Index
001 Verwaltungsrecht allgemein;Norm
ABGB §1332;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kirschner und die Hofräte Dr. Wetzel und Dr. Gruber als Richter, im Beisein des Schriftführers Kommissär Mag. Wochner, über den Antrag der XY-GenossenschaftmbH in W, zum Zeitpunkt der Erhebung der Beschwerde vertreten durch Dr. G, Rechtsanwalt in W, auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Einbringung einer Beschwerde gegen den Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 22. April 1988, Zl. R/1-V-87118, betreffend Aufschließungsbeitrag, den Beschluß gefaßt:
Spruch
Gemäß § 46 VwGG wird dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stattgegeben.
Begründung
Die Niederösterreichische Landesregierung wies mit dem angefochtenen Bescheid vom 22. April 1988 die Vorstellung der Beschwerdeführerin gegen den Bescheid des Gemeinderates der Stadtgemeinde Klosterneuburg vom 9. Juli 1987 (mit dem im Instanzenzug die Entrichtung eines Aufschließungsbeitrages vorgeschrieben wurde) als unbegründet ab.
Den angefochtenen Bescheid bekämpfte die Beschwerdeführerin mit Beschwerde vor dem Verfassungsgerichtshof gemäß Art. 144 B-VG. Der an den Verfassungsgerichtshof gerichtete Schriftsatz enthält auch den Antrag "um die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist für eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof gemäß Art. 144 B-VG betreffend den Bescheid der NÖ-Landesregierung vom 22. April 1988, R/1-V-87118, zugestellt am 5. Mai 1988, mit dem über unsere Vorstellung gegen den Bescheid des Gemeinderates der Stadtgemeinde Klosterneuburg als Abgabenbehörde II. Instanz vom 9. Juli 1987, Zl. IV/3-941-632/86, abweislich entschieden worden (ist), zu bewilligen".
Der Schriftsatz enthält weiters u.a. den in eventu gestellten Antrag "die Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof abzutreten, wobei vor diesem bereits jetzt eine mündliche Verhandlung beantragt und i.S. § 59 Abs. 3 VwGG Aufwandersatz in Form von Schriftsatzaufwand sowie für die tatsächlich entrichteten Stempelgebühren in gebührendem Ausmaß begehrt wird".
Der Verfassungsgerichtshof lehnte mit Beschluß vom 27. September 1988, B 1306, 1307/88-3, die Behandlung u.a. der gegenständlichen Beschwerde ab und trat sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab. In diesem Beschluß findet der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand insoweit Erwähnung, als sich (im Hinblick auf die Ablehnung der Beschwerde und deren Abtretung an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG) ein Abspruch über den Antrag, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zu ihrer Erhebung zu bewilligen, erübrige.
Da der Verfassungsgerichtshof über den an ihn gerichteten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefrist keine Entscheidung getroffen hat, ist zunächst die Frage zu beantworten, ob der Verwaltungsgerichtshof zuständig ist, über diesen Antrag zu entscheiden.
Nach Art. 144 Abs. 2 B-VG kann der Verfassungsgerichtshof die Behandlung einer Beschwerde bis zur Verhandlung durch Beschluß ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist. Die Ablehnung der Behandlung ist unzulässig, wenn es sich um einen Fall handelt, der nach Art. 133 von der Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes ausgeschlossen ist.
Art. 144 Abs. 3 B-VG sieht für den Fall der abweisenden Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes in einer Beschwerdesache (und unter der Voraussetzung, daß nicht nach Art. 133 B-VG die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichtshofes ausgeschlossen ist) auf Antrag des Beschwerdeführers die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof vor. Nach dem letzten Satz des Art. 144 Abs. 3 gilt dies sinngemäß bei Beschlüssen nach Abs. 2.
Die Behandlung einer Beschwerde kann auch abgelehnt werden, wenn sie an sich unzulässig wäre; der Verfassungsgerichtshof kann daher auf die Prüfung der Frage der Zulässigkeit der Beschwerde verzichten (vgl. das hg. Erkenntnis vom 21. Februar 1985, Slg. N.F. Nr. 5968/F). Wie der Verwaltungsgerichtshof im vorgenannten Erkenntnis vom 21. Februar 1985 weiters ausgeführt hat, ist im Falle der Abtretung der Beschwerde durch den Verfassungsgerichtshof nach Art. 144 Abs. 3 B-VG die Beschwerde nicht erst mit der Abtretung, sondern schon in dem Zeitpunkt als beim Verwaltungsgerichtshof erhoben anzusehen, in dem sie beim Verfassungsgerichtshof eingebracht worden ist. Daraus ergibt sich, daß dem Verwaltungsgerichtshof in diesem Fall die selbständige Prüfung der Frage obliegt, ob die Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof rechtzeitig eingebracht wurde. Dies muß auch dann gelten, wenn der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde (wie im vorliegenden Fall) abgelehnt hat; denn ebenso wie der Verfassungsgerichtshof auf die besondere Prüfung der Frage der Zulässigkeit verzichten kann, trifft dies auch für die Prüfung der Frage der Rechtzeitigkeit zu.
