Index
10/07 Verwaltungsgerichtshof;Norm
AVG §71 Abs1 lita;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Liska und die Hofräte Dr. Knell und Dr. Novak als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Schwächter, über die Beschwerde des H in W, vertreten durch Dr. D, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Bundesministers für Arbeit und Soziales vom 11. Oktober 1991, Zl. 120.719/5-6a/91, betreffend Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist (mitbeteiligte Partei: Sozialversicherungsanstalt der Gewerblichen Wirtschaft, 1051 Wien, Wiedner Hauptstraße 84-86), zu Recht erkannt:
Spruch
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
Der Beschwerdeführer hat dem Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) Aufwendungen in der Höhe von S 505,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit Bescheid vom 28. November 1990 wies der Landeshauptmann von Wien den Antrag des Beschwerdeführers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 4. Oktober 1990 betreffend Versicherungspflicht nach dem Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz gemäß § 71 Abs. 1 lit. a AVG ab. Nach der Begründung habe der Beschwerdeführer an seinen Rechtsvertreter ein offensichtlich unklares Schreiben gerichtet, welches am 2. November 1990 in dessen Kanzlei eingelangt sei. An diesem Tag sei der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers allerdings nicht in der Kanzlei anwesend gewesen. Das Schreiben des Beschwerdeführers sei dem Rechtsvertreter jedoch nicht zur Kenntnisnahme auf den Schreibtisch gelegt, sondern einer Kanzleimitarbeiterin zur Anlage eines Aktes übergeben worden, wobei eine Fristvormerkung unterblieben sei. In der Folge sei das Schreiben dann irrtümlich von einer Kanzleikraft in die Ablage gegeben, wo es erst am 20. November 1990 - nach Ablauf der Rechtsmittelfrist - wieder aufgefunden worden sei.
Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vertrat der Landeshauptmann im wesentlichen die Auffassung, daß der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers sofort nach seiner Rückkehr in die Kanzlei am 5. November 1990 im Wege einer Nachfrage bei seinen Kanzleibediensteten hätte überprüfen müssen, welche Schriftstücke in seiner Abwesenheit eingelangt seien. Im Unterbleiben einer entsprechenden nachgreifenden Kontrolle am 5. November 1990 sei eine Verletzung der Sorgfaltspflicht zu erblicken, welche die Anwendung des § 71 Abs. 1 lit. a AVG im gegebenen Fall verhindere. Das irrtümliche Verbringen des Schreibens des Beschwerdeführers in die Ablage gehe zwar auf ein internes Versehen zurück, stelle jedoch zufolge mangelnder Beachtung der Sorgfaltspflicht kein unvorhergesehens oder unabwendbares Ereignis dar. Im übrigen müsse auch dem Beschwerdeführer insofern ein Verschulden zugemessen werden, da er in seinem Schreiben vom 31. Oktober 1990 offensichtlich keine klaren Angaben hinsichtlich des anzufechtenden Bescheides sowie der Zustelldaten der vorgelegten Bescheide gemacht habe, wodurch eine sofortige Fristsetzung seitens der Anwaltskanzlei verhindert worden sei.
Der Beschwerdeführer erhob Berufung.
Mit dem angefochtenen Bescheid wurde der Berufung keine Folge gegeben und der Bescheid des Landeshauptmannes bestätigt. Nach der Begründung habe der Beschwerdeführer in seiner Berufung im wesentlichen vorgebracht, sein Vertreter habe nach seiner Rückkehr in die Kanzlei am 5. November 1990 seine Kanzleileiterin, F, gefragt, ob sie ihm die gesamte für ihn bestimmte Post vom 2. November 1990 auf den Schreibtisch gelegt habe. Diese Frage sei von der Genannten mit "ja" beantwortet worden.
