Index
001 Verwaltungsrecht allgemein;Norm
ASVG §357 Abs1;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Liska und die Hofräte Dr. Knell, Dr. Müller, Dr. Novak und Dr. Händschke als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Schwächter, über die Beschwerde der H in Z, vertreten durch Dr. O, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Bundesministers für Arbeit und Soziales vom 7. Dezember 1990, Zl. 127.023/1-7/90, betreffend Zurückweisung einer Berufung in Angelegenheit der Versicherungspflicht nach dem LZVG (mitbeteiligte Partei: Sozialversicherungsanstalt der Bauern, Wien 3, Ghegastraße 1), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 11.120,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Mit Bescheid vom 7. Juni 1990 sprach die mitbeteiligte Sozialversicherungsanstalt der Bauern aus, daß die Beschwerdeführerin vor dem 1. Jänner 1958 in der landwirtschaftlichen Zuschußrentenversicherung nicht pflichtversichert gewesen sei.
Dem dagegen von der Beschwerdeführerin erhobenen Einspruch gab der Landeshauptmann von Niederösterreich mit Bescheid vom 13. September 1990 gemäß § 66 Abs. 4 AVG keine Folge und bestätigte den bekämpften Bescheid. Nach der Rechtsmittelbelehrung sei gegen diesen Bescheid die binnen zwei Wochen nach Zustellung beim Amt der Niederösterreichischen Landesregierung schriftlich oder telegraphisch einzubringende Berufung zulässig (§ 415 ASVG). Dieser Bescheid wurde der Beschwerdeführerin am 2. Oktober 1990 zugestellt.
Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin mit ihrem an die mitbeteiligte Sozialversicherungsanstalt adressierten, am 16. Oktober 1990 zur Post gegebenen und bei der mitbeteiligten Partei am 17. Oktober 1990 eingelangten Schriftsatz vom 15. Oktober 1990 Berufung an die belangte Behörde. Die mitbeteiligte Partei übermittelte diese Berufung dem Amt der Niederösterreichischen Landesregierung mit ihrem Schreiben vom 13. November 1990, das dort am 14. November 1990 einlangte. Daraufhin wurde vom Amt der Niederösterreichischen Landesregierung die Berufung der belangte Behörde vorgelegt.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung gemäß § 66 Abs. 4 in Verbindung mit § 63 Abs. 5 AVG als verspätet zurück. Begründet wurde diese Entscheidung damit, daß gemäß § 63 Abs. 5 AVG der Bescheid bei jener Behörde einzubringen sei, die den Bescheid in erster Instanz erlassen habe. Entsprechend den Besonderheiten des Verfahrens in Angelegenheiten der Sozialversicherung sei im konkreten Fall die mitbeteiligte Partei, die den erstinstanzlichen Bescheid erlassen habe, im Einspruchsverfahren (§ 413 Abs. 2 ASVG), aber auch im Berufungsverfahren Partei. Der zuständige Versicherungsträger, der gemäß der genannten Bestimmung Formalpartei sei, könne somit in diesem Verfahren nicht gleichzeitig als Behörde angesehen werden. Diesem Umstand trage die Rechtsmittelbelehrung des Einspruchsbescheides durch den (richtigen) Hinweis Rechnung, daß die Berufung beim Amt der Niederösterreichischen Landesregierung einzubringen sei. Da somit die mit 16. Oktober 1990 zur Post gegebene Berufung an die unrichtige Stelle gerichtet gewesen und der Postenlauf zur mitbeteiligten Partei daher in die Rechtsmittelfrist einzurechnen sei, sei die Rechtzeitigkeit daran zu messen, wann die mitbeteiligte Partei die Berufung an die richtige Einbringunsstelle, nämlich die Einspruchsbehörde, zur Post gegeben habe. Dies sei erst am 13. November 1990 erfolgt. Unabhängig davon, ob diese Vorgangsweise das Erfordernis des Handelns ohne unnötigen Aufschub erfülle, habe die Gefahr für die Verzögerung gemäß § 6 AVG die Beschwerdeführerin zu tragen. Da somit das am 13. November 1990 an die zuständige Stelle zur Post gegebene Rechtsmittel wegen Ablaufes der Rechtsmittelfrist am 16. Oktober 1990 das Erfordernis der Rechtzeitigkeit nicht erfülle, sei die Berufung als verspätet zurückzuweisen gewesen.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, nach der sich die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf gesetzliche und ordnungsgemäße Behandlung ihrer Berufung verletzt erachtet. In Ausführung dieses Beschwerdepunktes wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Rechtsauffassung der belangten Behörde, es sei eine Berufung gegen einen Bescheid der Einspruchsbehörde nach § 415 ASVG nach der Bestimmung des § 63 Abs. 5 AVG bei der Einspruchsbehörde einzubringen. Dies widerspreche dem klaren Wortlaut des § 63 Abs. 5 AVG. Die Parteistellung der mitbeteiligten Partei im Berufungsverfahren vermöge keine Ausnahme von der Bestimmung des § 63 Abs. 5 AVG zu bewirken. Hätte der Gesetzgeber eine solche Ausnahme beabsichtigt, so wäre dies anzuführen gewesen.
