Index
10 VerfassungsrechtNorm
StGG Art8Leitsatz
Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf persönliche Freiheit durch Festnehmung der Beschwerdeführerin ohne richterlichen Befehl; Möglichkeit der Einholung eines fernmündlichen Haftbefehls im vorliegenden FallSpruch
Die Beschwerdeführerin ist dadurch, daß sie am 25. Juni 1990 um
13.15 Uhr in ihrer Wohnung in 1020 Wien durch Organe der Bundespolizeidirektion Wien festgenommen und in der Folge bis ca. 23.00 Uhr desselben Tages angehalten worden ist, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.
Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin die mit S 15.000,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1.1. Die Beschwerdeführerin begehrt in ihrer an den Verfassungsgerichtshof gerichteten, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde die kostenpflichtige Feststellung, sie sei am 25. Juni 1990 in ihrer Wohnung in 1020 Wien dadurch, daß sie durch Kriminalbeamte der Bundespolizeidirektion Wien festgenommen und bis ca. 23.15 Uhr angehalten wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit nach Art8 StGG verletzt worden.
1.1.2. Die - durch die Finanzprokuratur vertretene - Bundespolizeidirektion Wien als belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie beantragt, die Beschwerde kostenpflichtig abzuweisen, in eventu als unzulässig zurückzuweisen.
1.2. Aufgrund des Parteienvorbringens und der vorgelegten Verwaltungsakten nimmt der Verfassungsgerichtshof folgenden Sachverhalt als gegeben an:
Am 24. Juni 1990, also einen Tag vor der Verhaftung der Beschwerdeführerin, wurden in Wien zwei Personen wegen des Verdachtes des Suchtgifthandels festgenommen; im Zuge dieser Festnahme wurden auch 800 g Cannabisharz und ca. 2 g Kokain sichergestellt. Einer dieser Verhafteten war in der Folge geständig und gab an, das Cannabisharz von einem Unbekannten namens "Franz" erhalten zu haben. Er habe mit diesem seinem "Lieferanten" jeweils über eine bestimmte Wiener Telefonnummer Kontakt aufgenommen.
Als Fernsprechteilnehmerin der genannten Telefonnummer konnte in der Folge die Beschwerdeführerin eruiert werden. Auch wurde festgestellt, daß an derselben Adresse der geschiedene Ehemann der Beschwerdeführerin mit Vornamen Franz polizeilich gemeldet war. Daraus wurde von polizeilicher Seite der Schluß gezogen, es handle sich dabei um den schon genannten "Lieferanten" des Suchtgifts. Daraufhin wurde gegen den geschiedenen Ehemann der Beschwerdeführerin ein richterlicher Haftbefehl sowie ein richterlicher Hausdurchsuchungsbefehl für die Wohnung der Beschwerdeführerin beantragt und erteilt.
In Vollziehung dieses gerichtlichen Haft- und Hausdurchsuchungsbefehls begaben sich am 25. Juni 1990 gegen 13.00 Uhr Kriminalbeamte der Bundespolizeidirektion Wien zur Wohnung der Beschwerdeführerin, wo der Tatverdächtige (geschiedene Ehemann der Beschwerdeführerin) in Vollziehung des richterlichen Befehles sogleich verhaftet wurde.
Im Zuge der in gerichtlichem Auftrag vorgenommenen Hausdurchsuchung wurden zunächst in der Wohnung eine Platte Cannabisharz, zwei "Suchtgiftwaagen", Bargeld in Höhe von S 181.000,-- sowie Belgische Francs in Höhe von 5.200,--, sodann im Keller eine weitere Platte Cannabisharz vorgefunden und sichergestellt.
Die Kriminalbeamten befragten den verhafteten Tatverdächtigen und die Beschwerdeführerin getrennt. Diese gab zu, fallweise bzw. regelmäßig von ihrem Mann Haschisch erhalten und konsumiert zu haben, bestritt aber, über die Herkunft des Suchtgifts und des aufgefundenen größeren Geldbetrages etwas zu wissen.
Die Kriminalbeamten nahmen an, die beiden Befragten hätten "sich fortwährend in Widersprüche verwickelt" (so die Gegenschrift S. 4), weshalb der konkrete Verdacht der Beteiligung am Suchtgifthandel gegeben gewesen sei. Jedenfalls wurde die Beschwerdeführerin um 13.15 Uhr wegen angenommener Verabredungs- und Verdunkelungsgefahr gemäß §177 Abs1 Z2 iVm. §175 Abs1 Z3 StPO festgenommen.
Soweit sich die Gegenschrift darauf beruft, es sei eine Verhaftung gemäß §177 Abs1 Z2 iVm. §175 Abs1 Z1 und 3 StPO vorgenommen worden, kann dieser Auffassung schon deshalb nicht gefolgt werden, weil §177 Abs1 Z2 StPO überhaupt nur in den Fällen des §175 Abs1 Z2 bis 4 StPO zu Verhaftungen ermächtigt; auch finden sich im Akt keinerlei nähere Hinweise darauf, daß die Voraussetzungen nach §177 Abs1 Z1 iVm. §175 Abs1 Z1 StPO vorgelegen wären.
Zur Frage des Versuchs der Kriminalbeamten zur Einholung eines richterlichen Befehls zwecks Verhaftung der Beschwerdeführerin enthält die Gegenschrift keinerlei Aussage; aus dem einleitend wiedergegebenen Sachverhalt ergibt sich aber (vgl. auch den Bericht des Leitenden Kriminalbeamten des Suchtgiftreferates des Sicherheitsbüros der Bundespolizeidirektion Wien vom 31. August 1990, Z II-23.148/SB/90, erliegend im Verwaltungsakt im Anschluß an Blatt 48, aktenmäßig nicht paginiert, hier S. 4 des Berichtes), daß in der Wohnung der Beschwerdeführerin ein funktionierendes Telefon vorhanden war.
2. Der Verfassungsgerichtshof hat über die Beschwerde erwogen:
2.1. Zu den Prozeßvoraussetzungen:
Die belangte Behörde stellt zwar den Eventualantrag, die Beschwerde als unzulässig zurückzuweisen. Zutreffend wird aber in der Gegenschrift (S. 5 derselben) davon ausgegangen, daß die Beschwerde als zulässig anzusehen ist.
Gemäß Art144 Abs1 zweiter Satz B-VG idF der Novelle BGBl. 302/1975 (die Novelle BGBl. 685/1988 tritt hinsichtlich der hier maßgeblichen Z38 des ArtI laut ihrem ArtX Abs1 Z1 erst mit 1. Jänner 1991 in Kraft) erkennt nämlich der Verfassungsgerichtshof über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Novelle 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung einer Person zutrifft, die - wie hier - auf einen nötigenfalls mit sofortigem Polizeizwang durchzusetzenden verwaltungsbehördlichen Auftrag, also einen obrigkeitlichen Befehl mit unverzüglichem Befolgungsanspruch zurückgeht (vgl. VfSlg. 8145/1977, 9934/1984).
Demgemäß ist die Beschwerde, da ein Instanzenzug nicht in Betracht kommt und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, zulässig.
2.2. Zur Sache selbst:
2.2.1.1. Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, welches gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz im Sinne des Art44 Abs1 B-VG gilt, bestimmt in seinem §4, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen. Gesetzliche Bestimmungen im Sinne des §4 leg.cit. sind ua. die §§175 bis 177 StPO.
2.2.1.2. Der Verfassungsgerichtshof geht in rechtlicher Beurteilung des festgestellten Sachverhaltes aus dem Blickwinkel der geltend gemachten Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf persönliche Freiheit davon aus, daß die Beschwerdeführerin im Dienste der Strafjustiz ohne richterlichen Haftbefehl festgenommen und verwahrt wurde. Es ist daher zu prüfen, ob diese Freiheitsbeschränkung nach §177 (§10 Z1) StPO iVm.
