Index
L9 Sozial- und GesundheitsrechtNorm
B-VG Art7 Abs1 / Gesetz / Verletzung keineLeitsatz
Kein Verstoß des §26 Abs2 Wr. BehindertenG 1986 gegen das Gleichheitsgebot; Anpruchsvoraussetzungen für Pflegegeld der Stufe 1 nicht unsachlichSpruch
Dem Antrag wird nicht Folge gegeben.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1.a) Beim Verwaltungsgerichtshof ist zur Zl. 88/11/0248 das Verfahren über eine an ihn gerichtete Beschwerde anhängig. Diese wendet sich gegen einen (im Instanzenzug ergangenen) Bescheid der Wiener Landesregierung, mit dem der Antrag des Beschwerdeführers abgewiesen wurde, ihm gemäß §26 Abs2 des Wiener Behindertengesetzes 1986, LGBl. 16, Pflegegeld der Stufe I zu gewähren.
b) aa) Der Verwaltungsgerichtshof stellt gemäß Art140 Abs1 B-VG an den Verfassungsgerichtshof den Antrag, §26 Abs2 des Wr. BehindertenG 1986 als verfassungswidrig aufzuheben.
bb) Diese Bestimmung lautet in ihrem Zusammenhang:
"§26 (1) Einem Behinderten, der infolge von Leiden und Gebrechen pflegebedürftig ist und das 15. Lebensjahr vollendet hat, ist nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen ein Pflegegeld zu gewähren.
(2) Pflegegeld der Stufe I ist Behinderten zu gewähren, die für lebenswichtige, wiederkehrende Verrichtungen ständig sowohl der Wartung als auch der Hilfe bedürfen.
(3) Pflegegeld der Stufe II ist Behinderten zu gewähren die dauernd bettlägrig sind oder für die lebenswichtigen, wiederkehrenden Verrichtungen ununterbrochen und nachhaltig sowohl der Wartung als auch der Hilfe bedürfen."
cc) Der antragstellende Verwaltungsgerichtshof geht davon aus, daß die angefochtene landesgesetzliche Bestimmung in dem bei ihm anhängigen Beschwerdeverfahren präjudiziell sei.
Er hegt gegen die erwähnte Vorschrift die folgenden verfassungsrechtlichen Bedenken:
"Die Wiener Landesregierung vertritt im angefochtenen Bescheid zur Wendung 'sowohl der Wartung als auch der Hilfe bedürfen' die Auffassung, die Begriffe Wartung und Hilfe seien zwei voneinander zu trennende selbständige Begriffe. Für einen Anspruch auf Pflegegeld der Stufe I genüge es nicht, wenn eine Person entweder nur Wartung oder nur Hilfe benötige. Pflegebedürftigkeit sei erst anzunehmen, wenn sie sowohl der Wartung als auch der Hilfe bedürfe.
Für diese Ansicht sprechen neben dem Wortlaut auch die Gesetzesmaterialien. Wie sich aus den Erläuternden Bemerkungen zum Entwurf einer 3. Behindertengesetz-Novelle, Beilage Nr. 13 aus 1976, ergibt, nahm der Wiener Landesgesetzgeber hinsichtlich des Begriffspaares 'Wartung und Hilfe' auf die Rechtsprechung zum §105a ASVG Bezug. Damit wurde offenkundig auf die Auslegung dieser darin enthaltenen Begriffe durch das OLG Wien als das damals zuständige Höchstgericht abgestellt. Nach dieser Rechtsprechung war zwischen Wartung, worunter alle jene Handreichungen und Verrichtungen dritter Personen zu verstehen sind, die unbedingt erforderlich sind, um die betreffende Person vor dem sonst drohenden Untergang zu bewahren und die unmittelbar die Person betreffen und nicht unterbleiben dürfen, soll nicht ihre Existenz unmittelbar bedroht sein (Hilfeleistungen beim An- und Auskleiden, bei der Körperreinigung und -pflege, beim Essen, bei der Verrichtung der Notdurft, bei der Zubereitung des Essens und der Beheizung des Wohnraums), und Hilfe zu unterscheiden. Unter dem letztgenannten Begriff waren alle Verrichtungen, die mehr den sachlichen Lebensbereich betreffen, wie etwa die Besorgung von Nahrungsmitteln, Medikamenten und Heizmaterial, die gründliche Reinigung der Wohnung, das Waschen der Leib- und Bettwäsche und ähnliches zu verstehen. Anspruch auf Hilflosenzuschuß hatte demnach nur, wer sowohl der Wartung als auch der Hilfe im umschriebenen Sinn bedurfte. Keinen Anspruch hatten Personen, bei denen nur eine der beiden Bedarfskomponenten gegeben war.