§ 413 Abs. 2 ASVG habe lediglich die Bedeutung, daß der Versicherungsträger als Behörde erster Instanz zuzüglich zu den Rechten, die jeder Behörde erster Instanz auf Grund des AVG zustehe, noch die weiteren Rechte einer Partei habe. Keineswegs könne damit aber gemeint sein, daß die Behörde erster Instanz auf Grund ihrer Parteistellung im Rechtsmittelverfahren nicht die im AVG vorgesehenen Rechte und Pflichten einer Behörde erster Instanz (hier: Berufungen gegen Bescheide zweiter Instanz entgegenzunehmen) zu erfüllen habe.
Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor, nahm aber ebenso wie die mitbeteiligte Partei von einer Gegenschrift Abstand.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Nach der gemäß § 182 BSVG bei der Durchführung dieses Bundesgesetzes anwendbaren Bestimmung des § 413 Abs. 1 ASVG (in der Fassung vor der Novelle BGBl. Nr. 676/1991) entscheidet der Landeshauptmann 1) über die bei ihm nach § 412 eingebrachten Einsprüche, 2) unter Ausschluß eines Bescheidrechtes der beteiligten Versicherungsträger über die in dieser Bestimmung genannten (im Beschwerdefall nicht in Betracht kommenden) Angelegenheiten. Nach § 413 Abs. 2 leg. cit. hat in dem Verfahren nach Abs. 1 Z. 1 der Versicherungsträger, gegen dessen Bescheid sich der Einspruch richtet, Parteistellung.
Nach § 415 ASVG steht die Berufung an das Bundesministerium für soziale Verwaltung (nunmehr: Bundesminister für Arbeit und Soziales) gegen den Bescheid des Landeshauptmannes in den Fällen des § 413 Abs. 1 Z. 2 allgemein, in den Fällen des § 413 Abs. 1 Z. 1 jedoch nur zu, wenn über die Versicherungspflicht oder die Berechtigung zur Weiter- oder Selbstversicherung entschieden worden ist.
Auf das Verfahren hat der genannte Bundesminister nach Art. II Abs. 4 EGVG (sowohl dieses Gesetz als auch das AVG noch in der vor dem 1. Jänner 1991 geltenden Fassung) das AVG, und somit auch die §§ 61 Abs. 4 und 63 Abs. 5 AVG, anzuwenden, weil er die Entscheidung über Berufungen nach § 415 ASVG als "im Instanzenzug übergeordnete Behörde" trifft und der Landeshauptmann gemäß Art. II Abs. 2 lit. A Z. 1 EGVG nach dem AVG vorzugehen hat.
Gemäß § 63 Abs. 5 AVG ist die Berufung von der Partei schriftlich oder telegraphisch binnen zwei Wochen bei der Behörde einzubringen, die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat. Die Frist beginnt für jede Partei mit der an sie erfolgten Zustellung der schriftlichen Ausfertigung des Bescheides, im Falle bloß mündlicher Verkündung mit dieser.
Wäre die Rechtsauffassung der belangten Behörde, daß die Berufung nach § 63 Abs. 5 AVG bei der Einspruchsbehörde einzubringen gewesen wäre, richtig, so entspräche, was auch die Beschwerdeführerin nicht bestreitet, die Zurückweisung der Berufung als verspätet der Rechtslage (vgl. dazu unter anderem die Erkenntnisse vom 5. Oktober 1988, Zl. 88/18/0250, und vom 19. September 1989, Zl. 89/08/0028). Zu klären ist daher, ob als "Behörde ..., die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat" im Sinne des § 63 Abs. 5 AVG die Einspruchsbehörde, wie die belangte Behörde meint, oder entsprechend der Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin die mitbeteiligte Sozialversicherungsanstalt der Bauern anzusehen ist.
