschwerdeführer seine Mitwirkungspflicht betreffend die Bekanntgabe der Höhe der zugeflossenen Zinsen mangelhaft erfüllt habe und daß gegen die Belassung des Einkommensteuerbescheides im Rechtsbestand die Bestimmungen der §§ 114, 115 BAO, insbesondere das Interesse an der Einbringung der Abgaben sowie der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, sprächen.

Mit Beschluß des Verfassungsgerichtshofes vom 24. September 1990, B 872/90-3, wurde die Behandlung der Beschwerde gegen den Bescheid der belangten Behörde abgelehnt und die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

In der Beschwerdeergänzung werden Rechtswidrigkeit des Inhaltes des angefochtenen Bescheides sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 303 Abs. 4 BAO ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens von Amts wegen unter den Voraussetzungen des Abs. 1 lit. a und c und in allen Fällen zulässig, in denen Tatsachen oder Beweismittel neu hervorkommen, die im Verfahren nicht geltend gemacht worden sind, und die Kenntnis dieser Umstände allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens einen im Spruch anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätte.

Die Wiederaufnahme des Verfahrens führt stets zur gänzlichen Beseitigung des früheren Bescheides, der das nunmehr wiederaufgenommene Verfahren zum Abschluß brachte. Dies hat zur Folge, daß dann, wenn auf Grund irgendeiner neu hervorgekommenen Tatsache die Wiederaufnahme des Verfahrens zulässig war, im wiederaufgenommenen Verfahren auch eine Änderung der übrigen Bescheidgrundlagen und Bescheidelemente erfolgen kann, hinsichtlich derer das Vorliegen von neuen Tatsachen und Beweismitteln nicht gegeben ist (vgl. die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 17. Februar 1988, 87/13/0039, und vom 28. Februar 1989, 89/14/0019).

Bei der amtswegigen Wiederaufnahme eines Abgabenverfahrens handelt es sich um eine Ermessensentscheidung, deren Rechtmäßigkeit unter Bedachtnahme auf die Bestimmung des § 20 BAO zu beurteilen ist (vgl. die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 21. Dezember 1989, 86/14/0180, und vom 19. September 1990, 89/13/0245). Gemäß § 20 BAO sind Ermessensentscheidungen innerhalb der vom Gesetz gezogenen Grenzen des Ermessens nach Billigkeit und Zweckmäßigkeit unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände zu treffen. Dabei ist dem Gesetzesbegriff "Billigkeit" die Bedeutung von "Angemessenheit" in bezug auf berechtigte Interessen der Partei und dem Begriff "Zweckmäßigkeit" das "öffentliche Interesse insbesondere an der Einhebung der Abgaben" beizumessen (vgl. z.B. die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 14. März 1990, 89/13/0115, und vom 21. September 1990, 89/17/0050).

Bei einer derartigen im Rahmen der Ermessensübung vorzunehmenden Interessensabwägung verbietet eine Geringfügigkeit der hervorgekommenen neuen Tatsachen in der Regel den Gebrauch der Wiederaufnahmemöglichkeit (vgl. das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 26. November 1991, 91/14/0179). Im Falle des Beschwerdeführers ist auf Grund der von ihm eingereichten Vermögensteuererklärung zum 1.1.1986 neu hervorgekommen, daß er zu diesem Stichtag über ein Bankguthaben auf einem Girokonto in Höhe von S 27.448,-- sowie ein Sparguthaben in Höhe von S 1.109,-- verfügte. Die Ehegattin des Beschwerdeführers war zu demselben Zeitpunkt Eigentümerin eines Sparguthabens von S 2.242,--. Die Kenntnis des Bestandes eines Girokontos stellt dabei keinen Umstand dar, der - ohne Durchführung weiterer Erhebungen - zu einem im Spruch anders lautenden Einkommensteuerbescheid hätte führen können. Bei der Schätzung von Einkünften aus Kapitalvermögen hat die belangte Behörde außer acht gelassen, daß Giralgeld - wenn überhaupt - nur äußerst gering verzinst wird, sodaß ein Überwiegen der Habenzinsen gegenüber den mit der Führung des Girokontos verbundenen Aufwendungen nicht von vornherein angenommen werden kann. Die beiden Sparguthaben von S 1.109,-- bzw. S 2.242,-- lassen zwar darauf schließen, daß - im Beschwerdefall gemäß § 27 Abs. 4 EStG 1972 steuerfreie - Zinsen aus diesen Sparguthaben angefallen sind, die bei der Feststellung der zumutbaren Mehrbelastung im Sinne des § 34 Abs. 5 EStG 1972 zu berücksichtigen waren. Zinsen aus Sparguthaben in der angeführten Höhe und ihre steuerlichen Auswirkungen sind aber jedenfalls als im Sinne des erwähnten Erkenntnisses vom 26. November 1991, 91/14/0179, geringfügig zu betrachten. Daraus folgt, daß die belangte Behörde bei der Entscheidung über die Wiederaufnahme des Verfahrens das ihr eingeräumte Ermessen nicht im Sinne des Gesetzes ausgeübt hat, zumal sie keine stichhaltigen Gründe für eine Ermessensübung im Sinne der amtswegigen Wiederaufnahme des Verfahrens ins Treffen führen konnte.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben, ohne daß auf die weiteren Beschwerdeausführungen eingegangen werden mußte. Von der Durchführung der beantragten Verhandlung konnte aus den Gründen des § 39 Abs. 2 Z. 6 VwGG abgesehen werden.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 104/1991. Der Ersatz von Stempelgebühren nach § 48 Abs. 1 Z. 1 VwGG war dabei auf die Gebühren für die Beschwerdeergänzung beschränkt. Die übrigen verzeichneten Stempelgebühren fielen bereits im Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof an.

Schlagworte

Ermessen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1992:1990130238.X00

Im RIS seit

25.03.1992
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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