Von dieser Rechtsprechung ging der durch das ASGG zuständig gewordene OGH mit Urteil vom 22. Oktober 1987, 10 Ob S 59/87 (ZAS 1988, 53), ab. Der OGH verwies in diesem Urteil ausdrücklich auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Auslegung des Begriffspaares 'Wartung und Hilfe' im §27 Abs1 des Pensionsgesetzes. In Übereinstimmung damit erkannte er zu Recht, daß 'Wartung und Hilfe' nicht zwei voneinander zu trennende selbständige Begriffe seien, sondern im Sinne eines einheitlichen Begriffes der Hilfsbedürftigkeit zu verstehen sind. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur wortgleichen Wendung in §33 Abs3 des NÖ Sozialhilfegesetzes (Erkenntnis vom 20. November 1985, Slg. Nr. 11952/A).
§26 Abs2 des Wiener Behindertengesetzes 1986 läßt sich nicht in dieser Weise auslegen. Dagegen sprechen der Wortlaut, der eine Zusammenfassung beider Wörter in einen einheitlichen Begriff ausschließt, indem dezidiert ('sowohl .... als auch') dem einen Begriff der andere als zusätzliche Anspruchsvoraussetzung an die Seite gestellt wird, und die vorhin erwähnten Gesetzesmaterialien.
Der Verwaltungsgerichtshof vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, daß die Änderung der Rechtsprechung zu §105a ASVG im Sinne einer verfassungskonformen Auslegung notwendig war. Es erscheint dem Verwaltungsgerichtshof unsachlich - und damit dem Gleichheitsgrundsatz widersprechend -, bei der Gewährung von Behindertenhilfe bereits dem Grunde nach zu differenzieren, ob die Hilfsbedürftigkeit von einem Bedarf nach Wartung und Hilfe oder nur von der Notwendigkeit der Wartung oder der Hilfe herrührt. Die Pflege, deren ein Behinderter bedarf, soll ihn vor dem Tod oder dem 'Verkommen', also in seiner menschlichen Existenz, bewahren. Nun kann es keinen Unterschied machen, ob dem Behinderten diese Gefahren drohen, weil etwa zu seinem Bedarf nach Hilfe auch ein Bedarf nach Wartung tritt, oder ob er zwar nicht der geschilderten unmittelbaren Betreuung seiner Person bedarf, aber - ständig - auf die Hilfe einer dritten Person, die ihm Kosten verursacht, deshalb angewiesen ist, weil er der Gefahr des Todes oder des 'Verkommens' etwa dadurch ausgesetzt ist, daß er sich Lebensmittel, Medikamente oder Heizmaterialien nicht selbst beschaffen kann. Es steht dem Gesetzgeber grundsätzlich frei, bei Maßnahmen der Behindertenhilfe in Ansehung der anspruchsbegründenden Bedürftigkeit und in Ansehung von Art und Ausmaß der Hilfe unterscheidende Maßstäbe zu normieren. Er darf aber nicht - wie es hier geschehen ist - bei gleichgelagertem Bedarf zur Sicherung der menschlichen Existenz Gruppen von Bedürftigen schaffen und eine davon bereits dem Grunde nach vom Anspruch auf Hilfe ausschließen."
2. Die Wiener Landesregierung erstattete im Gesetzesprüfungsverfahren eine Äußerung.
Sie begehrt, den Antrag des Verwaltungsgerichtshofes abzuweisen.
II. Der Verfassungsgerichtshof hat über den - zulässigen - Gesetzesprüfungsantrag erwogen:
1. Das Wr. BehindertenG 1986 stellt eine Wiederverlautbarung des (Wiener) Behindertengesetzes, LGBl. 22/1966, zuletzt geändert durch die 5. BehindertenG-Novelle, LGBl. 45/1985, dar. Die angefochtene Bestimmung wurde durch die 3. BehindertenG-Novelle, LGBl. 32/1976, als §23 Abs2 geschaffen.
Die Erläuternden Bemerkungen zum Gesetzesentwurf (Beilage Nr. 13/1976) besagen hiezu:
"Gemäß §23 Abs2 des Wiener Behindertengesetzes in der bisherigen Fassung wird das Pflegegeld einem Behinderten gewährt, der infolge von Leiden oder Gebrechen 'dauernd bettlägerig ist oder dessen Zustand die ununterbrochene, nachhaltige Pflege durch eine andere Person erfordert.'
