TE Vfgh Erkenntnis 1990/6/12 B1228/88

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.06.1990
beobachten
merken

Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

StGG Art8 MRK Art3 EGVG ArtIX Abs1 Z1 EGVG ArtVIII erster und zweiter Tatbestand VStG §35 litc

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Unterlassung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung durch zu Boden Stoßen, Schlagen und Treten; keine Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit durch Festnahme und Anhaltung des Beschwerdeführers; vertretbare Annahme des Vorliegens der Delikte der Lärmerregung, der Anstandsverletzung und der Ordnungsstörung

Spruch

1. Der Beschwerdeführer ist dadurch, daß er am 8. Mai 1988 um

6.52 Uhr in Wien I. von einem Organ der Bundespolizeidirektion Wien festgenommen und am Bezirkspolizeikommissariat Innere Stadt bis 14.20 Uhr angehalten worden ist, weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird insoweit abgewiesen.

2. Hingegen ist der Beschwerdeführer dadurch, daß er im Zuge der Festnahme von Organen der Bundespolizeidirektion Wien zu Boden geworfen, geschlagen und getreten wurde, in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Unterlassung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung verletzt worden.

3. Die Verfahrenskosten werden gegeneinander aufgehoben.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Der Beschwerdeführer begehrt mit seiner auf Art144 Abs1 B-VG gestützten Beschwerde die kostenpflichtige Feststellung, daß er durch die am 8. Mai 1988 durch Organe der Bundespolizeidirektion Wien erfolgte Festnahme und darauffolgende Anhaltung sowie durch die ihm im Zuge der Amtshandlung zugefügten Mißhandlungen in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf persönliche Freiheit gemäß Art8 StGG sowie "auf Menschenwürde und körperliche Unversehrtheit" gemäß Art3 MRK verletzt worden ist.

In der Beschwerde wird dazu ausgeführt, daß der Beschwerdeführer in den frühen Morgenstunden des 8. Mai 1988 bei der Tankstelle in der B-gasse getankt und bezahlt habe, ohne vom Tankwart das Wechselgeld zurückbekommen zu haben. Anschließend sei er in das Lokal "X Y" gefahren. Dort habe er alkoholische Getränke konsumiert und gegen 6.30 Uhr das Lokal verlassen. Zu diesem Zeitpunkt sei ein Funkstreifenwagen neben seinem Fahrzeug gestanden und er sei zu einem Alkotest aufgefordert worden. Er habe daraufhin den Beamten erklärt, daß ein derartiger Test nicht sinnvoll sei, da er eben alkoholische Getränke zu sich genommen habe. In der Folge seien weitere Funkstreifenwagen eingetroffen und die Polizeibeamten hätten ihm gegenüber antisemitische Äußerungen getätigt. Als plötzlich die Festnahme über ihn ausgesprochen worden sei, obwohl er sich zuvor mit seinem Führerschein ausgewiesen hätte, und er den Festnahmegrund habe wissen wollen, sei er von den Polizeibeamten zu Boden geworfen und mit Füßen getreten worden. Auch Handfesseln seien ihm angelegt worden. Auf dem Polizeikommissariat sei er ebenfalls mehrmals geschlagen worden. Seinen Bitten, einen Amtsarzt kommen zu lassen, da er Blut im Urin gehabt habe, sei nicht entsprochen worden. Erst um ca. 10.30 Uhr sei ein Amtsarzt gekommen, der jedoch nicht den Ursachen des blutigen Urins nachgegangen sei. Ein Journalbeamter, dem er vorgeführt worden sei, habe festgestellt, daß er nicht vernehmungsfähig sei. Nach seiner Entlassung um ca. 14.30 Uhr habe er sich sofort in ein Unfallspital begeben. Dort sei er wegen Nierenblutungen sogleich stationär eingewiesen worden. Er habe von 8. bis 10. Mai 1988 in der

1. chirurgischen Abteilung des Wilhelminenspitals in Behandlung bleiben müssen.