Die Frage der Rechtzeitigkeit einer sogenannten Sukzessivbeschwerde (vgl. dazu Oberndorfer, Die österreichische Verwaltungsgerichtsbarkeit, S 46) hat sich dabei auf einen (verfassungsrechtlich vorgegebenen) EINZIGEN, BEIM VERFASSUNGSGERICHTSHOF ZU ERHEBENDEN Beschwerdeschriftsatz zu beziehen. Ebenso ist der prozessuale Zusammenhang der Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit jenen, welche bestimmen, wann die Versäumung einer Frist vorliegt, in Betracht zu ziehen (vgl. Walter, Die Wiedereinsetzung in der Bundesabgabenordnung im Lichte interner Prozeßrechtsvergleichung, ÖJZ 1961, S 619f). So ist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wie der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung ausgesprochen hat (vgl. u.a. den Beschluß vom 20. Jänner 1986, 86/10/0002), begrifflich nur möglich, wenn tatsächlich eine Frist versäumt wurde.
Nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes folgt aber aus dem Gesagten, daß bei einer Sukzessivbeschwerde der Verwaltungsgerichtshof auch über einen im (Verfassungsgerichtshofbeschwerde-)Schriftsatz gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu entscheiden hat, wenn - wie im vorliegenden Fall - die Ablehnung der Behandlung der Beschwerde durch den Verfassungsgerichtshof unter Verzicht auf die Prüfung der Rechtzeitigkeit erfolgt, dem Beschluß des Verfassungsgerichtshofes im Grunde des Art. 144 Abs. 2 B-VG somit kein Abspruch über die Frage der Zulässigkeit der Beschwerde unter dem Gesichtspunkt der Einhaltung der Beschwerdefrist zu entnehmen ist und der Verfassungsgerichtshof auch keine Entscheidung über den (an ihn gerichteten) Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist getroffen hat. Der Verwaltungsgerichtshof kann somit die Rechtzeitigkeit der vorliegenden, ihm nach Art. 144 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 2 B-VG abgetretenen Beschwerde nur dann überprüfen, wenn er über den in einem untrennbaren Zusammenhang mit der Rechtzeitigkeit der Beschwerde stehenden, bereits in der Verfassungsgerichtshofbeschwerde gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung entscheidet.
Wenn auf Grund der dargelegten Erwägungen der Verwaltungsgerichtshof zur Ansicht gelangte, daß er bei einer Sukzessivbeschwerde unter den oben bezeichneten Voraussetzungen zuständig ist, über einen in dem (Verfassungsgerichtshofbeschwerde-)Schriftsatz gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist zu entscheiden, so bedeutet dies ungeachtet des hg. Beschlusses vom 28. März 1989, Zl. 88/11/0250, kein Abgehen von der bisherigen Rechtsprechung im Grunde des § 13 Abs. 1 Z. 1 VwGG. Der Beschluß vom 28. März 1989 hat ausschließlich die Erklärung, daß die Beschwerde gegenstandslos geworden ist, und die Einstellung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens gemäß § 33 Abs. 1 VwGG zum Gegenstand. Den Darlegungen über das rechtliche Schicksal eines schon in einer nach Ablehnung später dem Verwaltungsgerichtshof abgetretenen Verfassungsgerichtshofsbeschwerde enthaltenen Wiedereinsetzungsantrages, kommt, weil sie mit dem Spruch in keinem erkennbaren rechtlichen Zusammenhang stehen, für den vorliegenden Fall ebensowenig Bedeutung zu, wie dem folgenlos gebliebenen (das Beschwerdeverfahren wurde ja eingestellt) Hinweis auf die offensichtlich verspätet eingebrachte Beschwerde. Die Unverbindlichkeit dieser Ausführungen ergibt sich auch daraus, daß der Verwaltungsgerichtshof am Ende seiner Darlegungen in diesem Beschluß erklärt, ein an den Verfassungsgerichtshof gerichteter Wiedereinsetzungsantrag sei nicht abtretbar und im damaligen Fall an den Verwaltungsgerichtshof auch gar nicht abgetreten worden. Von einer für den vorliegenden Fall relevanten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes in der Frage der Behandlung eines in der Verfassungsgerichtshofbeschwerde gestellten Wiedereinsetzungsantrages kann daher keine Rede sein.
