TE Vfgh Erkenntnis 1990/2/26 B879/89

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 26.02.1990
beobachten
merken

Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

StGG Art8 EGVG ArtIX Abs1 Z2 VStG §35 litc

Leitsatz

Keine Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit durch Festnahme und Anhaltung; vertretbare Annahme des Vorliegens der Verwaltungsübertretung des ungestümen Benehmens

Spruch

Der Beschwerdeführer ist dadurch, daß ihn Gendarmeriebeamte am 2. Juli 1989 um etwa 21,00 Uhr in Weißenbach festnahmen und bis etwa 23,00 Uhr anhielten, weder in einen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die vorliegende, auf Art144 (Abs1 zweiter Satz) B-VG gestützte Beschwerde wendet sich gegen die durch Gendarmeriebeamte am 2. Juli 1989 um ca. 21,00 Uhr am Gendarmerieposten (GP) Weißenbach/Bezirk Reutte vorgenommene Festnahme und die darauf folgende, angeblich bis etwa 23,30 Uhr währende Anhaltung des Beschwerdeführers. Diese Maßnahmen seien rechtswidrig erfolgt. Der Beschwerdeführer sei daher im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden. Er beantragt, diese Rechtsverletzung kostenpflichtig festzustellen.

2. Die Bezirkshauptmannschaft (BH) Reutte als belangte Behörde erstattete eine Gegenschrift, in der sie begehrt, die Beschwerde abzuweisen. Die Festnahme und die Anhaltung des Beschwerdeführers seien durch die §§175 bis 177 StPO und durch §35 litc VStG 1950 gedeckt gewesen.

II. 1. Der Verfassungsgerichtshof hat Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den Akt der BH Reutte III c-St-9801 (betreffend das gegen den Beschwerdeführer wegen ungestümen Benehmens eingeleitete Verwaltungsstrafverfahren) sowie in die Akten des Bezirksgerichtes (BG) Reutte Z26/89 (betreffend die gegen die einschreitenden Gendarmeriebeamten H H und E L wegen des Verdachtes nach §§83, 99, 302 StGB eingeleiteten Vorerhebungen) und 1 U 200/89 (betreffend das gegen den Beschwerdeführer wegen des Verdachtes nach §§83, 84, 115, 117, 270 StGB geführte Verfahren).

2. Aufgrund der darin enthaltenen Anzeigen und Aussagen (insbesondere der Anzeigen des GP Weißenbach vom 3. und 7. August 1989 und vom 2. September 1989 samt angeschlossener, von Gendarmeriebeamten aufgenommenen Niederschriften, der Aussagen der einschreitenden Gendarmeriebeamte H und L vom 5. Oktober 1989 sowie des J K vom 25. Oktober 1989 vor dem BG Reutte und des Beschwerdeführers vom 16. November 1989 vor dem BG Kufstein) stellt der Verfassungsgerichtshof folgenden, zur Beurteilung der vorliegenden Beschwerde maßgebenden Sachverhalt fest:

Am 2. Juli 1989 gegen 21,00 Uhr nahmen Beamte des GP Weißenbach J K fest und brachten ihn in den Journaldienstraum des Gendarmeriepostens. Kurze Zeit später erschien dort auch der (alkoholisierte) Beschwerdeführer und verlangte - immer lauter schreiend - die Freilassung seines Freundes K.

Da die Beamten seiner Forderung nicht nachkamen, drängte er sich am Empfangspult des Dienstraumes vorbei in den hinteren Teil des Raumes. Schließlich stieß er den Gendarmeriebeamten L mit den Ellbogen zur Seite (um zu seinem Freund K zu gelangen), stampfte mit den Füßen und schlug mit den Armen um sich, wobei er in schreiendem Tonfall die anwesenden Beamten grob beschimpfte. Obgleich er vom Gendarmeriebeamten L wiederholt aufgefordert worden war, sich zu mäßigen und den Dienstraum zu verlassen, setzte er sein Verhalten fort. Schließlich wurde er gegen 21,00 Uhr von L festgenommen, dann - da die Beamten Befreiungsaktionen befürchteten - vorübergehend zum GP Reutte gebracht und um ca. 23,00 Uhr (nicht erst - wie in der Beschwerde behauptet wird - um 23,30 Uhr) wieder auf freien Fuß gesetzt.

3. Diese Feststellungen gründen sich auf die in sich widerspruchslosen und schlüssigen Angaben der Gendarmeriebeamten L und H. Soweit der Beschwerdeführer sein Verhalten zu verharmlosen sucht, kann der Verfassungsgerichtshof seinen Aussagen nicht folgen. Es ist unwahrscheinlich, daß er - mittelstark alkoholisiert - in der Absicht, seinen Freund aus der Gendarmeriehaft zu "befreien", friedlich und ruhig um dessen Entlassung ersucht hätte.

4. Den unter II.1. erwähnten Aktenunterlagen zufolge ist das gegen den Beschwerdeführer wegen Übertretung nach ArtIX Abs1 Z2 EGVG 1950 eingeleitete Verwaltungsstrafverfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen. Die gegen die Gendarmeriebeamten wegen Verdachtes der Körperverletzung, Freiheitsentziehung und Mißbrauches der Amtsgewalt (§§83, 99 und 302 StGB) eingeleiteten Vorerhebungen sind noch nicht beendet. Das gegen den Beschwerdeführer wegen Vergehens nach den §§83, 84, 115 und 117 StGB geführte Verfahren wurde inzwischen gemäß §90 StPO eingestellt; hingegen beantragte die Staatsanwaltschaft, ihn wegen Vergehens nach §270 StGB (tätlichen Angriff auf einen Beamten) zu bestrafen.

