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10/07 Verwaltungsgerichtshof;Norm
ASGG §65;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Liska und die Hofräte Dr. Knell, Dr. Müller, Dr. Novak und Dr. Händschke als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Schwächter, über die Beschwerde der Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter in Wien, vertreten durch Dr. A, Rechtsanwalt, W, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 18. Dezember 1990, Zl. MA 14-S 36/90, betreffend Versehrtenrente (mitbeteiligte Partei: Dr. G, W), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 11.120,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Der Mitbeteiligte erlitt am 10. September 1981 einen Dienstunfall.
Mit Bescheid vom 6. September 1985 gewährte die Beschwerdeführerin dem Mitbeteiligten eine vorläufige Versehrtenrente im Ausmaß vom 20 v.H. der Vollrente für die Zeit vom 28. September 1981 bis 30. September 1982. Für die Zeit ab 1. Oktober 1982 wurde der Rentenanspruch mit der Begründung verneint, daß die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit unter 10 v.H. liege.
Der Mitbeteiligte erhob Klage beim Schiedsgericht der Sozialversicherung für Wien mit dem Begehren, ihm eine Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß, zumindest jedoch in der Höhe von 20 v.H. der Vollrente, ab 28. September 1981 zuzuerkennen. Dieses Begehren wurde mit Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 12. November 1987 abgewiesen. Über Berufung des Beschwerdeführers entschied das Oberlandesgericht Wien mit Urteil vom 15. März 1989 - unter Einbeziehung des bereits rechtskräftigen Teilzuspruches - dahin, daß die Beschwerdeführerin schuldig sei, dem Mitbeteiligten vom 28. September 1981 bis 30. September 1982 eine Versehrtenrente im Ausmaß von 20 v.H. der Vollrente zu gewähren, daß aber das Mehrbegehren auf Gewährung einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß vom 28. September 1981 bis 30. September 1982 sowie einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß, zumindest aber von 20 v.H. der Vollrente, auch ab 1. Oktober 1982 abgewiesen werde. Infolge Revision des Mitbeteiligten entschied der Oberste Gerichtshof mit Teilurteil vom 5. Dezember 1989 dahin, daß das bekämpfte Urteil des Oberlandesgerichtes Wien hinsichtlich der Abweisung des auf Gewährung einer Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß, zumindest aber von 20 v.H. der Vollrente, auch ab 1. Oktober 1982 gerichteten Begehrens als Teilurteil bestätigt, hinsichtlich der Abweisung des auf Gewährung einer Versehrtenrente in einem 20 v.H. der Vollrente für die Zeit vom 28. Dezember 1981 bis 30. September 1982 übersteigenden Ausmaß gerichteten Mehrbegehrens und im Kostenpunkt aufgehoben wurde. Mit Urteil des Oberlandesgerichtes Wien vom 25. April 1990 wurde der (noch offenen) Berufung des Mitbeteiligten nicht Folge gegeben.
Noch vor der zuletzt genannten Entscheidung stellte der Mitbeteiligte mit dem an die Beschwerdeführerin gerichteten Schriftsatz vom 1. März 1990 mit der Begründung, es hätten sich die für die Feststellung einer Versehrtenrente maßgebenden Verhältnisse wesentlich geändert, den Antrag, den Rentenanspruch neu festzustellen und ihm ab dem frühestmöglichen Zeitpunkt, spätestens jedoch ab 1. Jänner 1989 eine Versehrtenrente im gesetzlichen Ausmaß, mindestens jedoch in Höhe von 20 v.H. der Vollrente, zu gewähren. Diesen Antrag zog er mit Schreiben vom 7. September 1990 zurück.