Gegen die Wertung der Einspruchsbehörde als Einbringungsstelle im Sinne des § 63 Abs. 5 AVG spricht der Umstand, daß der Landeshauptmann zwar - entsprechend dem klaren Wortlaut des § 413 Abs. 1 Z. 2 ASVG - in diesen Fällen sowie bei Anrufung mit einem Devolutionsantrag nach § 410 Abs. 2 ASVG (vgl. unter anderem die Beschlüsse vom 24. Oktober 1985, Zl. 85/08/0145, und vom 29. September 1992, Zl. 92/08/0192, und das Erkenntnis vom 17. Dezember 1991, Zl. 90/08/0030), jedoch nicht in den Fällen des § 413 Abs. 1 Z. 1 ASVG als Behörde erster Instanz entscheidet. Im Einspruchsverfahren kommt dem Landeshauptmann vielmehr nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. unter anderem die Erkenntnisse vom 16. Juni 1964, Slg. Nr. 6379/A, vom 17. März 1965, Slg. Nr. 6630/A und vom 19. Februar 1991, Zl. 90/08/0142) und dem Schriftum (vgl. Oberndorfer in: Tomandl, Sozialversicherungssystem, Seite 698) die Rechtsstellung einer Rechtsmittelbehörde (und nicht einer Behörde erster Instanz, aber auch nicht einer Aufsichtsbehörde) zu; dies ungeachtet des Umstandes, daß der Bescheid, gegen den Einspruch im Sinne des § 412 Abs. 1 ASVG erhoben wird, nicht einer staatlichen Verwaltungsbehörde, sondern einem Rechtsträger, dem insofern die hoheitliche Durchführung öffentlicher Aufgaben in Selbstverwaltung (als "Selbstverwaltungskörper") übertragen ist und der diesbezüglich als Organ funktioneller Bundesverwaltung tätig wird (vgl. unter anderem Korinek in: Tomandl, Sozialversicherungssystem, 485 ff, insbesondere 486, 489 ff, 504 f, 538, 541 f, mit weiteren Judikatur- und Schrifttumshinweisen) zuzurechnen ist und diesem Rechtsträger überdies im Einspruchsverfahren Parteistellung zukommt.
Die beiden zuletzt genannten Momente rechtfertigen aber auch nicht eine (den Wortlaut berichtigende) Interpretation des § 63 Abs. 5 AVG im vorliegenden Zusammenhang dahin, daß wegen dieser Momente unter der Einbringungsstelle einer Berufung gegen einen Einspruchsbescheid die Behörde zu verstehen sei, die erstmals als "staatliche Verwaltungsbehörde" in der Angelegenheit entschieden hat, also die Einspruchsbehörde.
Denn nach Art. VI Abs. 1 EGVG sind überall dort, wo im AVG oder VStG von Behörden gesprochen wird, darunter die Verwaltungsorgane zu verstehen, für deren behördliches Verfahren diese Gesetze gemäß Art. II gelten. Für das Verfahren vor den Versicherungsträgern in Leistungs- und Verwaltungssachen gelten nach § 357 ASVG die darin näher bezeichneten Bestimmungen des AVG. Es ist daher nach Art. II Abs. 3 EGVG in Verbindung mit § 357 ASVG das AVG, wenn auch nur teilweise, mittelbar (weil nur "mittelbar auf den Bestimmungen des EGVG beruhend") anzuwenden (vgl. Walter-Mayer, Grundriß des österreichischen Verwaltungsverfahrensrechts5, Rdzen. 63, 69). Da den Sozialversicherungsträgern in den (hier in Rede stehenden) Verfahren in Verwaltungssachen durch Gesetz (§ 410 ASVG) die Kompetenz übertragen wurde, einseitig verbindliche Normen (Bescheide) zu erlassen und sie dadurch "Befehlsgewalt" (imperium) haben, sind diese Verfahren als behördliche Verfahren und die zu ihrer Durchführung berufenen Sozialversicherungsträger (zufolge der Organisierung der Sozialversicherungsträger nicht deren Organe: vgl. Oberndorfer in: Tomandl, Sozialversicherungssystem, 650) als Behörden im Sinne des Art. VI Abs. 1 EGVG und damit unter anderem des § 63 Abs. 5 AVG zu werten (vgl. Walter-Mayer, Grundriß des österreichischen Verwaltungsverfahrensrechts5, Rdz. 58, sowie Grundriß des österreichischen Bundesverfassungsrechts7, Rdz. 549; Oberndorfer in: Tomandl, Sozialversicherungssystem, Seite 649 f; Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 3. Dezember 1963, VfSlg. 