5. Im Hinblick auf die folgenden Rechtsausführungen (III.2) ist es entbehrlich, Feststellungen über die im Zusammenhang mit dem Vorfall stehenden Verletzungen des Beschwerdeführers und der Beamten zu treffen.

III. Der Verfassungsgerichtshof beurteilt den Sachverhalt rechtlich wie folgt:

1. Die bekämpften Maßnahmen stellen gegen den Beschwerdeführer gerichtete Verwaltungsakte dar, die in Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt ergingen; sie sind nach Art144 Abs1 zweiter Satz B-VG beim Verfassungsgerichtshof bekämpfbar (vgl. zB VfSlg. 11371/1987).

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde zulässig.

2. Festzuhalten ist, daß sich die Beschwerde ausschließlich gegen die Festnahme und die Anhaltung richtet, nicht aber gegen deren Modalitäten.

a) Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 MRK - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (zB VfSlg. 11371/1987 und die dort zitierte weitere Vorjudikatur).

Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, das im Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, legt in seinem §4 fest, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.

§35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz, doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten Fällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Tat begehen und bei Begehung dieser Tat betreten werden, wobei die erste dieser beiden Bedingungen schon dann vorliegt, wenn das Organ die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund annehmen konnte (s. zB VfSlg. 11371/1987).

Gemäß §35 litc VStG 1950 ist eine Festnahme unter den schon umschriebenen Bedingungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann statthaft, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.

Demgemäß war zu prüfen, ob die hier einschreitenden Sicherheitsorgane mit gutem Grund - und damit vertretbar - zur Auffassung gelangen durften, daß der Beschwerdeführer die (Verwaltungs-)Übertretung nach ArtIX Abs1 Z2 EGVG 1950 verübt habe.

Der Verfassungsgerichtshof vertritt in ständiger Rechtsprechung

-

in Übereinstimmung mit der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes

-

die Auffassung, daß unter "ungestümen Benehmen" iS des ArtIX Abs1 Z2 EGVG 1950 ein sowohl in der Sprache als auch in der Gestik der gebotenen Ruhe entbehrendes, mit ungewöhnlicher Heftigkeit verbundenes Verhalten anzusehen ist (vgl. zB VfSlg. 10957/1986 und die dort zitierte Judikatur des Verfassungsgerichtshofes und des Verwaltungsgerichtshofes).

Im Hinblick auf die zu II.2. geschilderte Sachlage durften die Gendarmeriebeamten durchaus mit gutem Grund annehmen, daß der (abgemahnte) Beschwerdeführer eine Verwaltungsübertretung nach ArtIX Abs1 Z2 EGVG 1950 begangen habe. War aber die Beurteilung des Verhaltens der Beschwerdeführer als Verwaltungsdelikt vertretbar und lag - wie hier - infolge Betretung auf frischer Tat und Verharrung in der strafbaren Handlung trotz Abmahnung der Festnahmegrund des §35 litc VStG 1950 vor, so entsprach die bekämpfte Festnehmung dem Gesetz (vgl. zB VfSlg. 10246/1984, 11371/1987).

Bei diesem Ergebnis erübrigt es sich zu untersuchen, ob auch ein Haftgrund nach den §§175 bis 177 StPO vorlag.

b) Gemäß §36 Abs1 erster Satz VStG 1950 ist der zum Zweck der Vorführung vor die zuständige Behörde Festgenommene freizulassen, wenn der Grund zur Festnahme schon vorher entfällt. Wenn aber bereits die Festnahme selbst bewirkt, daß der Grund der Festnahme entfällt, wenn also die wegen Verharrens im strafbaren Verhalten festgenommene Person dieses Verhalten gerade infolge der Festnahme einstellt, ist diese Rechtsregel nicht wörtlich anzuwenden. Vielmehr ist - dem Sinn des Gesetzes entsprechend - der Festgenommene jedenfalls dann vorzeitig zu enthaften, wenn auf Grund besonderer Umstände augenfällig wird, daß er im Fall der Freilassung das strafbare Verhalten nicht wieder aufnehmen wird (vgl. VfSlg. 9368/1982, 11371/1987).

Anhaltspunkte dafür, daß derartige besondere Umstände in diesem Fall vorlagen, haben sich nicht ergeben. Die etwa zwei Stunden währende Haft ist daher hier nicht als unzulässig lang zu bezeichnen.

Auch die Anhaltung des Beschwerdeführers war sohin im Gesetz gedeckt.

c) Der Beschwerdeführer wurde also durch die Festnahme und Anhaltung in keinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht verletzt.

Da auch keine Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der den bekämpften Verwaltungsakten zugrundeliegenden Rechtsvorschriften bestehen, wurde der Beschwerdeführer auch nicht wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt.

Die Beschwerde war infolgedesssen abzuweisen.

3. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Schlagworte

Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Polizeirecht, Benehmen ungestümes, Verwaltungsstrafrecht, Festnehmung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1990:B879.1989

Dokumentnummer

JFT_10099774_89B00879_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten