Index
001 Verwaltungsrecht allgemein;Norm
B-VG Art11 Abs1 Z4;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Baumgartner und die Hofräte Dr. Stoll und Dr. Baumann als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Strohmaier, über die Beschwerde des J in S, vertreten durch Dr. K, Rechtsanwalt in H, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom 21. Oktober 1991, Zl. UVS-03/32/00485/91, betreffend Übertretung der Straßenverkehrsordnung 1960, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Die Bundeshauptstadt (Land) Wien hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 11.120,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen; das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid wurde der Beschwerdeführer schuldig erkannt, er habe am 28. Jänner 1991 um 7.45 Uhr die Straße in Wien 5, Reinprechtsdorferstraße 24, unmittelbar vor dem Eingang der Schule, durch Verteilen von Flugblättern ohne die erforderliche Bewilligung zu verkehrsfremden Zwecke benützt. Er habe hiedurch eine Verwaltungsübertretung nach § 82 Abs. 1 in Verbindung mit § 99 Abs. 3 lit. d StVO begangen. Es wurde eine Geldstrafe von S 1.000,-- (Ersatzfreiheitsstrafe 24 Stunden) verhängt.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, welcher mit Beschluß vom 9. Juni 1992, B 1402/91, die Behandlung der Beschwerde ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Gemäß § 82 Abs. 1 StVO ist für die Benützung von Straßen einschließlich des darüber befindlichen, für die Sicherheit des Straßenverkehrs in Betracht kommenden Luftraumes zu anderen Zwecken als zu solchen des Straßenverkehrs, z.B. zu gewerblichen Tätigkeiten und zur Werbung, unbeschadet sonstiger Rechtsvorschriften eine Bewilligung nach diesem Bundesgesetz erforderlich. Das gleiche gilt für Tätigkeiten, die geeignet sind, Menschenansammlungen auf der Straße herbeizuführen oder die Aufmerksamkeit der Lenker von Fahrzeugen zu beeinträchtigen.
Eine wörtlich-grammatikalische Interpretation dieser Bestimmung - wie sie die belangte Behörde offenbar vornehmen will - hätte zur Folge, daß (abgesehen von gesetzlichen Ausnahmeregelungen; vgl. § 82 Abs. 3 und 4 StVO) jedwede verkehrsfremde Tätigkeit auf der Straße bewilligungspflichtig wäre. Der Verwaltungsgerichtshof hat demgegenüber eine teleologische Reduktion für erforderlich gehalten. Bereits in seinem Erkenntnis vom 15. März 1965, Zl. 1210/64 (vgl. auch das Erkenntnis vom 23. Juni 1969, Zl. 1395/67) hat er die Auffassung vertreten, daß die grammatikalische Auslegung nicht zum Ziele führe. Vielmehr sei der Sinn des Gesetzes maßgebend. Gegenstand der StVO sei die Straßenpolizei. Nach herrschender Lehre verstehe man unter Straßenpolizei die Sorge für die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs auf Straßen und Wegen. Unter diesem Gesichtspunkt finde die Auslegung des § 82 Abs. 1 ihre Schranke dort, wo die "Sorge für die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs auf Straßen und Wegen" aufhöre.
Das Verteilen politischer Propagandaschriften - der Beschwerdeführer hatte Flugblätter mit den Golfkrieg 1991 betreffendem Inhalt verteilt - hat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 23. Juni 1969, Zl. 1395/67, nicht als gemäß § 82 Abs. 1 (erster Satz) StVO bewilligungspflichtig angesehen. Richtig ist zwar, daß gewerbliche Tätigkeiten und (Wirtschafts-)Werbung in dieser Gesetzesstelle lediglich als Beispiele verkehrsfremder Tätigkeiten angeführt sind, dennoch sieht sich der Verwaltungsgerichtshof im Beschwerdefall zu einer Änderung seiner Rechtsprechung nicht veranlaßt:
Die Auffassung der belangten Behörde, der Beschwerdeführer hätte jedenfalls zunächst um eine Bewilligung ansuchen müssen, die Behörde würde sodann untersuchen, ob die verkehrsfremde Tätigkeit eine Beeinträchtigung der Sicherheit, Leichtigkeit und Flüssigkeit des Verkehrs darstelle, sei keine wesentliche Beeinträchtigung zu erwarten, würde die Bewilligung erteilt, kann nämlich im Einzelfall Ergebnisse nach sich ziehen, die das bei verfassungskonformer Interpretation mitzuberücksichtigende Grundrecht der freien Meinungsäußerung ad absurdum führen. Wollte man nämlich Bewilligungspflicht bei jeder noch so geringfügigen abstrakten Gefährdung oder Beeinträchtigung annehmen, würde allein durch die Dauer des Bewilligungsverfahrens eine sofortige Reaktion auf aktuelle Ereignisse durch das Verteilen politischer Druckschriften verhindert. Bis zum Abschluß des Bewilligungsverfahrens könnte so viel Zeit vergehen, daß Tagesereignisse, zu denen eine Meinungsäußerung beabsichtigt wird, in der Öffentlichkeit längst in Vergessenheit geraten sind, womit die Meinungsäußerung ins Leere ginge.