Das vorliegende Begehren auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist ist auch begründet:
Nach der Antragsbegründung sei in der Kanzlei des Vertreters der Antragstellerin die 6-Wochenfrist für eine Beschwerde an die Höchstgerichte richtig mit 16. Juni 1988 im Terminkalender eingetragen worden. Mit der Eintragung der Termine und mit deren Wahrnehmung sei in der Kanzlei der Anwaltssozietät die langjährige und verläßliche Kanzleileiterin beauftragt. Diese habe nach der Matura sechs Semester an der damaligen Hochschule für Welthandel studiert, das Studium jedoch aus wirtschaftlichen und finanziellen Gründen aufgeben müssen. Bereits im Jahr 1947 habe sie in Rechtsanwaltskanzleien, zuerst als Sekretärin, zu arbeiten begonnen. Sie sei seit 1953 insgesamt in drei Rechtsanwaltskanzleien als Kanzleileiterin erfolgreich tätig gewesen. In der gegenständlichen Anwaltssozietät sei sie seit 1973 Kanzleileiterin und mit wesentlichen selbständigen Arbeiten betraut. Dazu gehörten neben vielen anderen Agenden Empfang und Abfertigung der täglichen Post sowie Eintragung der Termine für Rechtsmittel und Beschwerden an die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts. Die genannte Kanzleileiterin habe sich am 15. Juni 1988 vormittags einer frauenärztlichen Untersuchung unterziehen müssen. Infolge dieser Untersuchung, deren Ergebnis nicht sofort festgestanden sei, sei sie äußerst besorgt und am
15. und 16. Juni 1988 nicht so konzentriert und präzise wie in ihrer sonstigen langjährigen Praxis gewesen. Da gleichzeitig an diesen Tagen die Anwaltssozietät durch Vorbereitung einer Gesellschafterversammlung einer näher bezeichneten Gesellschaft, der zweitgrößten Handelsorganisation in Österreich, mit dem Entwurf zahlreicher Änderungen von Gesellschaftsverträgen befaßt gewesen sei, habe die Kanzleileiterin weder "am 15. noch am 16. Juni 1988 pflichtgemäß" dem Vertreter der Antragstellerin, der durch die Vorbereitungen für die genannte Gesellschaft an diesen Tagen selbst am meisten beschäftigt gewesen sei, "wie es ihre Aufgabe gewesen wäre, den Beschwerdetermin 16. Juni 1988 gemeldet".
Der Vertreter der Antragstellerin sei am Montag, den 20. Juni 1988, ganztägig in der genannten Gesellschaft bei den Gesellschafterversammlungen auswärts tätig gewesen und erst am Abend kurz in die Kanzlei gekommen, um drei Aufsichtsratssitzungen für Dienstag, den 21. Juni 1988 vorzubereiten. Den 21. Juni 1988 habe der Vertreter der Antragstellerin nahezu ganztägig bei den Aufsichtsratssitzungen näher bezeichneter Gesellschaften verbracht. Er sei erst gegen Abend in die Kanzlei gekommen und habe sich sofort zu einer Routineuntersuchung um 18.00 Uhr bei einem näher bezeichneten Facharzt begeben. Am Mittwoch, den 22. Juni 1988, habe der Vertreter der Antragstellerin vormittags eine längere Verhandlung beim BG Döbling zu verrichten gehabt. Am Nachmittag dieses Tages in die Kanzlei zurückgekehrt, habe der Vertreter der Antragstellerin, was er etwa alle zwei bis drei Tage laufend tue, den Terminkalender überprüft und feststellen müssen, daß die Kanzleileiterin den Termin für eine Beschwerde gegen den gegenständlichen Bescheid vom 22. April 1988 offenbar noch als Folge der seelischen Beeinträchtigung durch die ärztliche Untersuchung vom 15. Juni 1988 einerseits und andererseits die außerordentliche Arbeitsüberlastung der Kanzlei am 15., 16. und 17. Juni 1988 übersehen und den Termin nicht dem zuständigen Vertreter der Antragstellerin gemeldet habe.