4591: Sozialversicherungsträger als "Bundesbehörden"). Daran ändert es nichts, daß § 63 Abs. 5 AVG nach § 357 Abs. 1 ASVG unter anderem im Verfahren vor den Versicherungsträgern in Verwaltungssachen nicht gilt, weil es im vorliegenden Zusammenhang nicht darum geht, ob diese Bestimmung des AVG im Verfahren vor dem Versicherungsträger anzuwenden ist, sondern ob im Verfahren über eine Berufung nach § 415 ASVG, für das, wie bereits ausgeführt wurde, diese Bestimmung gilt, der Sozialversicherungsträger als die Behörde anzusehen ist, die den Bescheid in erster Instanz erlassen hat.
Es ist aber ferner (ebenso wie für die Qualifizierung der Einspruchsbehörde als Rechtsmittelbehörde) auch für die Wertung des Sozialversicherungsträgers als Einbringungsstelle (einer Berufung nach § 415 ASVG) im Sinne des § 63 Abs. 5 AVG ohne Bedeutung, daß dem Sozialversicherungsträger, der den (letztlich von der Berufung betroffenen) Bescheid erlassen hat, nicht nur kraft der ausdrücklichen Bestimmung des § 413 Abs. 2 ASVG im Einspruchsverfahren, sondern nach zutreffender Auffassung (vgl. Oberndorfer in: Tomandl, Sozialversicherungssystem, 705) auch im Berufungsverfahren Parteistellung zukommt. Denn diese Parteistellung erklärt sich aus der Aufgabe des Sozialversicherungsträgers zur Wahrung der ihm in Selbstverwaltung übertragenen Interessen der Versichertengemeinschaft, der ein subjektives Recht des Sozialversicherungsträgers auf Aufrechterhaltung der von ihm getroffenen Entscheidung entspricht; sie hat daher mit der im Beschwerdefall zu entscheidenden Frage der Behördeneigenschaft des Sozialversicherungsträgers im Sinne des § 63 Abs. 5 AVG nichts zu tun.
Die Rechtsauffassung der belangte Behörde, daß nicht die mitbeteiligte Sozialversicherungsanstalt der Bauern, sondern die Einspruchsbehörde Einbringungsstelle im Sinne des § 63 Abs. 5 AVG gewesen sei, entspricht daher (ebenso wie die Rechtsmittelbelehrung der Einspruchsbehörde, die freilich nach § 61 Abs. 4 AVG bewirkte, daß dann, wenn die Beschwerdeführerin die Berufung bei der Einspruchsbehörde eingebracht hätte, das Rechtsmittel trotz der unrichtigen Rechtsmittelbelehrung als richtig eingebracht anzusehen gewesen wäre) nicht der Rechtslage.
Da, ausgehend von der richtigen Interpretation des § 63 Abs. 5 AVG, die von der Beschwerdeführerin am 16. Oktober 1990 zur Post gegebene und an die mitbeteiligte Sozialversicherungsanstalt der Bauern adressierte Berufung nach der eben genannten Bestimmung in Verbindung mit den §§ 32 Abs. 2 und 33 Abs. 3 AVG rechtzeitig erhoben wurde, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 104/1991. Das Kostenmehrbegehren war abzuweisen, weil einerseits neben dem gemäß § 48 Abs. 1 Z. 2, 49 Abs. 1 VwGG in Verbindung mit der zitierten Verordnung des Bundeskanzlers zustehenden Pauschbetrag für den Schriftsatzaufwand nicht auch die davon errechnete Umsatzsteuer gebührt und andererseits nach § 44 Abs. 1 Z. 2 lit. a BSVG sachliche Abgabenfreiheit besteht.
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1992:1991080022.X00Im RIS seit
11.07.2001