Der Beschwerdeführer führt zusammengefaßt aus, daß er sich durch die Verhaftung und achtstündige Anhaltung, die völlig grundlos erfolgt seien, sowie durch die ihm zugefügten Mißhandlungen in seinen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten gemäß Art8 StGG und Art5 MRK sowie in seinem Recht auf Menschenwürde und körperliche Unversehrtheit gemäß Art3 MRK verletzt erachtet. Obwohl er bereits am Vormittag einvernommen hätte werden können, sei die Einvernahme erst am Nachmittag des 8. Mai 1988 erfolgt, wodurch die Einschränkung seiner persönlichen Freiheit um einige Stunden verlängert worden sei.

2. Die - durch die Finanzprokuratur vertretene - Bundespolizeidirektion Wien als belangte Behörde erstattete unter Vorlage der Verwaltungsakten eine Gegenschrift, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt und den Sachverhalt folgendermaßen darstellt:

In den frühen Morgenstunden des 8. Mai 1988 seien Insp. P B und Rev.Insp. R S wegen eines randalierenden, alkoholisierten KFZ-Lenkers zu einer Tankstelle in Wien I., B-gasse, beordert worden. Da der Lenker bei ihrem Eintreffen bereits weggefahren gewesen sei, sei in der Folge eine Fahndung nach dem Fahrzeug durchgeführt worden, welches wenig später vor dem Lokal "X Y" in Wien I. von den Beamten Insp. N G und Insp. R S wahrgenommen worden sei. Unmittelbar darauf sei der Beschwerdeführer in Begleitung von H B aus dem Lokal gekommen. Beide Personen seien sichtbar alkoholisiert gewesen. Der Beschwerdeführer habe die Beamten in lautem Ton angesprochen, woraufhin diese versucht hätten, auf ihn beruhigend einzuwirken. Dabei habe dieser den Versuch unternommen, Insp. G mehrmals auf die Genitalien zu greifen. Als die einschreitenden Beamten ihn auf den Vorfall bei der Tankstelle angesprochen hätten, habe er lauthals unter Verwendung von Schimpfwörtern zu schreien begonnen. Nachdem er aufgefordert worden sei, sein Verhalten einzustellen, dieses jedoch fortgesetzt habe, sei um 6.52 Uhr wegen des Verdachtes der Verwaltungsübertretungen gemäß ArtVIII, 1. und 2. Fall sowie ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 gemäß §35 litc VStG 1950 die Festnahme ausgesprochen worden. Der Beschwerdeführer habe in der Folge trotz mehrmaliger Ermahnung und Androhung der Anwendung von Körperkraft der Aufforderung, sich in den Streifenwagen zu begeben, keine Folge geleistet. Als er von Rev.Insp. S und Insp. B an den Oberarmen ergriffen worden sei, habe er sich durch Herumschlagen gewehrt. Nur durch die Unterstützung von Insp. G und die Anwesenheit der zwischenzeitig eingetroffenen Besatzungen weiterer vier Streifenwagen - die jedoch nicht aktiv in die Amtshandlung eingegriffen hätten - habe er zu einem der Streifenwagen gebracht werden können. Da er weiterhin wild um sich geschlagen habe, sei er schließlich zu Boden geworfen und seien ihm Handfesseln angelegt worden. Dabei habe der Beschwerdeführer an mehreren Stellen im Gesicht Hautabschürfungen erlitten. Da er durch sein Verhalten Widerstand gegen die Staatsgewalt gemäß §269 StGB geleistet habe, sei die Festnahme auch gemäß §177 Abs1 Z1 StPO ausgesprochen worden.

Nach seiner Überstellung auf das Bezirkspolizeikommissariat Innere Stadt seien dem Beschwerdeführer die Handfesseln abgenommen worden. Er sei auf dem Kommissariat zu einem Alkotest aufgefordert worden, dessen Durchführung er jedoch verweigert habe. Über Weisung des Journalbeamten OR Dr. H H sei er in den Arrest abgegeben worden. Bez.Insp. K N habe den Beschwerdeführer übernommen, um ihn in die Arrestzelle zu führen. Da sich der Beschwerdeführer geweigert habe, mitzugehen, sei er von der Bank hochgezogen und zum Zellentrakt geschoben worden. Auch habe er das Ablegen der Kleider verweigert, weshalb er zwangsweise entkleidet worden sei. Um