Da die genannte Mitarbeiterin eine ganz besonders versierte und verläßliche, langjährig tätige Kanzleileiterin sei, sei die Antragstellerin durch ein unvorhergesehenes und unabwendbares Ereignis an der rechtzeitigen Einbringung der Beschwerde gegen den Bescheid vom 22. April 1988 gehindert worden, was den Rechtsnachteil des Ausschlusses zur Folge habe. Im Hinblick auf den dargestellten Sachverhalt sei offenbar, daß der Versäumung nur ein Verschulden zu Grunde liege, bei dem es sich um einen minderen Grad des Versehens handle. Das gelte auch für den ausgewiesenen Vertreter der Antragstellerin. Wenn auch die Beachtung der Termine und Fristen mit ihren Säumnisfolgen ein unentbehrliches Mittel zur Verfahrensbeschleunigung sei, so habe insgesamt die ZPO-Novelle 1983 durch die Bedachtnahme auf den minderen Grad des Versehens eine Lockerung der Wiedereinsetzungsmöglichkeiten gebracht, insbesondere dürfe die Sorgfaltspflicht nicht überspannt werden, unter Bedachtnahme darauf, daß die Partei selbst überhaupt kein Verschulden treffe. Die Kontrollmaßnahmen in der Kanzlei des Vertreters der Antragstellerin "werden alle zwei bis drei Tage durchgeführt und sie sind auch hier trotz der besonderen Arbeitsüberlastungen am fünften Tag erfolgt". Von Bedeutung sei es im übrigen, daß in der Kanzlei der Anwaltssozietät im Hinblick auf die Organisation der Eintragung und Wahrnehmung der Termine für Höchstgerichtsbeschwerden in der langjährigen umfangreichen Praxis überhaupt der erste Fall einer Terminversäumnis durch besonders widrige Umstände, die unvorhergesehene und unabwendbare Ereignisse darstellten, geschehen sei.
Dem vorliegenden Wiedereinsetzungsantrag wurde eine "eidesstättige Erklärung" der Kanzleileiterin sowie Kopien aus dem Terminkalender beigegeben.
§ 46 Abs. 1 VwGG in der Fassung BGBl. Nr. 564/1985 lautet:
"Wenn eine Partei durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis - so dadurch, daß sie von einer Zustellung ohne ihr Verschulden keine Kenntnis erlangt hat - eine Frist versäumt und dadurch einen Rechtsnachteil erleidet, so ist dieser Partei auf Antrag die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen. Daß der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt."
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist das Verschulden des Vertreters einer Partei an der Fristversäumung dem Verschulden der Partei selbst gleichzuhalten, während jenes eines Kanzleibediensteten eines bevollmächtigten Rechtsanwaltes demjenigen der Partei oder des Rechtsanwaltes nicht schlechterdings gleichgesetzt werden darf. Das Versehen eines solchen Kanzleibediensteten stellt dann ein Ereignis gemäß § 46 Abs. 1 VwGG dar, wenn der Rechtsanwalt der ihm zumutbaren und nach der Sachlage gebotenen Überwachungspflicht jenem Bediensteten gegenüber nachgekommen ist. Hiebei ist zu beachten, daß der bevollmächtigte Rechtsanwalt die Aufgaben, die aus dem Bevollmächtigungsvertrag erwachsen, auch insoweit erfüllen muß, als er sich zu ihrer Wahrnehmung seiner Kanzlei als seines Hilfsapparates bedient. Er muß gegenüber diesem Apparat alle Vorsorgen treffen, die die ordnungsgemäße Erfüllung der Aufgaben gewährleisten, die ihm nach dem Bevollmächtigungsvertrag obliegen. Insoweit der Rechtsanwalt diese Vorsorgen nicht in der Art und in dem Maß getroffen hat, wie es von ihm je nach der gegebenen Situation zu erwarten war, kommt ein Verschulden an einer späteren Fristversäumung in Betracht. Insbesondere muß der bevollmächtigte Rechtsanwalt die Organisation seines Kanzleibetriebes so einrichten, daß auch die richtige Vormerkung von Terminen und damit die fristgerechte Setzung von - mit Präklusion sanktionierten - Prozeßhandlungen sichergestellt wird. Dabei wird durch entsprechende Kontrollen unter anderem dafür vorzusorgen sein, daß Unzulänglichkeiten durch menschliches Versagen aller Voraussicht nach auszuschließen sind. Ein Rechtsanwalt verstößt danach auch dann gegen eine anwaltliche Sorgfaltspflicht, wenn er weder im allgemeinen noch im besonderen (wirksame) Kontrollsysteme vorgesehen hat, die im Fall des Versagens eines Mitarbeiters Fristversäumungen auszuschließen geeignet sind. Ein Verschulden trifft den Rechtsanwalt jedenfalls dann nicht, wenn sich zeigt, daß die Fristversäumung auf einem ausgesprochen weisungswidrigen Verhalten des betreffenden Kanzleiangestellten beruht hat, ohne daß ein eigenes Verschulden des Rechtsanwaltes hinzugetreten wäre (vgl. u.a. den hg. Beschluß vom 15. Dezember 1988, Zlen. 88/08/0270,0271, und die dort zitierte hg. Judikatur).