Der Verwaltungsgerichtshof ist daher der Auffassung, daß in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem das Verteilen politischer Flugblätter durch eine einzelne Person auf einem drei bis vier Meter breiten Gehsteig die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs - anders als etwa beim Verteilen auf der Fahrbahn - von vornherein nur in einem ganz geringfügigen Maß beeinträchtigen kann, zu Gunsten des Rechtes auf freie Meinungsäußerung bereits die Bewilligungspflicht gemäß § 82 Abs. 1 erster Satz StVO zu verneinen ist.
Entsprechende Erwägungen sind auch bei der Auslegung des zweiten Satzes des § 82 Abs. 1 StVO anzustellen. Daß die Tätigkeit des Beschwerdeführers geeignet gewesen wäre, die Aufmerksamkeit der Lenker von Fahrzeugen zu beeinträchtigen, behauptet die belangte Behörde ohnehin nicht. Ob es im Beschwerdefall tatsächlich zu einer Menschenansammlung gekommen war, ist entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers unerheblich, da es hierauf für die Frage der Notwendigkeit einer vor Aufnahme der Tätigkeit einzuholenden Bewilligung nicht ankommt; wegen einer konkreten Behinderung des Fußgängerverkehrs auf einem Gehsteig (vgl. § 78 lit. c StVO) ist der Beschwerdeführer nicht bestraft worden. Was aber die (abstrakte) Eignung zur Herbeiführung von Menschenansammlungen, die der Leichtigkeit des Fußgängerverkehres auf dem Gehsteig abträglich sein könnten, anlangt, so hält der Verwaltungsgerichtshof die möglichen Nachteile für die Interessen des Straßenverkehrs, die sich etwa aus der Ansammlung von Schülern, die - anstatt kurz vor Schulbeginn ins Schulgebäude zu eilen - vor dem Schultor über die politischen Inhalte des Flugblattes zu diskutieren beginnen, ergeben könnten, für so geringfügig, daß bei Bedachtnahme auf das in Rede stehende Grundrecht im Beschwerdefall auch nach dieser Gesetzesstelle keine Bewilligungspflicht besteht. Wollte man demgegenüber Bewilligungspflicht für politische Flugblattwerbung schon bei jeglicher Eignung, eine Menschenansammlung herbeizuführen, annehmen, wäre eine Meinungsäußerung in dieser Form nur an solchen Orten und zu solchen Zeiten bewilligungsfrei, bei denen es weitgehend an Adressaten fehlt.
Der Vollständigkeit halber wird zur Behandlung einerseits politischer, andererseits wirtschaftlicher Werbung auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 27. Juni 1986, Slg. Nr. 10948, hingewiesen, wonach zwar auch wirtschaftliche Werbung (durch Anzeigen) den Schutz von Art. 10 Abs. 1 MRK genießt, allerdings schärferen Einschränkungen unterstellt werden kann als der Ausdruck politischer Ideen.
Schließlich ist noch zur im Zuge der Begründung der Strafbemessung im Zusammenhang mit dem Unrechtsgehalt der Tat erfolgten Bemerkung der belangten Behörde, daß die Verteilung von Druckwerken politischen Inhaltes an Schüler eine ganz besonders sensible Angelegenheit darstelle, auszuführen, daß es nicht Zweck der Straßenverkehrsordnung ist, Schüler (insbesondere im Nahebereich von Schulen) vor politischer Propaganda zu schützen.
Der angefochtene Bescheid erweist sich somit als inhaltlich rechtswidrig, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben war, ohne daß auf das übrige Beschwerdevorbringen eingegangen werden müßte.
Von der Durchführung einer Verhandlung wurde gemäß § 39 Abs. 2 Z. 6 VwGG abgesehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 104/1991. Das Kostenmehrbegehren war abzuweisen, weil der Verwaltungsgerichtshof für Schriftsatzaufwand im verfassungsgerichtlichen Verfahren keinen (zusätzlichen) Schriftsatzaufwand zusprechen kann und neben dem pauschalen Aufwandersatz die Umsatzsteuer nicht gesondert zu vergüten ist.
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1993:1992020204.X00Im RIS seit
11.07.2001