Index
60/02 Arbeitnehmerschutz;Norm
ASchG 1972 §22 Abs1;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. Jabloner und die Hofräte Dr. Stoll, Dr. Zeizinger, Dr. Sauberer und Dr. Graf als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Wildmann, über die Beschwerde der L-GmbH in W, vertreten durch Dr. F, Rechtsanwalt in W, gegen den Bescheid des Bundesministers für Arbeit und Soziales vom 28. November 1990, Zl. 61.021/128-3/90, betreffend betriebsärztliche Betreuung, zu Recht erkannt:
Spruch
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
Die Beschwerdeführerin hat dem Bund Aufwendungen in der Höhe von S 3.035,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
I.
1. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Bundesministers für Arbeit und Soziales (der belangten Behörde) vom 28. November 1990 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin vom 22. Oktober 1985 auf Befreiung von der Pflicht zur Einrichtung einer betriebsärztlichen Betreuung gemäß § 22 Abs. 2 zweiter Satz des Arbeitnehmerschutzgesetzes, BGBl. Nr. 234/1972, (ASchG) abgewiesen.
Begründend führte die belangte Behörde im wesentlichen folgendes aus: Im gegenständlichen Betrieb seien mehr als 250 Arbeitnehmer beschäftigt, weshalb ex lege die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Einrichtung einer betriebsärztlichen Betreuung bestehe (§ 22 Abs. 1 erster Satz ASchG).
Voraussetzung für die Befreiung von dieser Pflicht wäre, daß sowohl Ausmaß und Grad der Gefährdung der Arbeitnehmer als auch der Umfang des Betriebes so beschaffen wäre, daß trotz Überschreitung der gesetzlichen Schlüsselzahl eine Ausnahme geboten erschiene. Wenn auch nur eines dieser beiden Kriterien nicht erfüllt sei, könne eine Ausnahmeerteilung nicht mehr in Betracht gezogen werden. Mit zunehmender Überschreitung der Schlüsselzahl von 250 setze die Befreiung von der besagten Verpflichtung eine gegenüber dem Regelfall abnehmende Gefährdung der Arbeitnehmer voraus. Wenn aber die Schlüsselzahl in erheblichem Ausmaß überschritten werde, komme eine Befreiung bereits allein aufgrund des Betriebsumfanges nicht mehr in Betracht, unabhängig davon, wie gering die Gefährdung auch sein möge.
Daß im Betrieb der Beschwerdeführerin eine gegenüber dem Regelfall besonders geringe Gefährdung der Arbeitnehmer gegeben wäre, vermöge die belangte Behörde nicht zu erkennen. Der Ansicht der Beschwerdeführerin, daß vorliegend die gesetzliche Schlüsselzahl bloß geringfügig überschritten werde, könne keinesfalls gefolgt werden. Vielmehr vertrete die belangte Behörde die Auffassung, daß eine Überschreitung der gesetzlichen Schlüsselzahl um mehr als ein Drittel als erheblich zu betrachten sei, d.h., daß bei einer solchen Arbeitnehmerzahl die Höchstgrenze überschritten werde, jenseits der eine Befreiung bereits allein aufgrund des Betriebsumfanges nicht mehr in Betracht komme. Zur Interpretation sei hiezu § 22 Abs. 1 zweiter Satz ASchG iVm § 9 Abs. 2 der Verordnung BGBl.
Nr. 2/1984 heranzuziehen. Der vom Gesetzgeber geforderte
erhebliche Teil der Arbeitnehmer werde durch die zitierte
Verordnung dahingehend konkretisiert, daß ein Drittel der
Arbeitnehmer jedenfalls als erheblicher Teil anzusehen sei. Es
könne daher auch davon ausgegangen werden, daß die
Überschreitung der gesetzlichen Schlüsselzahl von 250 um mehr
als ein Drittel als erheblich zu bezeichnen sei. Im Betrieb der
Beschwerdeführerin seien nach deren Angaben 360, nach den
Angaben der Erstbehörde 380 Arbeitnehmer beschäftigt. Die
gesetzliche Schlüsselzahl werde daher um 110 (= 44 %) bzw. um
130 (= 52 %) überschritten. Unbestritten sei demnach eine
Überschreitung um mehr als ein Drittel. Es würden somit die
betrieblichen Verhältnisse, selbst wenn eine bloß
unterdurchschnittliche Gefährdung der Arbeitnehmer gegeben
wäre, allein aufgrund des Betriebsumfanges eine
Ausnahmegenehmigung nicht zulassen.
2. Die Behandlung der gegen diesen Bescheid zunächst an den Verfassungsgerichtshof gerichtete Beschwerde wurde von diesem mit Beschluß vom 25. November 1991, B 76/91, abgelehnt. Die u. e. an den Verwaltungsgerichtshof abgetretene Beschwerde wurde von der Beschwerdeführerin dahin ergänzt, daß sie sich in ihrem Recht, "keinen betriebsärztlichen Dienst einzurichten", verletzt erachtet. Es wird die Aufhebung des angefochtenen Bescheides wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und/oder Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften begehrt.
3. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift mit dem Antrag auf kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde als unbegründet.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1. § 22 Abs. 1 und 2 - soweit im Beschwerdefall von
Belang - lautet:
"§ 22 (1) In jedem Betrieb, in dem regelmäßig mehr als 250 Arbeitnehmer beschäftigt sind, ist vom Arbeitgeber eine dem Umfang des Betriebes, der Zahl der Beschäftigten sowie dem Ausmaß und Grad der Gefährdung der Gesundheit der Arbeitnehmer entsprechende betriebsärztliche Betreuung einzurichten. Dies gilt auch für Unternehmungen, die mehrere Betriebe im Sinne dieses Bundesgesetzes umfassen oder die mehrere getrennte Arbeitsstellen aufweisen, in denen zwar jeweils weniger als 250, insgesamt jedoch mehr als 250 Arbeitnehmer beschäftigt werden, wenn für einen erheblichen Teil der Arbeitnehmer eine besondere Gefährdung besteht ...
(2) Bei Betrieben, in denen auf Grund ihrer Eigenart für die Arbeitnehmer besondere Gefahren für die Gesundheit bestehen, hat das Arbeitsinspektorat bei einer geringeren Zahl von Arbeitnehmern dem Arbeitgeber durch Bescheid aufzutragen, innerhalb einer angemessenen Frist, die nicht mehr als sechs Monate betragen darf, eine entsprechende betriebsärztliche Betreuung einzurichten. Das Arbeitsinspektorat kann auf Antrag des Arbeitgebers, wenn es die betrieblichen Verhältnisse unter Berücksichtigung des Ausmaßes und des Grades der Gefährdung der Gesundheit der Arbeitnehmer sowie unter Berücksichtigung des Umfanges des Betriebes geboten erscheinen lassen, durch Bescheid zulassen, daß erst bei einer höheren Zahl als 250 Arbeitnehmer eine betriebsärztliche Betreuung einzurichten ist ..."
2. Vor dem Hintergrund des im vorliegenden Zusammenhang grundlegenden Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes vom 8. Oktober 1987, Zl. 86/08/0112, kann die abweisliche Entscheidung der belangten Behörde nicht als rechtsirrig erkannt werden.
In diesem Erkenntnis hat der Gerichtshof als für die Auslegung des § 22 Abs. 2 zweiter Satz ASchG wesentlich darauf hingewiesen, daß dieser Regelung die Überlegung zugrunde liege, daß mit zunehmender Arbeitnehmerzahl auch in Betrieben gleicher Gefährlichkeit die Gesundheits-(Unfall)gefahren entsprechend der Arbeitnehmerzahl anwüchsen, wodurch die Gesundheitsschutzaufgaben des Arbeitgebers umfangreicher würden und der Arbeitgeber zur Bewältigung dieser ihm obliegenden Aufgaben daher eines ihn unterstützenden Organes bedürfe. Dieser Gedanke sei bei einer Entscheidung nach § 22 Abs. 2 zweiter Satz leg. cit. insofern zu beachten, als mit zunehmender Überschreitung der Schlüsselzahl von 250 die Befreiung eine gegenüber dem Regelfall abnehmende Gefährdung der Arbeitnehmer voraussetze. Unbeschadet des Gebotes der Beachtung dieses Verhältnisses "Ausmaß der Überschreitung der Schlüsselzahl" zu "Ausmaß der Gefährdung der Gesundheit der Arbeitnehmer" brachte der Gerichtshof freilich auch zum Ausdruck, daß schon allein aufgrund des Ausmaßes der Überschreitung, d.h. der Erreichung einer "Grenzzahl", eine Befreiung von der Verpflichtung des § 22 Abs. 1 erster Satz ASchG nicht mehr in Betracht kommen könne. Im damaligen Beschwerdefall, der in dieser Hinsicht durch eine Beschäftigung von 320 Arbeitnehmern regelmäßig und von 60 Arbeitnehmern an einem Tag in der Woche gekennzeichnet war, hielt der Gerichtshof diese Grenzzahl für noch nicht erreicht.
Es kann dahingestellt bleiben, ob im vorliegenden Fall, wie die belangte Behörde meint, die Überschreitung der Zahl der im Betrieb der Beschwerdeführerin beschäftigten Arbeitnehmer so erheblich ist, daß die Zahl erreicht ist, jenseits der eine Befreiung gemäß § 22 Abs. 2 zweiter Satz ASchG nicht in Betracht kommt. Denn auch dann, wenn man der Auffassung sein sollte, daß die von der belangten Behörde primär angenommene Zahl von 360 (noch) nicht die Grenzzahl darstelle, ist die im angefochtenen Bescheid vertretene Rechtsansicht, es sei für den Betrieb der Beschwerdeführerin die von ihr beantragte Ausnahme nicht zulässig, im Hinblick auf die vorstehend wiedergegebenen Erwägungen des Verwaltungsgerichtshofes in seinem Erkenntnis Zl. 86/08/0112 im Ergebnis als zutreffend zu werten. Die belangte Behörde hat nämlich in Ansehung des Kriteriums "Ausmaß der Gefährdung der Gesundheit der Arbeitnehmer" ausdrücklich - und von der Beschwerde nicht in Abrede gestellt - festgehalten, daß der Betrieb der Beschwerdeführerin nicht durch eine "gegenüber dem Regelfall besonders geringe Gesundheitsgefährdung der Arbeitnehmer" gekennzeichnet sei. Diese durch die Aktenlage gedeckte und durch einzelne Beispiele, die hinsichtlich einer Anzahl von Arbeitnehmern sogar auf eine über den Regelfall hinausgehende besondere Gesundheitsgefährdung hindeuten, illustrierte Annahme läßt eindeutig erkennen, daß das mehrfach angesprochene, vom Verwaltungsgerichtshof für rechtlich bedeutsam erachtete Verhältnis des Ausmaßes der Überschreitung der Schlüsselzahl von 250 zum Ausmaß der gesundheitlichen Gefährdung der Arbeitnehmer im Beschwerdefall nicht so beschaffen ist, daß eine Ausnahme gemäß § 22 Abs. 2 zweiter Satz ASchG vertretbar wäre. Denn der zweifellos beachtlichen Überschreitung der Schlüsselzahl steht keine bezogen auf den Regelfall entsprechend abnehmende, sondern bestenfalls eine gleiche Gefährdung der Arbeitnehmer gegenüber.
3. Da es somit an einer wesentlichen Voraussetzung für die Vertretbarkeit (das Gebotensein) einer Ausnahmeregelung nach § 22 Abs. 2 zweiter Satz ASchG fehlt, liegt die von der Beschwerdeführerin behauptete inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides nicht vor.
4. Auch den Verfahrensrügen ist kein Erfolg beschieden. Abgesehen davon, daß die Tatsachenfeststellungen der belangten Behörde, soweit sie im bekämpften Bescheid Niederschlag fanden, nicht, wie behauptet, in Widerspruch zum Akteninhalt stehen - daß gewisse, das Maß der Gefährdung vermindernde Maßnahmen in Zukunft gesetzt würden, ist unerheblich, da es auch insoweit auf den Zeitpunkt der Entscheidung durch die belangte Behörde ankommt -, vermag die Beschwerdeführerin nicht darzutun, weshalb in dieser Hinsicht das Beweisverfahren zu ergänzen gewesen wäre. Die Behauptung, es sei das rechtliche Gehör nicht gewährt worden, trifft nicht zu, da nach Einlangen der Stellungnahme der Beschwerdeführerin vom 29. Oktober 1990 bei der belangten Behörde von dieser keine weiteren Ermittlungen mehr durchgeführt wurden, folglich kein Substrat für die Einräumung von Parteiengehör vorhanden war.
5. Da sich nach dem Gesagten die Beschwerde als unbegründet erweist, war sie gemäß § 42 Abs.1 VwGG abzuweisen.
6. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 und 48 Abs. 2 Z. 1 und 2 VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 104/1991.
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1993:1992180256.X00Im RIS seit
01.06.2001