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27 RechtspflegeNorm
MRK Art6 Abs1 / VerfahrensgarantienLeitsatz
Keine Parteilichkeit der Mitglieder des Disziplinarrates in einem Disziplinarverfahren; Verbot der Mitwirkung eines durch ein Disziplinarvergehen selbst geschädigten Mitgliedes des Disziplinarrates an diesem Disziplinarverfahren; keine Verletzung des Rechts auf ein faires VerfahrenSpruch
Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtenen Bescheide weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.
Die Beschwerde wird daher abgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1.1. Mit Bescheid der Obersten Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (im folgenden: OBDK) vom 19. Juni 1988, Z Bkd 61/88, wurde einem Delegierungsantrag des Disziplinarbeschuldigten Dr. N keine Folge gegeben.
Begründend wurde ausgeführt, daß laut Einleitungsbeschluß in dem zu D 126/88 protokollierten Disziplinarverfahren dem Disziplinarbeschuldigten zur Last gelegt werde, er habe Rechtsanwalt Dr. K E, der die Schwester des Disziplinarbeschuldigten vertrat, schriftlich einer rechtswidrigen Vorgangsweise, der Betrugsabsicht, der Irreführung, der Arglist und der Lüge rechtswidrigerweise bezichtigt und darüber hinaus dieses Schreiben nicht zur persönlichen Eröffnung übersandt.
Am 9. Juni 1987 habe der Beschuldigte den Antrag auf Delegierung der Disziplinarsache an den Disziplinarrat der Steiermärkischen Rechtsanwaltskammer gestellt, weil Dr. E dem Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer Wien angehöre und damit die von der MRK geforderte Unparteilichkeit aller Mitglieder des Disziplinarrates in Frage stehe. Dieser Delegierungsantrag sei jedoch nach Ansicht der OBDK nicht begründet. Wohl sei Dr. E von der Vollversammlung der Rechtsanwaltskammer Wien am 5. Juni 1986 zum Ersatzmitglied und am 2. Juni 1987 zum Mitglied des Disziplinarrates bestellt worden, womit feststehe, daß eine Befassung desselben im Disziplinarverfahren gegen den Beschuldigten schon ex lege ausgeschlossen sei. Der Untersuchungskommissär, Rechtsanwalt Dr. O A, der im Disziplinarverfahren als Untersuchungskommissär eingeschritten sei und gegen den der Beschuldigte ebenfalls Vorwürfe erhoben habe, gehöre dem Disziplinarrat nicht mehr an; abgesehen davon wäre dessen weitere Teilnahme im Disziplinarverfahren gemäß §28 Abs2 des Disziplinarstatuts (im folgenden: DSt) ausgeschlossen. Gegen weitere Mitglieder des Disziplinarrates sei vom Beschuldigten nichts vorgebracht worden. Dem Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer Wien gehörten ein Präsident, vier Präsidentenstellvertreter, 25 Mitglieder und sechs Ersatzmitglieder an. Der Disziplinarrat entscheide in Senaten, die aus einem Vorsitzenden und vier weiteren Mitgliedern bestünden. Eine Befangenheit des Disziplinarrates einer Rechtsanwaltskammer sei dann nicht gegeben, wenn ausreichende Möglichkeiten zur Bildung von Senaten in anderer Zusammensetzung bestünden. Eine Pauschalablehnung des Disziplinarrates sei im Disziplinarstatut nicht vorgesehen, vielmehr müßte das Vorliegen von Befangenheits- oder Ausschliessungsgründen hinsichtlich der einzelnen Mitglieder des Disziplinarrates bescheinigt werden. Es könne der Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer Wien nicht insgesamt als befangen erachtet werden. Dem Delegierungsantrag sei daher keine Folge zu geben.
1.2. Mit Bescheid vom 29. Mai 1989, Z Bkd 123/88, wurde einem weiteren Delegierungsantrag desselben Disziplinarbeschuldigten nicht Folge gegeben.
Begründend wurde darauf verwiesen, daß zu D 126/88 ein zusätzliches Disziplinarverfahren aufgrund einer weiteren Anzeige des Dr. K E gegen den Antragsteller beim Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer Wien anhängig sei. Auch in diesem Antrag werde begehrt, die Rechtssache wegen Befangenheit des Disziplinarrates der Rechtsanwaltskammer Wien dem Disziplinarrat der Steiermärkischen Rechtsanwaltskammer zuzuweisen, weil im Hinblick darauf, daß der Anzeiger dem Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer Wien angehöre, ein "über die übliche Durchschnittsbetrachtung hinausgehendes kollegiales Naheverhältnis gegeben sei". Die OBDK teile diese Befürchtungen nicht, weil es dem Antrag an jeglicher konkreter Bescheinigung für das Vorliegen begründeter Befangenheitstatbestände mangle. Durch bloße Vermutungen oder allgemein gehaltene, unbescheinigte Behauptungen würde den gesetzlichen Voraussetzungen eines Delegierungsantrages gemäß §27 DSt nicht entsprochen.
2.1. Gegen diese Bescheide richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der eine Verletzung der durch Art6 MRK gewährleisteten Rechte geltend gemacht und die Aufhebung der angefochtenen Bescheide beantragt wird.