Die langjährige Praxis hat nun gezeigt, daß diese strenge Formulierung der Pflegebedürftigkeit in vielen Fällen zu sozialen Härten führt, weil auch die Berücksichtigung eines geringeren Grades von Pflegebedürftigkeit eine soziale Notwendigkeit darstellt. Die nunmehr vorgesehene Stufe I des Pflegegeldes soll daher Behinderte erfassen, die wohl nicht der ununterbrochenen und nachhhaltigen, aber doch der ständigen Wartung und Hilfe bedürfen. Bezüglich der Begriffspaare 'Wartung und Hilfe' einerseits und 'ständig und ununterbrochen' andererseits kann auf die in der Rechtsprechung des ASVG bereits entwickelten Unterscheidungskriterien in Zweifelsfällen zurückgegriffen werden. Die Wartung und Hilfe muß allerdings nicht unmittelbar erbracht werden, sondern es genügt auch die Anleitung durch eine andere Person. Damit werden auch geistig Behinderte, die zwar keiner ununterbrochenen Pflege, aber doch einer ständigen Beaufsichtigung und Anleitung bedürfen, erfaßt."
2.a) Nach dem Wortlaut und der geschilderten Entstehungsgeschichte kann die bekämpfte Vorschrift nur - was auch von den Verfahrensparteien nicht bestritten wird - dahin verstanden werden, daß die Worte "Wartung" und "Hilfe" voneinander zu trennende selbständige Begriffe sind, daß es also für einen Anspruch auf Pflegegeld der Stufe I nicht genügt, wenn eine Person entweder nur Wartung oder nur Hilfe benötigt; mit den Worten des Gesetzes, daß Pflegebedürftigkeit erst dann anzunehmen ist, wenn die Person sowohl der Wartung als auch der Hilfe bedarf.
b) Auch bei diesem Gesetzesinhalt sind die vom antragstellenden Gericht gegen §26 Abs2 Wr. BehindertenG 1986 vorgebrachten Bedenken nicht gerechtfertigt:
Der Prüfungsantrag wird im wesentlichen damit begründet, es verletze - offenbar wegen Widerspruchs zum Gleichheitsgrundsatz - die Bundesverfassung, bei gleichgelagertem Bedarf zur Sicherung der menschlichen Existenz Gruppen von Bedürftigen zu schaffen und eine davon bereits dem Grunde nach vom Anspruch auf Hilfe auszuschließen.
Der Verfassungsgerichtshof teilt diese Bedenken nicht: Selbst wenn von der im Prüfungsantrag - zutreffend - wiedergegebenen Rechtsprechung zur Auslegung der Begriffe "Wartung" und "Hilfe" ausgegangen wird, ist es nicht unsachlich, "Pflegegeld der Stufe I" nur in Fällen vorzusehen, in denen diese beiden Voraussetzungen vorliegen, nicht aber auch in Fällen, in denen nur eine der beiden Voraussetzungen gegeben ist. Dies auch dann, wenn das Bedürfnis nach "Hilfe" bedeuten kann, daß der Hilfsbedürftige zwar nicht der "Wartung" (der unmittelbaren Betreuung seiner Person) bedarf, wohl aber der (ständigen) Hilfe einer dritten Person (zB zur Beschaffung von Lebensmitteln und Medikamenten), ohne die er der Gefahr des Todes oder "Verkommens" ausgesetzt ist. Eine derartige oder ähnliche Hilfe verursacht zwar Kosten, die unter bestimmten Voraussetzungen (vgl. etwa §1 des Wr. BehindertenG) unabdingbar von der Gemeinschaft als Sozial- oder Behindertenhilfe getragen werden müssen. Keine Verfassungsvorschrift aber gebietet, diese Kosten als Pflegegeld nach dem Behindertengesetz zu übernehmen. Die Wiener Landesregierung weist in ihrer Äußerung darauf hin, daß das Wr. BehindertenG außer dem Pflegegeld verschiedene weitere Leistungen für Behinderte vorsieht, die dem soeben geschilderten Bedarf nach Hilfe Rechnung tragen. Vor allem aber sieht das Wiener Sozialhilfegesetz, LGBl. 11/1973 idF der Novelle LGBl. 17/1986, eine Reihe von finanziellen und Sachleistungen (Soziale Dienste wie Hauskrankenpflege (§22 Abs2 Z1), Hilfe zur Weiterführung des Haushaltes (§22 Abs2 Z3), Wohnheime (§22 Abs2 Z7, §22a) usw.) vor. Somit besteht für Behinderte die Möglichkeit einer großen Auswahl von Leistungsangeboten nach dem Wr. BehindertenG und gleichzeitig nach dem Wr. SozialhilfeG. So kann etwa auch ein Behinderter, der der oben geschilderten Hilfe der Gemeinschaft bedarf, derartige vom Wr. BehindertenG und vom Wr. SozialhilfeG angebotene Dienste in Anspruch nehmen, um solcherart - ohne Pflegegeld iS des Wr. BehindertenG zu erhalten - der Gefahr des Todes oder des "Verkommens" zu entgehen.
3. Die vom antragstellenden Gericht vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken treffen daher nicht zu.
Dem Antrag war sohin nicht Folge zu geben.
Schlagworte
BehinderteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1989:G84.1989Dokumentnummer
JFT_10108785_89G00084_00