Die Beschwerdeführerin erließ daraufhin einen mit 1. Oktober 1990 datierten Bescheid, dessen Spruch lautet:
"Aufgrund des Verschlimmerungsantrages vom 1.3.1990 wurde das Verfahren zur Neufeststellung einer Versehrtenrente eingeleitet, welches, nach Zurücknahme Ihres Antrages am 7.9.1990, amtswegig fortgesetzt wurde. Die Gewährung einer Versehrtenrente wird gemäß §§ 94 und 103 B-KUVG, BGBl. Nr. 200/1967 in der jeweils geltenden Fassung abgelehnt."
Begründend wurde ausgeführt, es würden aufgrund von Sachverständigengutachten anläßlich der seinerzeit durchgeführten Untersuchungen folgende Feststellungen getroffen: Nach dem Dienstunfall des Mitbeteiligten vom 10. September 1981 bestünden geringste, subjektive Beschwerden. Das behauptete Wirbelgleiten im Bereich der Halswirbelsäule sei auf altersentsprechende, degenerative Veränderungen der Hals- und Brustwirbelsäule zurückzuführen und stehe in keinem Zusammenhang mit dem seinerzeitigen Dienstunfall. Die durch die Unfallfolgen bedingte Verminderung der Erwerbsfähigkeit des Mitbeteiligten sei mit unter 10 v.H. anzusehen und liege daher als Dauerzustand unter der gesetzlich vorgesehenen Mindestgrenze, weswegen spruchgemäß zu entscheiden gewesen sei. In der Rechtsmittelbelehrung wurde der Mitbeteiligte auf die Möglichkeit der Erhebung einer Klage beim Arbeits- und Sozialgericht Wien hingewiesen.
Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Einspruch mit dem Antrag, den Bescheid wegen Rechtswidrigkeit ersatzlos aufzuheben. Der bekämpfte Bescheid enthalte, ungeachtet dessen, daß der Mitbeteiligte seinen Antrag auf Neufeststellung der Rente bereits zurückgezogen gehabt habe, keine Begründung zur amtswegigen Fortsetzung des Verfahrens und zur amtswegigen Entscheidung. Aufgrund einer telefonischen Anfrage bei der Beschwerdeführerin sei ihm allerdings Rechtsbelehrung dahin erteilt worden, daß im Falle der Zurückziehung eines solchen Antrages der Bescheid betreffend Neufeststellung der Rente von Amts wegen erlassen werde, wozu die Beschwerdeführerin berechtigt sei. Dies sei jedoch unrichtig. Nach § 94 Abs. 1 B-KUVG dürfe die Beschwerdeführerin eine Rente auf Antrag oder von Amts wegen nur bei einer wesentlichen Veränderung der Verhältnisse, die für die Feststellung der Rente maßgebend gewesen seien, neu feststellen. Eine "wesentliche Änderung der Verhältnisse" liege aber eindeutig nicht vor. Daher fehle für die Erlassung des bekämpften Bescheides von Amts wegen jegliche gesetzliche Grundlage. Die Beschwerdeführerin habe, wie auch aus der Fassung des Spruches des bekämpften Bescheides hervorgehe, zunächst eine Entscheidung darüber getroffen, daß sie berechtigt sei, im Gegenstande bei der gegebenen Sachlage einen amtswegigen Bescheid zu erlassen. Bei der Frage, ob der bekämpfte Bescheid überhaupt zulässig sei, handle es sich nicht um eine Leistungssache gemäß § 354 ASVG, sondern um eine Verwaltungssache nach § 355 ASVG. Werde aber (so wie vorliegend) der bekämpfte Bescheid ausschließlich deshalb angefochten, weil die Beschwerdeführerin zu seiner Erlassung gar nicht berechtigt gewesen sei, so komme als Rechtsmittel nicht die Klage beim Arbeits- und Sozialgericht Wien, sondern gemäß § 412 Abs. 1 ASVG nur der Einspruch an den zuständigen Landeshauptmann in Betracht. Die Rechtsmittelbelehrung des bekämpften Bescheides sei daher unvollständig und irreführend.