Die belangte Behörde verwies dazu auf die von der Kanzleileiterin am 26. November 1990 abgegebene Sachverhaltsdarstellung, wonach sie auf ein am 2. November 1990 eingelangtes Schreiben des Beschwerdeführers einen die weitere Vorgangsweise in dieser Angelegenheit betreffenden Zettel geheftet und das Schriftstück sodann der Sekretärin, E, mit dem Ersuchen übergeben habe, einen neuen Akt anzulegen und dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers auf dessen Schreibtisch zu legen. E habe in ihrer Sachverhaltsdarstellung vom 26. November 1990 angegeben, sie habe das ihr übergebene Schriftstück versehentlich im Aktenarchiv abgelegt.
Zu diesen Sachverhaltsdarstellungen bemerkte die belangte Behörde, aus ihnen sei nicht ersichtlich, daß sich der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers nach seiner Rückkehr am 5. November 1990 bei seinen Kanzleiangestellten ausdrücklich nach dem Posteinlauf während seiner Abwesenheit - wie dies in der Berufung behauptet werde - erkundigt habe. Hätte er dies tatsächlich getan, so hätte sich die Kanzleileiterin mit Sicherheit an das Schreiben des Beschwerdeführers, dessen Inhalt für sie noch dazu unklar gewesen sei und das sie deshalb mit besonderer Aufmerksamkeit behandelt und sogar mit einem Dringlichkeitsvermerk versehen habe, erinnert. Auch die belangte Behörde gelange daher zu der Auffassung, daß eine nachgreifende Kontrolle durch Erkundigungen über die Vorkommnisse in der Kanzlei während der Abwesenheit des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers nicht stattgefunden habe. Dies stelle jedoch einen Mangel dar, durch den eine Anwendung des § 71 Abs. 1 lit. a AVG nicht gerechtfertigt erscheine.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften erhobene Beschwerde vor dem Verwaltungsgerichtshof.
Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, jedoch ebenso wie die mitbeteiligte Partei von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
Sofern der Beschwerdeführer zunächst die Auffassung vertritt, § 71 Abs. 1 AVG hätte von der belangten Behörde "aus Rechtsschutzgesichtspunkten" in der Fassung der Novelle BGBl. Nr. 357/1990 angewendet werden müssen, kann ihm aus folgenden Überlegungen nicht gefolgt werden.
Nach Art. IV Abs. 1 der genannten Novelle trat dieses Bundesgesetz mit 1. Jänner 1991 in Kraft. Am 1. Jänner 1991 anhängige Verfahren sind allerdings nach Abs. 2 der genannten Bestimmung nach der bisherigen Rechtslage zu Ende zu führen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat zur vergleichbaren Bestimmung des Art. II Abs. 2 der Novelle zum Verwaltungsstrafgesetz, BGBl. Nr. 358/1990, die Auffassung vertreten, daß eine Anhängigkeit des Verfahrens am 1. Jänner 1991 dann vorliegt, wenn das Verwaltungsstrafverfahren bis zum 31. Dezember 1990 eingeleitet, also bis zu diesem Zeitpunkt eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 32 Abs. 2 VStG vorgenommen wurde. Das wegen Versäumung der Berufungsfrist geführte Wiedereinsetzungsverfahren stelle kein neues Verwaltungsverfahren mit gesonderter Anhängigkeit dar, sondern sei Teil des der Wiedereinsetzung zugrunde liegenden Strafverfahrens (vgl. z. B. die Erkenntnisse vom 18. Dezember 1991, Zlen. 91/02/0137, 0138 und vom 13. Februar 1992, Zl. 91/06/0209).
Für den vorliegenden Beschwerdefall ist daher entscheidend, ob das der Wiedereinsetzung zugrunde liegende Verwaltungsverfahren betreffend Versicherungspflicht des Beschwerdeführers nach dem Gewerblichen Sozialversicherungsgesetz bis zum 31. Dezember 1990 anhängig gemacht wurde. Dies ist nach Lage der Verwaltungsakten von Amts wegen durch ein Schreiben der mitbeteiligten Partei an den Beschwerdeführer am 6. Juli 1990 geschehen. Im übrigen würde auch eine andere Betrachtungsweise die Beschwerde nicht zum Erfolg führen, da auch das Wiedereinsetzungsverfahren bereits mit Schriftsatz vom 25. November 1990 beim Landeshauptmann anhängig gemacht wurde. Die belangte Behörde handelte daher nicht rechtswidrig, wenn sie § 71 Abs. 1 lit. a AVG in der Fassung VOR der Novelle BGBl. Nr. 357/1990 zur Anwendung brachte.
