Index
10 VerfassungsrechtNorm
B-VG Art144 Abs1 / Befehls- und Zwangsausübung unmittelb StGG Art13 MRK Art10 MRK Art10 Abs2 MRK Art11 VfGG §88 EGVG ArtIX Abs1 Z1Leitsatz
Abnahme eines Transparentes durch Sicherheitswachebeamte anläßlich eines Festaktes zur Enthüllung eines Denkmals; Anfechtbarkeit dieser Maßnahme als Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt; Gewährleistung des Versammlungsrechtes ua durch Anspruch auf Schutz vor Gegendemonstrationen; staatliche Schutzpflicht hinsichtlich aller, als Versammlungen im weiteren Sinn anzusehenden Zusammenkünfte von Menschen, also auch hinsichtlich Festakten; Wertung eines der Ausübung des Versammlungsrechtes zuwiderlaufenden Verhaltens als Ordnungsstörung; Notwendigkeit der Wahl des gelindesten Mittels, der Interessenabwägung und der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips sowie der Bewirkung des geringstmöglichen Grundrechtseingriffs bei der Ausübung der staatlichen Schutzpflicht; denkmögliche Annahme einer Ordnungsstörung im vorliegenden Fall; Abnahme des Transparentes als geeignetes, maßhaltendes Mittel zur Abwendung der Störung der Veranstaltung; keine Verletzung der MeinungsäußerungsfreiheitSpruch
Die Beschwerdeführer sind dadurch, daß Organe der Bundespolizeidirektion Wien am 24. November 1988 um etwa 19.30 Uhr am Albertinaplatz in Wien ein von den Beschwerdeführern hochgehaltenes Transparent entfernten, weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden.
Die Beschwerde wird abgewiesen und dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung darüber abgetreten, ob die Beschwerdeführer durch die bekämpfte Maßnahme in einem sonstigen Recht verletzt wurden.
Die Beschwerdeführer sind zur ungeteilten Hand schuldig, dem Bund zu Handen der Finanzprokuratur die mit S 25.000,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
I. 1. In der vorliegenden, auf Art144 (Abs1 zweiter Satz) B-VG gestützten Beschwerde wird vorgebracht, daß die Beschwerdeführer am 24. November 1988 auf dem Albertinaplatz in Wien am Festakt zur Enthüllung des Mahnmales gegen Krieg und Faschismus teilgenommen hätten. Sie hätten dort ein Transparent mit der Aufschrift "1000e Homosexuelle KZ-Opfer fordern Rehabilitierung" entrollt. Gegen 19.30 Uhr hätten Sicherheitswachebeamte (SWB) der Bundespolizeidirektion (BPD) Wien ihnen das Transparent entrissen und dieses mitgenommen.
Die Beschwerdeführer beantragen die kostenpflichtige Feststellung, daß sie durch das Entreißen und die "Beschlagnahme" des Transparentes im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf freie Meinungsäußerung (Art10 MRK und Art13 StGG) verletzt worden seien. In eventu wird die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof begehrt.
2. Die durch die Finanzprokuratur vertretene BPD Wien als belangte Behörde legte die bezughabenden Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift.
Danach hätten SWB den Beschwerdeführern das Transparent tatsächlich abgenommen. Das Ziel der Amtshandlung sei aber nicht gewesen, die Meinungsfreiheit der Beschwerdeführer zu beschränken, sondern "eine gesetzwidrige Versammlung durch Abnahme des Mediums ihrer manifestativen Meinungsäußerung gleichsam aufzulösen".
Die belangte Behörde beantragt, die Beschwerde kostenpflichtig abzuweisen.
3. Die Beschwerdeführer replizierten darauf, daß ihnen das Transparent ohne jede gesetzliche Grundlage entrissen worden sei.
II. 1. Der Verfassungsgerichtshof hat Beweis erhoben durch Parteieneinvernahme der Beschwerdeführer Dr. G H und A G, durch Einvernahme der Zeugen Mag. B M, K L, A S, C S, P H, J T, F N, M H,
G R, Dr. D S, Obstlt. G N, BezInsp. H P, RevInsp. W S, Hofrat Mag. W L und GrInsp. F H sowie durch Einsichtnahme in die Akten der BPD Wien, Zlen. Pst 28983/S/88, I-Pos 5675/VIII-StB/88, I-Pos 5675/I-StB/89 und GI-1a-1200c/485.
2. Aufgrund dieser Beweisaufnahmen wird als entscheidungswesentlicher Sachverhalt festgestellt:
Am 24. November 1988 fand in Wien am Albertinaplatz in der Zeit zwischen 19.00 Uhr und 20.00 Uhr ein von der Stadt Wien veranstalteter Festakt zur Enthüllung des Mahnmals gegen Krieg und Faschismus statt. Kurze Zeit vor Beginn des Festaktes hatten Organe der BPD Wien nächst der Oper eine Versammlung aufgelöst, die nicht angezeigt worden war und deren Teilnehmer offenbar beabsichtigt hatten, sich zum Albertinaplatz zu begeben.
Am Festakt nahmen einige tausend Personen teil.
Unter ihnen befanden sich auch die Beschwerdeführer, beide Mitglieder des Vereines "HOSI - Homosexuelle Initiative Wiens". Sie hatten sich mit anderen Vereinsmitgliedern dazu verabredet, im Rahmen dieses Festaktes ein etwa 4 m langes, rosafarbenes Transparent mit der Aufschrift "1000e Homosexuelle KZ-Opfer fordern Rehabilitierung" zur Schau zu stellen. Tatsächlich entrollten sie es kurz nach Beginn des Festaktes und stützten es gemeinsam mit anderen Personen durch Befestigungsstangen. Gleichzeitig hielt auch eine andere Gruppe ein Transparent in die Höhe, und zwar mit der Aufschrift "Der Führer ging, die Arisierer blieben". Hiebei handelte es sich augenscheinlich um die Teilnehmer der kurz zuvor bei der Oper aufgelösten Versammlung. Obgleich zwischen dieser Gruppe einerseits und den Beschwerdeführern und dem Verein "HOSI - Homosexuelle Initiative Wiens" andererseits objektiv keine Verbindung bestand, war es für die Polizeibeamten naheliegend, einen Zusammenhang zwischen den beiden Gruppen anzunehmen.
Noch während des Festaktes wurden die Beschwerdeführer zunächst von zwei SWB aufgefordert, das von ihnen gezeigte Transparent einzuholen. Nach einer Diskussion mit den Beamten stellten sie das Transparent weiterhin zur Schau, was bei den umstehenden Festaktteilnehmern Aufsehen erregte. Einige Zeit später (um etwa 19.30 Uhr) forderten andere SWB die Beschwerdeführer auf, das Transparent einzuholen. Als sie auch diesen Befehl mißachteten, nahmen ihnen die SWB das Transparent ab.
3. Diese Feststellungen gründen sich auf die in den wesentlichen Punkten übereinstimmenden Aussagen aller vernommenen Personen, die Näheres über die Ereignisse größtenteils aus eigener Wahrnehmung bekunden konnten.
Zur Frage, ob das Entrollen des Transparentes Aufsehen erregt hat, divergieren die Aussagen. Soweit einige Zeugen ein solches Aufsehen (eher) in Abrede stellen, sind ihre Angaben nicht glaubwürdig, zielte die Aktion doch ganz offenkundig darauf ab, Beachtung für das Anliegen der Homosexuellen-Gruppe zu finden.
III. Der Verfassungsgerichtshof beurteilt diesen Sachverhalt rechtlich wie folgt:
1. Das gewaltsame Abnehmen eines Transparentes durch SWB stellt eine als Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt zu qualifizierende Maßnahme dar, die nach Art144 Abs1 zweiter Satz B-VG beim Verfassungsgerichtshof bekämpfbar ist (vgl. zB VfSlg. 11101/1986).
Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde zulässig.
2.a) Die Beschwerdeführer machen ausschließlich geltend, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Meinungsfreiheit verletzt worden zu sein.
Dem Art13 Abs1 StGG zufolge hat jedermann "das Recht, durch Wort, Schrift, Druck oder durch bildliche Darstellung seine Meinung innerhalb der gesetzlichen Schranken frei zu äußern".
Auch Art10 MRK gewährleistet das Recht auf freie Meinungsäußerung:
"(1) Jedermann hat Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Freiheit der Meinung und die Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten oder Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden und ohne Rücksicht auf Landesgrenzen ein. ...
(2) Da die Ausübung dieser Freiheiten Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, kann sie bestimmten, vom Gesetz vorgesehenen Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer unentbehrlich sind, um die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu gewährleisten."
Geschützt ist jede Art von Meinungsäußerung, gleichgültig, mit welchem Mittel immer sie erfolgt; auch das Zeigen von Transparenten, auf die Parolen geschrieben sind, fällt daher unter den Schutzbereich des erwähnten Grundrechtes.
Bei den hier gegebenen Umständen griff mithin - anders als etwa im Fall VfSlg. 11101/1986, in dem es nur darum ging, ein ordnungsstörendes Verhalten zu beenden, nicht aber darum, eine bestimmte Meinungsäußerung zu hindern - das Wegnehmen des Transparentes in das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Meinungsfreiheit ein.
Das Recht der freien Meinungsäußerung ist bloß innerhalb der gesetzlichen Schranken gewährleistet. Die Freiheit der Meinungsäußerung darf nur aus den Gründen beschränkt werden, die im (auf Verfassungsstufe stehenden) Art10 Abs2 MRK angeführt sind. So ist eine Beschränkung dieser Freiheit u.a. im Interesse der öffentlichen Sicherheit und der Aufrechterhaltung der Ordnung zulässig. Schon aus der Einleitung, aber auch aus der Wendung "Schutzes ... der Rechte anderer" geht hervor, daß eine Beschränkung dieses Grundrechtes weiters dann gestattet ist, wenn die Meinungsfreiheit des einen Menschen mit den Freiheiten anderer Menschen kollidiert; so kann etwa das Recht auf ungehinderte Kundgabe der Meinung gegen das Recht auf ungestörte Durchführung einer Versammlung stehen (s. unten III.2.b)bb)).
Der einen Eingriff in das Recht auf Meinungsfreiheit bewirkende Verwaltungsakt wäre dann verfassungswidrig, wenn der Verwaltungsakt ohne jede Rechtsgrundlage ergangen wäre, auf einer dem Art10 MRK widersprechenden Rechtsgrundlage beruhte oder wenn die Behörde beim Setzen des Verwaltungsaktes eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hätte; ein solcher Fall läge auch vor, wenn die Behörde dem Gesetz fälschlich einen verfassungswidrigen - hier also: die besonderen Schranken des Art10 Abs2 MRK mißachtenden - Inhalt unterstellt hätte (s. zB VfSlg. 3290/1957, 10700/1985; vgl. auch die Judikatur zu Art8 MRK, zB VfSlg. 11638/1988).
b) Die Beschwerdeführer behaupten, das Abnehmen des Transparentes sei ohne jede Rechtsgrundlage erfolgt.
Diese Annahme ist unzutreffend:
aa) Der EGMR hat in seinem die "Plattform 'Ärzte für das Leben'" betreffenden Urteil vom 21. Juni 1988, Nr. 5/1987/128/179 (EuGRZ 1989, 522 ff.) - in dem es nicht um den Schutz einer Versammlung iS des Versammlungsgesetzes 1953, sondern einer Prozession zu einem Feldaltar, wo eine Messe abgehalten wurde, ging - zusammengefaßt folgendes dargetan: Art11 MRK (der u.a. das Recht aller Menschen gewährleistet, sich friedlich zu versammeln) umfasse grundsätzlich einen Anspruch auf staatlichen Schutz von Demonstrationen vor Gegendemonstrationen, um die wirksame Ausübung des Demonstrationsrechtes zu sichern; eine wirkliche und tatsächliche Freiheit zu friedlicher Versammlung beschränke sich nicht auf die einfache Pflicht der Nichteinmischung des Staates; eine rein negative Auffassung wäre mit dem Zweck und dem Ziel von Art11 leg.cit. nicht vereinbar. Es obliege den Vertragsstaaten, vernünftige und geeignete Maßnahmen zu treffen, um den friedlichen Verlauf von erlaubten Demonstrationen zu gewährleisten; was die Beurteilung der anzuwendenden Mittel anbelange, verfügten die Vertragsstaaten über einen weiten Ermessensspielraum; die eingesetzten Mittel müßten angemessen sein.
bb) Der Verfassungsgerichtshof steht auf dem Boden dieser Rechtsprechung des EGMR. Er sieht keine Veranlassung, für den innerstaatlichen Bereich einen anderen Inhalt des Art11 MRK anzunehmen.
Diese innerstaatlich im Verfassungsrang stehende Norm internationalen Ursprungs erfaßt nicht bloß Versammlungen, die in Österreich unter das Versammlungsgesetz 1953 fallen, sondern alle nach dem üblichen Sprachgebrauch als Versammlungen angesehenen Zusammenkünfte von Menschen (in diesem Sinne auch das oben zitierte Urteil des EGMR vom 21. Juni 1988), also jede organisierte einmalige Vereinigung mehrerer Menschen zu einem gemeinsamen Ziel an einem bestimmten Ort. Daraus folgt, daß auch Festakte unter Art11 MRK fallen. Wenn in der Folge von "Versammlungen" die Rede ist, ist dieser weite Versammlungsbegriff gemeint.
Das bedeutet, daß die staatlichen Organe nicht nur befugt, sondern auch verpflichtet sind, die zum Schutz erlaubter Versammlungen (im erwähnten weiten Sinn) erforderlichen Maßnahmen zu treffen, also deren Abhaltung zu garantieren (in diesem Sinne bereits VfSlg. 6850/1972, 7229/1973, 8532/1979, 8609/1979). Art11 MRK verpflichtet demnach den Staat jedenfalls dann, wenn es darum geht, die dort verankerten Freiheiten gegenüber verfassungsgesetzlich gewährleisteten Freiheiten anderer Personen zu bewahren, zu einem positiven Tun, also nicht bloß dazu, selbst Grundrechtseingriffe zu unterlassen; dies gebietet Art11 MRK, denn ohne staatlichen Schutz wäre das - gegen Störungen von dritter Seite besonders empfindliche - Recht auf Versammlungsfreiheit entweder faktisch überhaupt wirkungslos, oder aber die Versammlungsteilnehmer müßten ihr Recht durch Selbsthilfe durchsetzen (vgl. Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte, Wien 1963, 313 und 319; Novak, EuGRZ 1984, 133 ff., insb. 140 f.; Funk, ZfV 1987, 620 ff.; vgl. auch die bei Anderle, Österreichisches Versammlungsrecht, Eisenstadt 1988, zu RN 356 ff. und 369 zitierte Literatur und Judikatur). Die Annahme aber, die Bundesverfassung verhalte vom Grundsatz her den einzelnen zur Selbsthilfe, weil der Staat nicht einzuschreiten habe, ist mit der Friedens- und Ordnungsfunktion des Staates schlechterdings unvereinbar.
Aus Art11 MRK ergibt sich sohin die Pflicht des Staates, erlaubte Versammlungen zu schützen. Diese Verfassungsnorm wendet sich zunächst an den Gesetzgeber. Aus dem allgemeinen Rechtsstaatsgebot des Art18 B-VG und dem hier im besonderen interessierenden materiellen Gesetzesvorbehalt im Abs2 des die Meinungsäußerungsfreiheit verbürgenden Art10 MRK (wonach die diese Freiheit einschränkenden Maßnahmen "im Gesetz vorgesehen", d. h. im materiellen Recht niedergelegt sein müssen, sodaß die darauf fußenden behördlichen Entscheidungen zumindest in Umrissen vorhersehbar sind - vgl. EKMR 18.5.1977, EuGRZ 1977, 441; EGMR 28.3.1990, EuGRZ 1990, 255) folgt nämlich, daß der Gesetzgeber verhalten ist, die Vollzugsbehörden zu Maßnahmen zu ermächtigen, die der erwähnten Schutzpflicht dienen, und die Behörden wenigstens in den Grundzügen anzuleiten, welche Schritte sie zu setzen haben, um Versammlungen gegen Störungen zu schützen.
cc) Beim festgestellten Sachverhalt sind von vornherein die die Sprengung einer Versammlung und die die Verhinderung oder die bestimmte qualifizierte Formen der Störung einer Versammlung betreffenden Bestimmungen der §§284 und 285 StGB außer Betracht zu lassen.
Wegen der verfassungsrechtlichen Pflicht, Versammlungen behördlich zu schützen, ist aber ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 dahin zu verstehen, daß ein der Ausübung des Versammlungsrechtes zuwiderlaufendes Verhalten als Ordnungsstörung zu werten ist. Das Verbot der Ordnungsstörung gemäß dieser Gesetzesbestimmung ermächtigt (im Einklang mit dem Gesetzesvorbehalt des Art10 Abs2 MRK) die Behörde, Maßnahmen zur Abwehr von Störungen einer Versammlung zu treffen. Diese Vorschrift ist zwar nach ihrem Wortlaut eine Verwaltungsstrafnorm, bei verfassungskonformer Auslegung ergibt sich aber, daß sie die Sicherheitsbehörden berechtigt und verpflichtet, auch solchen ordnungsstörenden Verhaltensweisen, die sich im Rahmen einer Versammlung ereignen, mit den jeweils gelindesten noch zum Ziel führenden polizeilichen Maßnahmen entgegenzutreten.
ArtIX Abs1 Z1 EGVG 1950 ermächtigt sohin zu polizeilichem Einschreiten, das dem Schutz von Versammlungen dient. Dies allerdings nur innerhalb bestimmter Schranken, die zunächst darin zu finden sind, daß die Maßnahmen zur Erreichung des Zieles, den ungestörten Verlauf der Versammlung zu gewährleisten, geeignet und adäquat sein müssen und über dieses Ziel nicht hinausgehen dürfen. Die zur Wahrnehmung dieser Schutzpflicht von den Behörden zu ergreifenden polizeilichen Maßnahmen müssen ferner in praktischer Konkordanz mit jenen Grundrechten (etwa der Meinungsäußerungsfreiheit oder dem Eigentumsrecht) stehen, in die durch die Maßnahmen eingegriffen wird; die Maßnahmen müssen so beschaffen sein, daß sie den geringstmöglichen Eingriff in andere Grundrechte bewirken.
Eine Versammlung ist also mit jenen Mitteln zu schützen, die bei objektiver Betrachtung einen angemessenen Ausgleich zwischen den zu wahrenden, vielfach divergierenden Interessen bewirken. Solche Interessen sind in erster Linie jene des Veranstalters und der ihm nahestehenden Versammlungsteilnehmer, jene von Gruppen, die in oder mit der Versammlung andere als die vom Veranstalter angestrebten Ziele durchsetzen wollen und jene der Allgemeinheit, durch die Versammlung möglichst wenig tangiert zu werden; außerdem ist zu berücksichtigen, über welche Einsatzmöglichkeiten die Behörde jeweils verfügt und welche ihr zumutbar sind. Aus dem zu beachtenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergibt sich, daß es dabei einerseits auf die besondere Art der jeweils konkret zu schützenden Versammlung oder Veranstaltung, andererseits auf die Art der erwarteten oder bereits eingetretenen Störung ankommt; diese beiden Aspekte sind gegeneinander abzuwägen. So werden beispielsweise bei politischen Diskussionsveranstaltungen Meinungsäußerungen, die den Ansichten des Veranstalters zuwiderlaufen, sowohl nach Inhalt und Form völlig anders zu beurteilen sein als etwa bei einem Festakt oder bei einer Prozession als Erscheinung rein religiösen Charakters, die zusätzlich unter dem Schutz der Art14 und 15 StGG und Art9 MRK steht.
dd) Auf dieser Grundlage ist der vorliegende Beschwerdefall wie folgt zu beurteilen:
Der von der Stadt Wien veranstaltete Festakt war der Enthüllung eines Mahnmals gegen Krieg und Faschismus gewidmet. Schon allein dieses Themas wegen war davon auszugehen, daß es im Sinn des Veranstalters lag, den Festakt besonders würdig und störungsfrei ablaufen zu lassen. Dem Festakt wurde von der breiten Öffentlichkeit besondere Beachtung geschenkt. Der Veranstalter hatte einige Festreden, jedoch keine Diskussionen geplant. Während also der Festakt ausschließlich dem feierlichen, mahnenden Gedenken gewidmet war, ging es den Beschwerdeführern und ihren Sympathisanten - ohne daß sie dies mit dem Veranstalter des Festaktes abgesprochen hätten - darum, Forderungen zu erheben und ihre spezifischen Anliegen in den Vordergrund zu stellen. Was immer das subjektive Anliegen der Beschwerdeführer und ihrer Gruppe gewesen sein mag, objektiv vermittelten sie den Eindruck, einen Festakt in eine Demonstrationsveranstaltung umzufunktionieren, indem sie an die Öffentlichkeit den Appell richteten, ihre Anliegen zu unterstützen, ein Appell, der vom stillen Vorwurf begleitet war, der Veranstalter setze sich für diese Gruppe nicht (ausreichend) ein.
Die Polizeibeamten konnten vertretbarerweise annehmen, daß die Beschwerdeführer und ihre Gruppe den vom Veranstalter vorgegebenen Charakter des Festaktes ändern wollten und daß daher deren Verhalten unter den gegebenen Umständen bereits als Störung der besonders sensiblen Festveranstaltung zu werten sei; die Beamten konnten weiters denkmöglich annehmen, daß sich die übrigen Teilnehmer mit Unmutsäußerungen vorerst zurückhielten, um den Festakt nicht (noch mehr) zu stören. Diese Annahme war schon deshalb naheliegend, weil ein Zusammenhang mit den Teilnehmern an einer anderen Demonstration vermutet werden konnte, die kurz vor Beginn des Festaktes aufgrund der (vertretbaren) Prognose, diese Personen würden den Festakt stören, behördlich aufgelöst worden war.
Die einschreitenden Polizeiorgane konnten also bei dem sich ihnen an Ort und Stelle bietenden Erscheinungsbild vertretbar davon ausgehen, daß durch das Verhalten der Beschwerdeführer die der Behörde obliegende Schutzpflicht aktualisiert sei, dies unabhängig davon, ob die Aktion der Beschwerdeführer ihrerseits als Versammlung iS des Versammlungsgesetzes 1953 zu qualifizieren war oder nicht.
Die Abnahme des Transparentes war ein geeignetes Mittel, die - angenommene - Störung der Veranstaltung abzuwenden; diese Maßnahme war auch maßhaltend, weil sie das gelindeste Mittel war, die als störend angenommene Aktion der Beschwerdeführer zu beenden, zumal die Beschwerdeführer mehrmals - allerdings vergeblich - von SWB aufgefordert worden waren, das Transparent einzuziehen. Daran würde nichts ändern, wenn auch die Polizeiaktion bei einigen Teilnehmern gewissen Unmut erregt haben sollte.
c) Zusammenfassend ist festzuhalten, daß das Entfernen des Transparentes in Befolgung der sich aus Art11 MRK ergebenden behördlichen Pflicht, erlaubte Versammlungen vor Störungen zu schützen, und in denkmöglicher Handhabung des ArtIX Abs1 Z1 EGVG erfolgte und daß die Beschwerdeführer demnach nicht im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Meinungsfreiheit verletzt wurden.
Ob die Behörde rechtsrichtig vorgegangen ist, hat nicht der Verfassungsgerichtshof, sondern der Verwaltungsgerichtshof zu beurteilen.
3. Das Verfahren hat auch nicht ergeben, daß die Beschwerdeführer in einem sonstigen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht oder wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden wären.
Die Beschwerde war daher abzuweisen, jedoch antragsgemäß nach Art144 Abs3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten.
4. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung beschlossen werden.
5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG.
Dem (durch die Finanzprokuratur vertretenen) obsiegenden Bund waren (außer den Kosten für die Gegenschrift) die Kosten lediglich für eine Rechtshilfetagsatzung zuzusprechen, weil die weiteren beiden Rechtshilfetagsatzungen entbehrlich gewesen wären, wenn die belangte Behörde die Zeugen bereits in der Gegenschrift und nicht erst nach und nach bekanntgegeben hätte.
Schlagworte
Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Versammlungsrecht, Veranstaltungen, Schutzpflicht (bei Versammlungen), Polizeirecht, Polizeirecht - Wahl des gelindesten Mittels, Ordnungsstörung, Meinungsäußerungsfreiheit, Grundrechte (Grundrechtsverständnis), Interessenausgleich, Verhältnismäßigkeitsprinzip, Auslegung verfassungskonforme, VfGH / KostenEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1990:B20.1989Dokumentnummer
JFT_10098988_89B00020_00