An der oben genannten Aufsichts- und Kontrollpficht eines Rechtsanwaltes hat sich auch durch die Neufassung des § 46 Abs. 1 VwGG auf Grund des Bundesgesetzes BGBl. Nr. 564/1985 nichts geändert. Es ist daher in derartigen Fällen ausschlaggebend, ob der Rechtsanwalt der genannten Verpflichtung entsprochen hat, wobei der Unterschied zur früheren Rechtslage lediglich darin besteht, daß dann, wenn ein Verschulden des Rechtsanwaltes hervorkommt, nunmehr noch zusätzlich zu klären ist, ob es sich hiebei nicht um einen minderen Grad des Versehens handelt. Der - aus der Zivilprozeßordnung in der Fassung der Zivilverfahrensnovelle 1983 übernommene - Begriff des minderen Grades des Versehens ist hiebei als leichte Fahrlässigkeit im Sinne des § 1332 ABGB zu verstehen (vgl. u.a. den hg. Beschluß vom 22. März 1991, Zl. 90/10/0122).
Im Wiedereinsetzungsantrag ist auch im Falle einer behaupteten Fehlleistung eines Kanzleiangestellten darzutun, daß die dem Rechtsanwalt obliegenden Aufsichts- und Kontrollpflichten eingehalten wurden (vgl. nochmals den vorzitierten hg. Beschluß sowie die dort genannte Vorjudikatur).
Im vorliegenden Fall ist die richtige Terminvormerkung unbestritten.
Entscheidungswesentlich ist, ob ein den minderen Grad des Versehens übersteigendes Verschulden des einschreitenden Rechtsanwaltes in Hinsicht auf seine Aufsichts- und Kontrollpflichten vorliegt.
Der Verwaltungsgerichtshof geht auf Grund des Vorbringens im Wiedereinsetzungsantrag sachverhaltsmäßig davon aus, daß die Versäumung der Beschwerdefrist durch ein weisungswidriges Verhalten der an sich geeigneten und bewährten Kanzleiangestellten verursacht worden war. Weiters sieht es der Verwaltungsgerichtshof als gegeben an, daß beim Vertreter der Antragstellerin ein Kontrollsystem existiert, das jedoch auf Grund der konkreten Umstände des vorliegenden Einzelfalles nicht geeignet war, die durch das Versagen der Kanzleiangestellten bedingte Fristversäumung auszuschließen.
Es ist aber auch in Betracht zu ziehen, daß beim gegebenen Umfang des Kanzleibetriebes des Vertreters der Antragstellerin - unter dem Gesichtspunkt einer rationellen und arbeitsteiligen, die Besorgung abgegrenzter Aufgabenbereiche delegierender Betriebsführung - sich das Kontrollsystem auf zweckmäßige und zumutbare Kontrollmaßnahmen beschränken kann.
Derart findet sich aber kein Anhaltspunkt für das Vorliegen eines solchen (Überwachungs-)Verschuldens, das zum Vorwurf einer - wiedereinsetzungsschädlichen - auffallenden Sorglosigkeit berechtigen würde.
Dem Wiedereinsetzungsantrag war daher gemäß § 46 Abs. 1 VwGG stattzugeben.
Soweit Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes zitiert wurden, die in der Amtlichen Sammlung der Erkenntnisse und Beschlüsse dieses Gerichtshofes nicht veröffentlicht sind, wird auf Art. 14 Abs. 4 und 7 der Geschäftsordnung des Verwaltungsgerichtshofes, BGBl. Nr. 45/1965, hingewiesen.
Schlagworte
Definition von Begriffen mit allgemeiner Bedeutung VwRallg7European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1992:1988170205.X00Im RIS seit
11.07.2001Zuletzt aktualisiert am
18.04.2012