§ 71 Abs. 1 lit. a AVG in der im Beschwerdefall anzuwendenden Fassung hat folgenden Wortlaut:
§ 71. (1) Gegen die Versäumung einer Frist oder einer mündlichen Verhandlung ist auf Antrag der Partei, die durch die Versäumung einen Rechtsnachteil erleidet, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen, wenn:
a) die Partei glaubhaft macht, daß sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis ohne ihr Verschulden verhindert war, die Frist einzuhalten oder zur
Verhandlung zu erscheinen, ... "
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vermögen in der Person eines Bevollmächtigten der Partei eingetretene Tatumstände für die vertretene Partei nur dann einen Wiedereinsetzungsgrund zu bilden, wenn sich die Umstände für den Verteter selbst als ein unverschuldetes und entweder unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis darstellen (vgl. z. B. das Erkenntnis vom 19. Mai 1983, Zl. 83/15/0025).
Das Versehen eines Kanzleibediensteten ist für einen Rechtsanwalt (und damit für die von ihm vertretene Partei) nur dann ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis, das ohne sein Verschulden die Einhaltung der Frist verhinderte, wenn der Rechtsanwalt der ihm zumutbaren und nach der Sachlage gebotenen Überwachungspflicht gegenüber dem Kanzleibediensteten nachgekommen ist (vgl. das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 31. Jänner 1990, Zl. 89/03/0254).
Wenn der Wiedereinsetzungswerber als Wiedereinsetzungsgrund ein Versehen eines Kanzleiangestellten seines bevollmächtigten Rechtsanwaltes geltend macht, so hat er durch konkrete Behauptungen im Wiedereinsetzungsantrag nicht nur darzutun, worin das Versehen bestanden hat, sondern auch, daß es zur Fehlleistung der Kanzleiangestellten gekommen ist, obwohl die dem Rechtsanwalt obliegenden Aufsichts- und Kontrollpflichten eingehalten wurden. Erlaubt das Vorbringen im Wiedereinsetzungsantrag über das beim Rechtsanwalt des Wiedereinsetzungswerbers eingerichtete Kontrollsystem und über die konkreten Umstände, auf die die Versäumung der Beschwerdefrist zurückzuführen ist, eine Beurteilung der Frage nach den letzteren nicht, so schließt dies die Annahme eines tauglichen Wiedereinsetzungsgrundes aus (vgl. dazu den Beschluß vom 21. Februar 1990, Zlen. 90/03/0021, 0022).
Bei der Organisation einer Rechtsanwaltskanzlei ist nach der Rechtsprechung vorzukehren, daß Einlaufstücke nicht so bearbeitet werden, daß die Möglichkeit der Verlegung in anderen Akten bestehe (vgl. den Beschluß vom 22. März 1991, Zl. 91/10/0018). Wenn der Vertreter eines Antragstellers im Wiedereinsetzungsantrag vorbringt, der Umstand, daß das Straferkenntnis in einen fremden Akt "hineingerutscht" und dort übersehen worden sei, sei im wesentlichen auf ein "Versehen" seiner Sekretärin zurückzuführen, wobei die Fristvormerkung bisher tadellos funktioniert habe und sehr gewissenhaft vorgenommen worden sei und die stichprobenartig vorgenommenen Überprüfungen der Fristvormerke immer die ausgesprochene Richtigkeit bestätigt hätten, so kann dieses Vorbringen nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht als ausreichend angesehen werden, weil jegliche Angaben darüber fehlen, inwieweit der Verteter des Antragstellers die Vorlage der Eingangsstücke überwacht, das heißt mit welchen organisatorischen Maßnahmen er dem etwaigen Verschwinden von Eingangsstücken zu begegnen versucht. Ein allgemein gehaltenes Vorbringen, er kontrolliere die Sekretärin "stichprobenartig" ist in diesem Zusammenhang nicht ausreichend (vgl. das Erkenntnis vom 26. September 1990, Zl. 90/10/0070).
Vor dem Hintergrund der dargestellten Rechtslage muß der Beschwerde der Erfolg versagt bleiben.
Nach Lage der Verwaltungsakten langte am 2. November 1990 in der Kanzlei des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers ein von diesem abgesendetes Schreiben ein. Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers befand sich an diesem Tag nicht in der Kanzlei. Für die Kanzleileiterin F war aus dem Inhalt des Briefes und den Beilagen nicht klar erkennbar, welche Rechtsmittel der Beschwerdeführer erheben wolle, weshalb auch keinerlei Termine im Fristenbuch eingetragen wurden. Die Kanzleileiterin brachte statt dessen einen entsprechenden Hinweis auf dem Schriftstück an, übergab dieses der Sekretärin E mit dem Auftrag, einen neuen Akt anzulegen und diesen dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers auf den Schreibtisch zu legen. Frau E, die bei dieser Tätigkeit durch mehrere Telefonanrufe unterbrochen wurde, legte das Schreiben jedoch irrtümlich in der Ablage ab.
Zu diesen Vorgängen heißt es im Wiedereinsetzungsantrag vom 25. November 1990 wörtlich:
"Ein derartiger Vorfall hat sich in der nahezu zwanzigjährigen Praxis meines Rechtsanwaltes nicht ereignet und kann sich grundsätzlich auch nicht ereignen, da die Kanzleileiterin den Auftrag hat, Schriftstücke, bei welchen auch nur möglicherweise Fristen zu beachten sind, Herrn Dr. D zu bringen und ihn unmittelbar zu fragen, welche Frist einzutragen ist. Sollte Dr. D einmal einen Tag abwesend sein, so ist ein derartiges Schriftstück immer Herrn Dr. D mit dem entsprechenden Vermerk UNMITTELBAR auf den Schreibtisch zu legen. Erst wenn Herr Dr. D das Schriftstück gesehen und der Kanzleileiterin den Auftrag gegeben hat, im Kanzleikalender die Frist einzutragen und er in seinem persönlichen Kalender gleichfalls die Frist eingetragen hat, wird das Schriftstück zur Aktenanlage an seine Sekretärin gegeben. Im vorliegenden Fall konnte es zum Fristversäumnis nur dadurch kommen, daß die Kanzleileiterin das Schriftstück Herrn Dr. D nicht UNMITTELBAR auf den Schreibtisch gelegt hat, sondern es ZUERST und bevor die Frist im Kalender eingetragen war, zur Aktenanlage an Frau E gegeben hat."
Diesem Vorbringen ist jedoch nicht einmal andeutungsweise zu entnehmen, inwieweit der Vertreter des Beschwerdeführers die Vorlage von Eingangsstücken überwacht, das heißt, mit welchen organisatorischen Maßnahmen er dem etwaigen Verschwinden von Eingangsstücken zu begegnen versucht. Als eine solche Maßnahme kann jedenfalls nicht die vom Rechtsvertreter des Beschwerdeführers in seiner Berufung behauptete Erkundigung nach seiner Rückkehr in die Kanzlei angesehen werden, ob ihm die gesamte, für ihn bestimmte Post, die am 2. November 1990 eingegangen sei, auch auf den Schreibtisch gelegt worden sei.
Demnach ist schon aufgrund des Vorbringens im Wiedereinsetzungsantrag zu erkennen, daß der Vertreter des Beschwerdeführers nicht glaubhaft gemacht hat, daß er ohne sein Verschulden daran gehindert war, die Berufungsfrist einzuhalten, mag auch in der Person der Kanzleibediensteten ein Ereignis im Sinne des § 71 Abs. 1 AVG eingetreten sein.
Aufgrund dieser Erwägungen war die Beschwerde gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 104/1991.
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1993:1991080170.X00Im RIS seit
20.11.2000Zuletzt aktualisiert am
02.07.2015