2.2. Die belangte Behörde hat eine Gegenschrift erstattet, in der sie die Abweisung der Beschwerde begehrt.
2.3. Der Beschwerdeführer hat hierauf repliziert.
3. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
3.1. Die Verletzung des Art6 MRK durch die angefochtenen Bescheide wird damit begründet, daß der Ausschluß des Anzeigers als Mitglied des Disziplinarrates der Rechtsanwaltskammer Wien nicht die Annahme rechtfertige, daß die Unparteilichkeit der übrigen Mitglieder dieses Disziplinarrates gewährleistet sei. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sei für die Frage, ob die Unparteilichkeit eines Tribunals gewährleistet sei, schon der äußere Anschein maßgeblich. Zur möglichen Befangenheit der Mitglieder des Wiener Disziplinarrates sei darauf zu verweisen, daß Rechtsanwalt Dr. K auf die - auch an alle anderen Mitglieder des Disziplinarrates ergangene - Aufforderung, sich zur Frage seiner Befangenheit zu äußern, geantwortet habe, er könne sein Amt deshalb nicht mit der gebotenen Objektivität ausüben, weil er infolge des durch die gleiche amtliche Tätigkeit bestehenden Naheverhältnisses dem Anzeiger mehr Glauben schenken würde als dem Beschwerdeführer. Dies müsse auch für alle übrigen Mitglieder des Disziplinarrates gelten.
Zusätzlich sei der Beschwerdeführer in dem durch Art6 MRK gewährleisteten Recht, gehört zu werden, durch das Vorgehen der OBDK verletzt, weil die belangte Behörde Erhebungen durchgeführt und eine Stellungnahme der Generalprokuratur eingeholt habe, ohne ihm die Ergebnisse zur Kenntnis zu bringen, obwohl schon §37 AVG dies ausdrücklich anordne. Bei Gewährung des Parteiengehörs wäre es dem Beschwerdeführer möglich gewesen, unter Heranziehung der bereits zitierten Äußerung des Rechtsanwaltes Dr. K die objektive Befangenheit der übrigen Mitglieder des abgelehnten Disziplinarrates darzutun.
3.2. Die Beschwerde ist nicht begründet.
Selbst wenn Art6 MRK im gegenständlichen Verfahren überhaupt Anwendung fände, wäre der Beschwerdeführer in den aus dieser Bestimmung erfließenden Rechten nicht verletzt.
Auszugehen ist davon, daß ein Mitglied des Disziplinarrates, das durch ein Disziplinarvergehen selbst geschädigt wurde (und eine Anzeige erstattet hat), gemäß §28 Abs1 DSt von der Teilnahme an dem dieses Disziplinarvergehen betreffenden Disziplinarverfahren ausgeschlossen ist. Die Mitwirkung des Anzeigers wird vom Beschwerdeführer nicht behauptet und ist auch nicht den Akten zu entnehmen.
Der Verfassungsgerichtshof vermag der Auffassung des Beschwerdeführers nicht zu folgen, daß die Unparteilichkeit aller Mitglieder einer kollegialen Disziplinarbehörde deshalb in Frage stünde, weil ein Mitglied dieses Gremiums die dem Disziplinarverfahren zugrundeliegende Anzeige erstattet hat. Ebensowenig wäre der Umstand, daß ein anderes Mitglied dieses Kollegiums sich für befangen hält, weil es ein besonderes Vertrauensverhältnis zum Anzeiger bekundet habe (entgegen den Beschwerdeausführungen begründete Dr. K - wie sich aus den Verwaltungsakten ergibt - seine fehlende Objektivität damit, daß er den Anzeiger, "unabhängig von seiner Mitgliedschaft zum Disziplinarrat, als besonders korrekten Kollege schätze"), geeignet, die Stellung der anderen Mitglieder des Disziplinarsenates aus der Sicht des Art6 MRK zu berühren.
Der Verfassungsgerichtshof könnte unter den gegebenen Umständen auch nichts finden, was für die Annahme eines äußeren Anscheins der Parteilichkeit (iSd Art6 MRK) sämtlicher Mitglieder des Disziplinarrates der Rechtsanwaltskammer Wien spräche. Die Auseinandersetzung, die Anlaß der Anzeige war, beruht auf Umständen, die nur den Anzeiger und den Angezeigten unmittelbar betreffen; andere Mitglieder des Disziplinarrates sind in diese Auseinandersetzung - auch nach dem eigenen Vorbringen des Beschwerdeführers - in keiner Weise verfangen.
Unter diesen Umständen erübrigt es sich auch, der Frage nachzugehen, ob ein Disziplinarrat erster Instanz nach dem Disziplinarstatut überhaupt ein Tribunal im Sinne des Art6 MRK sein muß; es erübrigt sich weiters, die Relevanz der Abweisung eines Delegierungsbegehrens, das ein erst in der Zukunft liegendes Verfahren betrifft, aus der Sicht des Art6 MRK zu erörtern.
Eine Verletzung des Rechtes auf ein "fair trial" iSd Art6 MRK könnte schließlich schon deshalb nicht vorliegen, weil die Stellungnahme der Generalprokuratur (in der Beschwerde wird gerügt, daß dem Disziplinarbeschuldigten keine Gelegenheit gegeben wurde, sich dazu zu äußern) keine Ausführungen enthalten hat, die unter dem Aspekt der Waffengleichheit eine In-Kenntnis-Setzung des Beschwerdeführers erforderlich gemacht hätten. Festzuhalten ist weiters, daß der Generalprokuratur - wie sich aus den in den Akten erliegenden Verfügungen der OBDK ergibt - der Entscheidungsentwurf nicht zur Kenntnis gelangt ist.
Eine Verletzung der durch Art6 MRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte, wie sie der Beschwerdeführer behauptet, kommt aus den dargelegten Gründen somit nicht in Betracht.
Die Beschwerde war daher abzuweisen.
3.3. Dies konnte gemäß §19 Abs4 Z1 und 2 VerfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.
Schlagworte
Rechtsanwälte, Disziplinarrecht RechtsanwälteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1990:B1121.1989Dokumentnummer
JFT_10098785_89B01121_00