8.15 Uhr habe der Amtsarzt Dr. S eine Untersuchung durchgeführt und die Delikts- und Haftfähigkeit festgestellt. Der Beschwerdeführer habe mit den Fäusten gegen die Zellentür geschlagen, weshalb ihm neuerlich gegen 11.00 Uhr Handfesseln angelegt worden seien. Aufgrund der Verletzungen an den Händen des Beschwerdeführers und seiner Verhaltensweise sei vom Amtsarzt gegen 12.30 Uhr neuerlich eine Untersuchung durchgeführt worden. Das Untersuchungsergebnis sei im Parere festgehalten worden, wobei keine Anzeichen einer Geisteskrankheit festgestellt worden seien. Da der Zentraljournaldienst versehende Beamte OR Dr. A H um 9.50 Uhr festgestellt hätte, daß eine Einvernahme des Beschwerdeführers aufgrund seines Zustandes nicht möglich sei, sei die Einvernahme um

13.45 Uhr von Mag. W H durchgeführt worden. Bei dieser Einvernahme habe der Beschwerdeführer angegeben, von einigen Beamten am Körper mißhandelt sowie unter Verwendung antisemitischer Äußerungen beschimpft worden zu sein. Auch habe er angegeben, daß der herbeigerufene Amtsarzt eine genaue Untersuchung verweigert habe, obwohl er ihn über das Auftreten von Blut im Urin informiert habe. Um 14.20 Uhr sei der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen worden. Er sei in der Folge der Staatsanwaltschaft Wien wegen des Verdachtes des Vergehens nach §269 StGB angezeigt worden. Dieses Verfahren sei unter der Z23 d Vr 5.400/88 am 11. Oktober 1988 gemäß §90 StPO eingestellt worden.

Zur Rechtfertigung der Festnahme und Anhaltung des Beschwerdeführers führt die belangte Behörde aus, daß der Beschwerdeführer die oben angeführten verwaltungsstrafrechtlichen Tatbestände verwirklicht habe und trotz mehrmaliger Abmahnung in diesen strafbaren Handlungen verharrt sei. Nach seiner Festnahme habe er durch tätliche Angriffe auf die Beamten versucht, diese an der Durchführung der Amtshandlung zu hindern und habe dadurch den Tatbestand gemäß §269 Abs1 StGB verwirklicht. Da für eine Festnahme gemäß §177 Abs1 Z1 StPO die vertretbare Annahme des Vorliegens einer gerichtlich strafbaren Handlung genüge, sei die Festnahme dem Gesetz entsprechend erfolgt. Die bis 14.20 Uhr andauernde Anhaltung sei auf den hohen Grad der Alkoholisierung des Beschwerdeführers und die Unmöglichkeit, eine Einvernahme durchzuführen, sowie die zweimalige amtsärztliche Untersuchung zurückzuführen und sei daher gerechtfertigt. Da sich der Beschwerdeführer der rechtmäßigen Festnahme widersetzt habe, seien die Beamten gemäß §4 iVm §2 Z2 Waffengebrauchsgesetz zum Einsatz der Körperkraft berechtigt gewesen. Die Verletzungen im Gesicht, die der Beschwerdeführer bei seinem Sturz erlitten habe, seien die Folge eines rechtmäßigen Einsatzes der Körperkraft zur Überwindung eines Widerstandes gewesen. Dieser Einsatz von Körperkraft könne nicht als unmenschliche Behandlung im Sinn des Art3 MRK angesehen werden. Im übrigen bestreitet die belangte Behörde auf dem Boden des im Zeitpunkt der Erstattung der Gegenschrift vorliegenden Ermittlungsergebnisses jegliche Mißhandlung oder Beschimpfung des Beschwerdeführers durch Beamte und weist darauf hin, daß der Amtsarzt sehr wohl eine Untersuchung des Beschwerdeführers durchgeführt habe. Die beim Beschwerdeführer aufgetretenen Verletzungen führt die belangte Behörde "auch auf das tobende Verhalten - Trommeln gegen die Zellentür - in der Arrestzelle" zurück.

3. Der Beschwerdeführer erstattete in der Folge zwei weitere Äußerungen, in denen er zu den am 22. Februar 1989 und am 25. April 1989 vor dem BG Innere Stadt Wien stattgefundenen Beweisaufnahmen Stellung nahm. Darin weist er auf die Widersprüche in den Zeugenaussagen der Sicherheitswachebeamten sowie darauf hin, daß aufgrund der Aussagen der einschreitenden Sicherheitswachebeamten zu den seine Verletzungen darstellenden Fotos der Standpunkt der Beamten, den Beschwerdeführer nicht geschlagen zu haben, nicht aufrechtzuerhalten sei.