Mit dem angefochtenen Bescheid hob die belangte Behörde den bekämpften Bescheid gemäß § 66 Abs. 4 AVG auf. Begründet wurde diese Entscheidung damit, daß nach der Judikatur zu der (auch im vorliegenden Fall anwendbaren) Bestimmung des § 13 AVG jeder Antrag, sofern nicht eine gesetzliche Regelung entgegenstehe, in jeder Lage des Verfahrens, also bis zur Erlassung des Bescheides, zurückgezogen werden könne. Im B-KUVG finde sich keine diesbezüglich entgegenstehende Bestimmung. Die Auffassung der Beschwerdeführerin, es liege im vorliegenden Fall nicht mehr in der Ingerenz des Mitbeteiligten, ein Verfahren durch Zurückziehung des Antrages "schlicht" zu beenden, bzw. sei die Beschwerdeführerin geradezu verpflichtet, ein auf Antrag eingeleitetes Verfahrens amtswegig abzuschließen, sei daher rechtsirrig. Da die Beschwerdeführerin nach Auffassung der belangten Behörde auch unter Berücksichtigung des Umstandes, daß keine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten sei, zur Erlassung des bekämpften Bescheides nicht berechtigt gewesen sei, sei dieser zu beheben gewesen. Da die Behebung gemäß § 66 Abs. 4 AVG eine Verwaltungssache darstelle, sei der Einspruch an die belangte Behörde auch zulässig gewesen.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde.
Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete ebenso wie der Mitbeteiligte eine Gegenschrift.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Gemäß § 129 B-KUVG gelten hinsichtlich des Verfahrens zur Durchführung dieses Bundesgesetzes die Bestimmungen des Siebenten Teiles des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes mit der Maßgabe, daß über den Antrag auf Zuerkennung oder über die amtswegige Feststellung einer sonstigen Leistung aus der Unfallversicherung öffentlich Bediensteter - ausgenommen eine Leistung nach § 88 Z. 1 lit. b - jedenfalls ein Bescheid zu erlassen ist. Nach dem bezogenen Siebenten Teil des ASVG werden Sozialversicherungsrechtssachen entweder den Leistungs- oder den Verwaltungssachen zugeordnet, wobei der Rechtschutz gegen Bescheide der Versicherungsträger im erstgenannten Fall den (Arbeits- und Sozial-)Gerichten, im zweitgenannten Fall den Verwaltungsbehörden (unter der nachprüfenden Kontrolle des Verwaltungsgerichtshofes und Verfassungsgerichtshofes) übertragen ist.
Gemäß § 354 Z. 1 ASVG sind (u.a.) Leistungssachen jene Angelegenheiten, in denen es sich um die Feststellung des Bestandes, des Umfanges oder des Ruhens eines Anspruches auf eine Versicherungsleistung einschließlich einer Feststellung nach § 367 Abs. 1, soweit nicht hiebei die Versicherungszugehörigkeit (§§ 13 bis 15), die Versicherungszuständigkeit (§§ 26 bis 30), die Leistungszugehörigkeit (§ 245) oder die Leistungszuständigkeit (§ 246) in Frage steht, handelt.
Gemäß § 355 ASVG sind alle nicht gemäß § 354 als Leistungssache geltende Angelegenheiten, für die nach § 352 die Bestimmungen dieses Teiles gelten Verwaltungssachen.
Die Beschwerdeführerin stellt aus nachstehenden Gründen zurecht in Abrede, daß es sich bei ihrer Entscheidung vom 1. Oktober 1990 um eine solche in einer Verwaltungssache nach § 355 ASVG gehandelt habe:
Entgegen der im Einspruch vertretenen Auffassung des
Mitbeteiligten stellt der erste Satz des Spruches des
Bescheides der Beschwerdeführerin vom 1. Oktober 1990 keine
Entscheidung über die Berechtigung oder Verpflichtung der
Beschwerdeführerin zur Erlassung eines amtswegigen Bescheides
dar; es handelt sich dabei vielmehr nach dem eindeutigen
Wortlaut (arg. "... wurde das Verfahren... eingeleitet, welches
... amtswegig fortgesetzt wurde") um eine keiner normativen
Wirkung fähige Feststellung eines unbestrittenen
Verfahrensablaufes.
Der einzige normative Abspruch, mit dem "die Gewährung
einer Versehrtenrente ... gemäß §§ 94 und 103 B-KUVG ..
abgelehnt" wurde, ist aber seinem Inhalt nach zweifelsfrei als
eine verneinende "Feststellung des Bestandes ... eines
Anspruches auf eine Versicherungsleistung" und damit (zufolge
der Gleichrangigkeit des bejahenden und des verneinenden
Ausspruches in der Frage des "ob" eines Anspruches: vgl. das
Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 15. März 1973,
VfSlg. 7.021) als eine Leistungssache im Sinne des § 354 Z. 1
ASVG anzusehen. Diese Wertung erfährt keine Änderung dadurch,
daß der Mitbeteiligte seinen Einspruch nicht damit begründet
hat, es stehe ihm zufolge einer inzwischen eingetretenen
wesentlichen Änderung der Verhältnisse doch wiederum (zumindest
ab dem Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides der
Beschwerdeführerin vom 1. Oktober 1990) eine Versehrtenrente
zu, sondern lediglich in Abrede gestellt hat, daß die
Beschwerdeführerin trotz des somit unstrittigen Nichtvorliegens
einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse zur amtswegigen
Erlassung ihres darauf gestützten Bescheides berechtigt gewesen
sei. Denn ob eine mit Bescheid des Sozialversicherungsträgers
erledigte Angelegenheit eine Verwaltungs- oder eine
Leistungssache darstellt, hängt nach den obzitierten
Bestimmungen der §§ 354, 355 ASVG in Verbindung mit den
§§ 65 ff ASGG ausschließlich davon ab, worüber der
Sozialversicherungsträger im Spruch seines Bescheides als
Hauptfrage entschieden hat, nicht aber von den Gründen, mit
denen die Partei die Entscheidung bekämpft; ebensowenig
- entgegen der Begründung des angefochtenen Bescheides - von
der Art der Entscheidung durch die Einspruchsbehörde, nämlich
die ersatzlose "Behebung gemäß § 66 Abs. 4 AVG", weil die
Anwendung dieser Bestimmung als Rechtsgrundlage für eine
meritorische Entscheidung schon voraussetzte, daß es sich um
eine Verwaltungssache im Sinne des § 355 ASVG handelte. Im
Beschwerdefall hat nun aber die Beschwerdeführerin mit ihrem
Bescheid keine selbständige Entscheidung über die vom
Mitbeteiligten im Einspruch aufgeworfene verfahrensrechtliche
Frage getroffen und es unterscheidet sich daher der
Beschwerdefall insofern von anderen Fallkonstellationen, in
denen dem Verfahrensrecht zugehörige Hauptfragenentscheidungen
zu beurteilen waren (vgl. dazu die ausführlichen
Judikaturhinweise im Erkenntnis vom 16. Juni 1992,
Zl. 89/08/0264).
Aus den angeführten Gründen war es der belangten Behörde verwehrt, über den Einspruch des Mitbeteiligten gegen den Bescheid der Beschwerdeführerin vom 1. Oktober 1990 meritorisch zu entscheiden. Sie hätte vielmehr diesen Einspruch als unzulässig zurückzuweisen gehabt. Der angefochtene Bescheid war deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z. 2 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde aufzuheben.
Die Entscheidung über den Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 104/1991. Das Kostenmehrbegehren war im Hinblick auf die bestehende sachliche Abgabenfreiheit nach § 30 B-KUVG in Verbindung mit § 110 Abs. 1 Z. 2 ASVG abzuweisen.
Schlagworte
Inhalt der Berufungsentscheidung KassationEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1992:1991080040.X00Im RIS seit
17.11.1992