§175 StPO zulässig war. Gemäß §177 Abs1 (§10 Z1) StPO darf die vorläufige Verwahrung einer Person, die eines Verbrechens oder eines - nicht den Bezirksgerichten zur Aburteilung zugewiesenen - Vergehens verdächtig ist, in dem hier allein in Betracht kommenden Fall des Haftgrundes nach §175 Abs1 Z3 StPO (vgl. §177 Abs1 Z2 StPO) zum Zwecke der Vorführung vor den Untersuchungsrichter ausnahmsweise auch durch Organe der Sicherheitsbehörden ohne schriftliche Anordnung vorgenommen werden, wenn die Einholung eines richterlichen Befehles wegen Gefahr im Verzuge nicht tunlich ist.
2.2.1.3.1. Für die Prüfung der Frage, ob Gefahr im Verzug besteht, gilt ein strenger Maßstab: Von der grundsätzlichen Regel, daß ein richterlicher (Haft-)Befehl einzuholen ist, darf nur in besonderen (Ausnahms-)Fällen, dh. wenn die besonderen Umstände eine Einholung nicht erlauben, abgegangen werden (vgl. VfSlg. 8680/1979, 9934/1984, 11.491/1987, 11.518/1987). Untunlich - wegen Gefahr im Verzug - ist die Einholung eines richterlichen Befehls zB im allgemeinen dann nicht, wenn mit dem Untersuchungsrichter des zuständigen Gerichts während der Dienst- und Journaldienststunden unverzüglich eine fernmündliche Verbindung hergestellt werden kann (VfSlg. 4450/1963, 4624/1963, 9934/1984, 11.518/1987).
2.2.1.3.2. Diese Möglichkeit war hier gegeben. In der Wohnung der Beschwerdeführerin stand nämlich ein funktionierendes Telefon zur Verfügung. Es steht fest, daß die einschreitenden Kriminalbeamten den Versuch hätten unternehmen können, an den an einem Werktag um 13.15 Uhr ohne weiteres erreichbaren Untersuchungsrichter des zuständigen Landesgerichtes für Strafsachen Wien telefonisch heranzutreten, um einen richterlichen Befehl einzuholen.
In dem schon erwähnten Bericht des Leitenden Kriminalbeamten des Suchtgiftreferates des Sicherheitsbüros der Bundespolizeidirektion Wien heißt es demgegenüber:
"Obwohl sich in der bezeichneten Wohnung ein Telefonanschluß befindet, konnte die telefonische Einholung eines richterlichen Haftbefehles hinsichtl. der Beschwerdeführerin bei Gefahr im Verzuge nicht erfolgen, zumal aus Erfahrung eine solche Einholung mit einem Zeitaufwand von bis zu 4 Stunden verbunden ist."
Damit wird aber nicht aufgezeigt, daß im konkreten Fall die Einholung eines richterlichen Haftbefehles unmöglich gewesen wäre. Vielmehr wird damit versucht, die entgegen der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes vorgenommene Verhaftung zu rechtfertigen. Der Verfassungsgerichtshof sieht aber keinerlei Anlaß, von dieser seiner Rechtsprechung abzugehen.
2.2.1.4. Die Verhaftung der Beschwerdeführerin und die daran anschließende Anhaltung gingen demnach nicht gesetzmäßig vonstatten; die Voraussetzungen des §4 des Gesetzes zum Schutze der persönlichen Freiheit, wonach die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt eine Person nur in den vom Gesetz bestimmten Fällen in Verwahrung nehmen dürften, treffen hier also nicht zu. Die Beschwerdeführerin wurde somit - Art8 StGG schützt vor rechtswidriger Verhaftung - in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt. Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.
3. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten sind S 2.500,-- an Umsatzsteuer enthalten.
4. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz und §19 Abs4 Z2 VerfGG ohne mündliche Verhandlung beschlossen werden.
Schlagworte
richterlicher Befehl, FestnehmungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1990:B991.1990Dokumentnummer
JFT_10098873_90B00991_00