4. Aus den von der belangten Behörde vorgelegten Verwaltungsakten, Z Pst 12.235-S/88, ergibt sich, daß auf Grund der von Insp. B verfaßten Anzeige gegen den Beschwerdeführer Verwaltungsstrafverfahren wegen Verwaltungsübertretungen gemäß §99 Abs1 litb iVm §5 Abs1 StVO, ArtVIII, 1. und 2. Fall sowie ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 eingeleitet wurden, welche noch anhängig sind. Ferner ergibt sich aus dem vom Landesgericht für Strafsachen Wien übermittelten Strafakt, Z23 d Vr 5.400/88, daß der Beschwerdeführer am 20. Mai 1988 der Staatsanwaltschaft Wien wegen des Verdachtes des Vergehens nach §269 StGB angezeigt wurde. Dieses Verfahren wurde vom Landesgericht für Strafsachen Wien am 11. Oktober 1988 gemäß §90 StPO eingestellt. Aufgrund einer telefonischen Anfrage teilte die Staatsanwaltschaft Wien mit, daß die Anzeige gegen Amtsarzt Dr. S zur Z32 St 45.889/88 gemäß §90 StPO zurückgelegt wurde. Die Staatsanwaltschaft Wien teilte weiters mit, daß die gegen Insp. S und Insp. G zur Z7 St 7358/89 eingeleiteten Vorerhebungen noch nicht abgeschlossen sind.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat zum Sachverhalt erwogen:

1. Der Verfassungsgerichtshof hat Beweis erhoben durch Einvernahme der Zeugen Insp. P B, Insp. R G, Insp. R S, Rev.Insp. R S, Kmsr. Mag. W H, A S und H B sowie des Beschwerdeführers als Partei im Rechtshilfeweg sowie durch Einsichtnahme in die Akten Z Pst 12.235-S/88 der Bundespolizeidirektion Wien, Z23 d Vr 5.400/88 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien und in die Anzeige Z32 St 45.889/88.

2. Auf Grund des durchgeführten Beweisverfahrens und des Parteienvorbringens nimmt der Verfassungsgerichtshof folgenden entscheidungswesentlichen Sachverhalt als erwiesen an:

In den frühen Morgenstunden des 8. Mai 1988 verließ der Beschwerdeführer gemeinsam mit H B und A S das Lokal "X Y" in Wien I. Bei seinem in der Nähe abgestellten PKW standen zu diesem Zeitpunkt Insp. R G und Insp. R S, die nach dem Fahrzeug gefahndet hatten, da der Beschwerdeführer wegen des Verdachtes des Lenkens eines Fahrzeuges in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand vom Tankwart der Tankstelle in Wien I., B-gasse, angezeigt worden war. Der Beschwerdeführer hatte im Lokal "X Y" alkoholische Getränke konsumiert und war nicht mehr nüchtern. Nachdem er die Beamten mit den Worten: "Meine Herren, was fällt an?" angesprochen hatte, entwickelte sich zwischen ihm und den bereits anwesenden Beamten Insp. S und Insp. G sowie den kurz danach hinzugekommenen Beamten Insp. B und Rev.Insp. S ein in der Folge immer heftiger werdendes Gespräch über die allfällige Durchführung und Sinnhaftigkeit eines Alkotestes. Während dieser Diskussion vertrat der Beschwerdeführer erregt und mit lauter Stimme seinen Standpunkt und beschimpfte die einschreitenden Sicherheitswachebeamten. Mittlerweile trafen vier weitere Funkstreifenwagen am Ort des Geschehens ein. Der Beschwerdeführer wurde von Insp. B zur Ausweisleistung sowie zur Einstellung seines lauten Verhaltens aufgefordert. Nachdem zwar die Identität des Beschwerdeführers festgestellt werden konnte, er jedoch trotz Abmahnung die Polizeibeamten weiterhin lauthals beschimpfte, wurde er festgenommen. Der Beschwerdeführer wurde aufgefordert, sich in den Funkstreifenwagen zu setzen, kam der Aufforderung jedoch nicht nach. Als er von Rev.Insp. S und Insp. B an den Oberarmen ergriffen wurde, widersetzte er sich der Festnahme. Daraufhin wurde er von mehreren Beamten zu Boden geworfen. Es wurde auf ihn eingeschlagen sowie gegen ihn getreten. Dabei erlitt der Beschwerdeführer Nierenblutungen, eine Gehirnerschütterung, Prellungen am Oberkörper sowie Schürfwunden im Gesicht. Nachdem ihm Handfesseln angelegt worden waren, wurde er mit dem Funkstreifenwagen auf das Bezirkspolizeikommissariat Innere Stadt gebracht, wo er um 8.15 Uhr von Amtsarzt Dr. S untersucht wurde, der seine Delikts- und Haftfähigkeit feststellte. Der Zentraljournaldienst versehende Beamte Dr. H vermerkte um 9.50 Uhr in einem Aktenvermerk, daß der Beschwerdeführer noch alkoholisiert und nicht einvernahmefähig sei. Um 12.30 Uhr führte Amtsarzt Dr. S neuerlich eine Untersuchung durch, bei der er feststellte, daß Mag. W deutlich ruhiger als bei der ersten Untersuchung wäre sowie daß beide Handgelenke verschwollen und der zweite und dritte Finger der rechten Hand bläulich verfärbt wären. Er konstatierte die Haftfähigkeit des Beschwerdeführers und verneinte das Erfordernis einer stationären Behandlung. Die Einvernahme erfolgte schließlich um 13.45 Uhr durch Mag. H, demgegenüber der Beschwerdeführer angab, von einigen Beamten am Körper mißhandelt worden zu sein. Nach seiner Entlassung aus der Haft um 14.20 Uhr begab sich der Beschwerdeführer auf die erste chirurgische Abteilung des Wilhelminenspitals, wo er untersucht wurde und wegen einer Nierenblutung bis 10. Mai 1988 in stationärer Behandlung stand.

