Index
40/01 Verwaltungsverfahren;Norm
AVG §37;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Baumgartner und die Hofräte Dr. Waldner, Dr. Bernard, Dr. Graf und Dr. Gall als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Lenhart, über die Beschwerde des M in W, vertreten durch Dr. R, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 6. April 1992, Zl. MA 64-8/70/92, betreffend Versagung der Lenkerberechtigung, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 11.570,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit Eingabe vom 29. April 1991 beantragte der Beschwerdeführer die Erteilung der Lenkerberechtigung für Kraftfahrzeuge der Gruppen A, B, C, E, F und G. Der Antrag wurde mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 6. April 1992 gemäß § 64 Abs. 2 KFG 1967 abgewiesen. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Die belangte Behörde stützte die Versagung der beantragten Lenkerberechtigung auf das Gutachten des Amtsarztes der Erstbehörde (der Bundespolizeidirektion Wien) vom 22. November 1991, wonach der Beschwerdeführer zum Lenken von Kraftfahrzeugen der genannten Gruppen nicht geeignet sei ("Mangel an kraftfahrspezifischer Leistungsfähigkeit"). Diesem Gutachten liegt der Befund einer verkehrspsychologischen Untersuchungsstelle des Kuratoriums für Verkehrssicherheit vom 17. September 1991 zugrunde. Darin sind in der Rubrik "Fahrverhaltensrelevante Einstellungen und Persönlichkeitsmerkmale" zwei Tests aufgezählt (8 PF, F-R-F); sodann heißt es:
"Im 8 PF-Test zeichnen sich trotz einer erhöhten Neigung zu beschönigender Selbstdarstellung (Faktor B) deutliche Hinweise auf Nachlässigkeit und Leichtfertigkeit sowie eine Neigung zu Sorglosigkeit im Rahmen eines phlegmatischen Persönlichkeitsbildes ab (Faktoren G, O und Q4 sign. herabgesetzt). Im F-R-F-Test fällt in allen 3 Teilbereichen eine weit überdurchschnittliche Risikobereitschaft auf (Faktoren P,S und F sign. erhöht). Auch im Explorationsgespräch wirkt der Proband eher unbekümmert und sorglos, die angegebenen Alkoholkonsumgewohnheiten weisen deutlich auf zumindest in sozialen Trinksituationen gelegentlich stark überhöhten Alkoholkonsum (vergl. Vorgeschichte)."
Die abschließende "Zusammenfassung der Befunde/Gutachten" lautet:
"Die kraftfahrspezifischen Leistungsfunktionen weisen auf verlängerte Reaktionszeiten in Einfachwahlsituationen, die übrigen Leistungsbefunde sind hingegen durchwegs unauffällig. Seitens der Intelligenz bestehen keine Einwände. Im Bereich der Persönlichkeit sind vor allem deutliche Hinweise auf eine erhöhte Neigung zu Nachlässigkeit und Sorglosigkeit sowie verstärkte Risikobereitschaft bedeutsam. Auch die angegebenen Alkoholkonsumgewohnheiten erscheinen problematisch. Insgesamt ist somit der amtsärztlicherseits bestehende Verdacht auf Reiferückstände durch die hiesige Befundlage zu bestätigen. Die nötige Bereitschaft zur Verkehrsanpassung ist daher derzeit noch nicht in ausreichendem Maße zu erwarten."
Der Beschwerdeführer sei daher aus verkehrspsychologischer Sicht als zum Lenken von Kraftfahrzeugen der Gruppen A/L, B, C, E, F und G derzeit nicht geeignet zu bezeichnen. Aufgrund seines noch sehr jugendlichen Lebensalters sei allerdings eine Verbesserung der Eignungsvoraussetzungen zu erwarten; es könnte daher in ein bis zwei Jahren eine verkehrspsychologische Kontrolluntersuchung stattfinden.
Als zum Lenken von Kraftfahrzeugen einer bestimmten Gruppe geistig und körperlich geeignet gilt gemäß § 30 Abs. 1 erster Satz KDV 1967, wer für das sichere Beherrschen dieser Kraftfahrzeuge und das Einhalten der für das Lenken dieser Kraftfahrzeuge geltenden Vorschriften 1. ausreichend frei von psychischen Krankheiten und geistigen Behinderungen ist, 2. die nötige a) Körpergröße, b) Körperkraft und c) Gesundheit besitzt und 3. ausreichend frei von Gebrechen ist. Nach dem zweiten Satz dieser Verordnungsstelle müssen darüber hinaus die nötige kraftfahrspezifische Leistungsfähigkeit und Bereitschaft zur Verkehrsanpassung gegeben sein.
Bei der kraftfahrspezifischen Leistungsfähigkeit handelt es sich um die vom Willen einer Person unabhängige - in den Bereich der geistigen und körperlichen Eignung zum Lenken von Kraftfahrzeugen fallende - Fähigkeit zu der im Interesse der Verkehrssicherheit gebotenen Anpassung im Verkehr. Bei der Bereitschaft zur Verkehrsanpassung hingegen geht es darum, ob eine Person (trotz ihrer Fähigkeit hiezu) bereit, also Willens ist, sich im Verkehr entsprechend anzupassen; diese Voraussetzung fällt ausschließlich in den Bereich der geistigen Eignung zum Lenken von Kraftfahrzeugen (vgl. dazu das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 22. Jänner 1991, Zl. 90/11/0143). Es handelt sich demnach bei der kraftfahrspezifischen Leistungsfähigkeit und der Bereitschaft zur Verkehrsanpassung um verschiedene Voraussetzungen, die je für sich zu prüfen sind, wobei die Beurteilungsgrundlagen verschieden sind und demgemäß auch das Ergebnis der Beurteilung in bezug auf ein und dieselbe Person unterschiedlich sein kann.
Die belangte Behörde hat ausgeführt, "Befund und Gutachten" seien schlüssig und nachvollziehbar, es bestehe daher keine Veranlassung, sie für die zu treffende Entscheidung nicht heranzuziehen. (Unter "Befund" ist in diesem Zusammenhang offensichtlich jener der verkehrspsychologischen Untersuchungsstelle vom 17. September 1991 gemeint.) Diese Meinung kann nicht geteilt werden. Das Gutachten des ärztlichen Amtssachverständigen nennt als Grund für die Nichteignung des Beschwerdeführers zum Lenken von Kraftfahrzeugen den Mangel der nötigen kraftfahrspezifischen Leistungsfähigkeit, hingegen spricht der verkehrspsychologische Befund insoweit nur von Hinweisen auf verlängerte Reaktionszeiten in Einfachwahlsituationen; die übrigen Leistungsfunktionen seien durchwegs unauffällig. Von einem Mangel der nötigen kraftfahrspezifischen Leistungsfähigkeit spricht dieser Befund nicht, wohl aber davon, daß sich der von seiten des Amtsarztes gehegte Verdacht auf Reifungsrückstände bestätigt habe und beim Beschwerdeführer die nötige Bereitschaft zur Verkehrsanpassung derzeit nicht in ausreichendem Maße zu erwarten sei. (Letztere Beurteilung wurde allerdings vom ärztlichen Amtssachverständigen nicht in sein Gutachten übernommen.) Ohne nähere Ausführungen darüber, weshalb allein schon auf Grund der vorgefundenen Hinweise auf verlängerte Reaktionszeiten in Einfachwahlsituationen auf einen relevanten Mangel der kraftfahrspezifischen Leistungsfähigkeit des Beschwerdeführers geschlossen werden kann, ist die vom Amtssachverständigen gezogene Schlußfolgerung nicht nachvollziehbar. Das Gutachten des ärztlichen Amtssachverständigen konnte daher keine geeignete Grundlage für die Entscheidung über die geistige und körperliche Eignung des Beschwerdeführers zum Lenken von Kraftfahrzeugen bilden.
Die - erstmals in ihrer Gegenschrift geäußerte - Ansicht der belangten Behörde, der vom Amtssachverständigen aus den Befundergebnissen (Hinweise auf Nachlässigkeit und Leichtfertigkeit, Neigung zu Sorglosigkeit im Rahmen eines phlegmatischen Persönlichkeitsbildes, weit überdurchschnittliche Risikobereitschaft sowie gelegentlich starker Alkoholkonsum) gezogene Schluß auf das Fehlen der nötigen kraftfahrspezifischen Leistungsfähigkeit beim Beschwerdeführer sei durchaus nachvollziehbar, kann ebenfalls nicht geteilt werden. Die belangte Behörde verkennt hiebei offensichtlich, daß es sich bei der kraftfahrspezifischen Leistungsfähigkeit einerseits und der Bereitschaft zur Verkehrsanpassung andererseits um verschiedene Voraussetzungen für die Bejahung oder Verneinung der geistigen und körperlichen Eignung einer Person zum Lenken von Kraftfahrzeugen handelt und daß die genannten Eigenschaften des Beschwerdeführers typischerweise nur eine Aussage über seine Bereitschaft zur Verkehrsanpassung zulassen.
Der Vollständigkeit halber sei noch bemerkt, daß die Schlußfolgerung im verkehrspsychologischen Befund (wie ausgeführt, wurde sie vom Amtsarzt nicht übernommen), dem Beschwerdeführer fehle derzeit die nötige Bereitschaft zur Verkehrsanpassung, nicht nachvollziehbar begründet ist und daher keine geeignete Entscheidungsgrundlage böte. Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 30. April 1991, Zl. 90/11/0153, unter Berufung auf frühere Rechtsprechung ausgeführt, daß bei der Beurteilung der nötigen Bereitschaft zur Verkehrsanpassung das Hauptgewicht beim verkehrspsychologischen Befund liegt, wobei dieser festzuhalten hat, welche Untersuchungsverfahren tatsächlich angewendet wurden, welche Ergebnisse sie erbracht haben und welche Schlußfolgerungen daraus im einzelnen gezogen wurden. Wenn sich dem verkehrspsychologischen Befund nicht entnehmen läßt, welche Ergebnisse die einzelnen Untersuchungsverfahren erbracht haben und welchen Untersuchungsmethoden in Verbindung mit den jeweils ermittelten Ergebnissen welche Aussagekraft zukommt, sodaß nicht nachvollziehbar ist, wie die verkehrspsychologische Untersuchungsstelle zu dem von ihr angenommenen Ergebnis gelangt ist, so mangelt es an einer entsprechenden Entscheidungsgrundlage für die Annahme, der betreffenden Person fehle die nötige Bereitschaft zur Verkehrsanpassung.
Mit diesem Mangel ist auch der vorliegende verkehrspsychologische Befund behaftet. Er nennt zwar zwei angewendete Testverfahren und ordnet diesen gewisse Schlußfolgerungen hinsichtlich der Persönlichkeitsstruktur des Beschwerdeführers zu. Er läßt aber nicht erkennen, aufgrund welcher in den Testverfahren erzielten Ergebnisse die den Befund erstellende Einrichtung zu den von ihr abschließend formulierten Schlußfolgerungen gekommen ist sowie welchen Untersuchungsmethoden in Verbindung mit den jeweils ermittelten Ergebnissen welche Aussagekraft zugebilligt worden ist.
Da die belangte Behörde die getroffene Entscheidung auf ein mangelhaftes Gutachten gestützt hat und nicht ausgeschlossen werden kann, daß sie bei Vermeidung dieses Verfahrensmangels zu einem anderen Bescheid gekommen wäre, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben. Damit erübrigt sich ein Eingehen auf das weitere Beschwerdevorbringen.
Der Zuspruch von Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 104/1991.
Schlagworte
Gutachten Überprüfung durch VwGH Sachverhalt Sachverhaltsfeststellung Beweismittel Sachverständigenbeweis Vorliegen eines GutachtensEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1992:1992110132.X00Im RIS seit
12.06.2001