3. Die Parteibehauptungen sowie die Zeugenaussagen divergieren in mehrfacher Hinsicht. Entgegen den Aussagen der Sicherheitswachebeamten, die übereinstimmend angeben, daß der Beschwerdeführer sehr viel geschimpft und dabei näher bezeichnete Schimpfwörter verwendet hätte, wird dies sowohl vom Beschwerdeführer als auch vom Zeugen B bestritten. Da jedoch der Beschwerdeführer bei seiner Parteienvernehmung im Rechtshilfeweg selbst zugab, daß die "Unterhaltung dann lauter geworden" sei, daß er (lt. eigenem Gedächtnisprotokoll) "natürlicherweise schon etwas erregt und vielleicht wirklich etwas lauter" gesprochen habe, sowie daß er sich "nach erfolgter Festnahme sicherlich zynisch über ihr Vorgehen (der Sicherheitswachebeamten) geäußert habe, ... (wodurch) sie sich möglicherweise provoziert gefühlt" hätten, nimmt der Gerichtshof als erwiesen an, daß der Beschwerdeführer seine an die Polizeibeamten gerichteten Erklärungen in einer Lautstärke abgab, die in vertretbarer Weise als Schreien qualifiziert werden konnte und daß er sein Verhalten auch nach Abmahnung durch die Polizeibeamten fortsetzte.

Hingegen schenkt der Verfassungsgerichtshof den Aussagen des Beschwerdeführers selbst sowie der Zeugen H B und A S insoweit Glauben, als darin dargetan wird, daß der Beschwerdeführer von mehreren Sicherheitswachebeamten zu Boden geworfen und er von diesen geschlagen sowie getreten worden ist. Dafür sprechen nicht nur die auf den Fotos des Beschwerdeführers sowie im ärztlichen Befund des Amtsarztes und des Wilhelminenspitals festgehaltenen Verletzungen, sondern auch die Aussagen des Zeugen B, der von einem Polizisten spricht, der mit dem Fuß auf den Beschwerdeführer getreten habe und des Zeugen S, der sowohl vor dem Untersuchungsrichter als auch anläßlich seiner Rechtshilfevernehmung aussagte, daß der Beschwerdeführer von den Beamten niedergeworfen worden sei und daß Beamte auf ihm gekniet seien.

Für diese Phase der Amtshandlung zeichnen sich die Aussagen der Sicherheitswachebeamten als Zeugen durch bemerkenswerte Undeutlichkeiten aus. Anders als in der Gegenschrift dargestellt, muß jedenfalls davon ausgegangen werden, daß die hinzugekommenen Besatzungen von weiteren vier Funkstreifenwagen den Vorfall nicht nur beobachteten, sondern auch aktiv eingriffen. So sagte Insp. G aus, daß ein bis zwei Kollegen von der Alarmabteilung bei der Schließung des Beschwerdeführers geholfen hätten. Insp. S sagte aus, daß die Beamten der anderen Wagen geholfen hätten, den Beschwerdeführer ins Auto zu setzen. In der von Insp. B verfaßten Anzeige heißt es, daß nur durch Unterstützung der Sicherheitswachebeamten der hinzu gekommenen Funkstreifenwagen "der wild um sich schlagende W zu Boden gebracht werden" konnte. Im Zuge dieser Amtshandlung seien die Beamten "mit ihm auf den Boden gestürzt; einige sind auf ihn draufgestürzt" (so Rev.Insp. S), bzw. sei der Beschwerdeführer "mitsamt den Polizisten infolge des Handgemenges zu Sturz gekommen" (Insp. S). Übereinstimmend meinten die Sicherheitswachebeamten über Vorhalt der die Verletzungen des Beschwerdeführers nachweisenden Fotos, daß diese Verletzungen vom Sturz herrührten, mögen die Aussagen auch dahin abgeschwächt formuliert worden sein, daß die Hauptabschürfungen "vermutlich" vom Sturz herrührten (Insp. G) bzw. daß "die Abschürfungen an der Stirn vom Sturz herrühren dürften" (Rev.Insp. S).

Angesichts dieser Beweislage nimmt der Verfassungsgerichtshof als erwiesen an, daß Sicherheitswachebeamte, deren Zahl und Person nicht mehr näher feststellbar sind, den Beschwerdeführer zu Boden gestoßen, geschlagen und getreten haben.

III. Der Verfassungsgerichtshof beurteilt den festgestellten Sachverhalt rechtlich wie folgt:

1. Die Festnahme des Beschwerdeführers einschließlich des Verhaltens der Sicherheitswacheorgane anläßlich der Festnahme sowie die Anhaltung des Beschwerdeführers in Polizeigewahrsam stellen Verwaltungsakte dar, die in Ausübung unmittelbarer behördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gesetzt wurden und die - da ein administrativer Instanzenzug nicht vorgesehen ist - nach Art144 Abs1 zweiter Satz B-VG beim Verfassungsgerichtshof bekämpft werden können.

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde zulässig.

2. Die Beschwerde ist auch begründet, soweit sie sich gegen das Verhalten der Sicherheitswacheorgane anläßlich der Festnahme des Beschwerdeführers, also gegen dessen zu Boden Stoßen, Schlagen und mit den Füßen Treten, richtet.

Entsprechend der ständigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes (VfSlg. 8146/1977, 10.052/1984, 11.230/1987; VfGH 10.6.1988, B483/86) verstößt eine (im Sinne des Waffengebrauchsgesetzes) unzulässige Anwendung von Körperkraft dann gegen das in Art3 MRK statuierte Verbot erniedrigender Behandlung, wenn darin eine die Menschenwürde beeinträchtigende gröbliche Mißachtung des Betroffenen als Person zum Ausdruck kommt. Sowohl für Schläge (VfSlg. 10.250/1984, 11.328/1987) als auch für Fußtritte (VfSlg. 10.250/1984, 11.230/1987; VfGH 10.6.1988, B483/86) hat der Gerichtshof angenommen, daß darin eine die Menschenwürde beeinträchtigende gröbliche Mißachtung des Betroffenen als Person zum Ausdruck gelangt, die gegen Art3 MRK verstößt. Das gleiche gilt auch für das die Mißhandlung einleitende zu Boden Stoßen des Beschwerdeführers durch eine größere Zahl von Sicherheitswacheorganen. Es kann auch keine Rede davon sein, daß das festgestellte Verhalten der Sicherheitswachebeamten - ungeachtet des Umstandes, daß es möglicherweise durch ein provokantes Benehmen des Beschwerdeführers hervorgerufen wurde - maßhaltend im Sinne der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes zu Art3 MRK (siehe auch dazu die oben zitierte Judikatur) war. Jedenfalls liegt kein Anhaltspunkt dafür vor, daß die Festnahme nicht anders als dadurch ermöglicht wurde, daß der Beschwerdeführer zu Boden geworfen wurde oder dafür, daß der Beschwerdeführer im Zuge der Auseinandersetzung mit den Polizeibeamten zufällig zu Boden stürzte. Die inkriminierten Handlungen der Sicherheitswachebeamten sind sohin nicht in einer Situation erfolgt, bei der mit Rücksicht auf ein nur so und nicht anders von der Behörde legitimerweise zu erreichendes Ziel der grundsätzlich erniedrigende Charakter der behördlichen Vorgangsweise weggefallen oder zumindest in Kauf zu nehmen gewesen wäre.

Es ist daher auszusprechen, daß der Beschwerdeführer durch das zu Boden Stoßen, Schlagen und Treten durch Sicherheitswachebeamte im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht, keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen zu werden, verletzt worden ist.

3. Hingegen ist die Beschwerde nicht begründet, soweit sie sich gegen die Festnahme und Anhaltung des Beschwerdeführers wendet.

a. Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 MRK (s. VfSlg. 8815/1980) - Schutz gegen eine gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958 u.a.):

Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, legt in seinem §4 fest, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen.

§35 VStG 1950 ist ein solches Gesetz (VfSlg. 7252/1974), doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten Fällen (lita bis c) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird: Sie muß also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Tat begehen und bei Begehung dieser Tat betreten werden, wobei die erste dieser beiden Bedingungen schon dann vorliegt, wenn das Organ die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund annehmen konnte (s. VfSlg. 4143/1962, 9913/1984, 10.480/1985).

Gemäß §35 litc VStG 1950 ist eine Festnahme unter den schon umschriebenen Bedingungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann statthaft, wenn der Betretene trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlung verharrt oder sie zu wiederholen sucht.

Demgemäß war zunächst zu prüfen, ob das hier einschreitende Sicherheitsorgan mit gutem Grund - und damit vertretbar - zur Auffassung gelangen durfte, daß der Beschwerdeführer die Verwaltungsübertretung nach ArtVIII, 1. und 2. Fall EGVG 1950 und nach ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 begangen habe.

Vor dem Hintergrund der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes war die Annahme der genannten Verwaltungsübertretungen - wie sich aus dem festgestellten Sachverhalt (II.2.) ergibt - zumindest vertretbar.

Da der Beschwerdeführer trotz Abmahnung in der Fortsetzung der strafbaren Handlungen verharrte, war der Festnahmegrund der litc des §35 VStG 1950 gegeben.

b. Die im Anschluß an die - im Gesetz gedeckte, wegen Verharrens in der strafbaren Handlung ausgesprochene - Festnahme des Beschwerdeführers erfolgte Anhaltung war ebenfalls rechtmäßig:

Die bis 14.20 Uhr andauernde Anhaltung war wegen der Alkoholisierung des Beschwerdeführers und der Unmöglichkeit, eine sinnvolle Einvernahme früher durchzuführen, sowie infolge der Notwendigkeit einer zweimaligen amtsärztlichen Untersuchung gerechtfertigt.

c. Der Beschwerdeführer wurde durch die bekämpften Verwaltungsakte sohin im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit nicht verletzt. Da auch kein Anhaltspunkt dafür besteht, daß der Beschwerdeführer durch die Festnahme und Anhaltung infolge Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt wurde, war die Beschwerde diesbezüglich als unbegründet abzuweisen.

4. Die Kostenentscheidung (Punkt 3. des Spruches) fußt auf §88 VerfGG 1953. Angesichts des Gesamtergebnisses des Beschwerdeverfahrens (teils Abweisung, teils Stattgebung) wurden die Kosten des Verfahrens gegeneinander aufgehoben (§43 Abs1 ZPO iVm §35 Abs1 VerfGG 1953; s. zB VfSlg. 9920/1984, 10.083/1984, 10.975/1986).

Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung beschlossen werden.

Schlagworte

Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Verwaltungsstrafrecht, Festnehmung, Polizeirecht, Anstandsverletzung, Lärmerregung, Ordnungsstörung, Mißhandlung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1990:B1228.1988

Dokumentnummer

JFT_10099388_88B01228_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten