TE Vfgh Erkenntnis 1991/2/25 B936/90

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Veröffentlicht am 25.02.1991
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Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

StGG Art8
VStG §35 lita
VStG §36 Abs1
KFG 1967 §102 Abs5 lita und litb
KFG 1967 §134

Leitsatz

Keine Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit durch Festnahme und Anhaltung; vertretbare Annahme von Verwaltungsübertretungen wegen Nichtaushändigung des Führerscheins und des Zulassungsscheins durch den Lenker eines Kraftfahrzeuges

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch seine am 7. Juni 1990 in Wien von einem Organ der dortigen Bundespolizeidirektion verfügte Festnahme und anschließende Anhaltung in Haft weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

II. Der Antrag, die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten, wird gleichfalls abgewiesen.

III. Der Beschwerdeführer ist schuldig, dem Bund zu Handen der Finanzprokuratur die mit 12.500 S bestimmten Verfahrenskosten binnen vierzehn Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. Mag. W M begehrte in seiner auf Art144 Abs1 B-VG gestützten Beschwerde - beim Verfassungsgerichtshof eingebracht am 19. Juli 1990 - der Sache nach die kostenpflichtige Feststellung, er sei am 7. Juni 1990, 17 Uhr 30, in Wien dadurch, daß ihn Sicherheitswacheorgane festnahmen und (bis 18 Uhr 30 desselben Tages) in Gewahrsam hielten, demnach durch Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit (Art8 StGG iVm Art5 EMRK) verletzt worden. Zugleich stellte er den Eventualantrag auf Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof.

1.1.2. Die durch die Finanzprokuratur vertretene Bundespolizeidirektion Wien als belangte Behörde legte die Administrativakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie für die Abweisung, hilfsweise für die Zurückweisung der Beschwerde eintrat.

1.2. Aus den Verwaltungsakten geht hervor, daß der Sicherheitswachebeamte A W am 7. Juni 1990 um 17 Uhr 30 vor dem Haus Wien III., ..., den Beschwerdeführer, der (jedenfalls bei Beginn der Amtshandlung) im dort stehenden PKW mit der Kennzeichennummer B... saß (Lenkersitz), wegen des Verdachtes der Verwaltungsübertretungen nach §102 Abs5 lita und b iVm §134 KFG gemäß §35 lita (nunmehr: Z1 (BGBl. 52/1991)) VStG vorläufig festnahm und etwa eine Stunde lang in Haft anhielt.

2. Über die Beschwerde wurde erwogen:

2.1. Vorausgeschickt wird, daß dieses beim Verfassungsgerichtshof im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bundesverfassungsgesetzes vom 29. November 1988 über den Schutz der persönlichen Freiheit, BGBl. 684/1988, d.i. der 1. Jänner 1991 (Art8 Abs1 leg.cit.), bereits anhängig gewesene Verfahren (über eine Beschwerde gegen eine polizeiliche Festnahme) kraft der Übergangsbestimmung des Art8 Abs4 des zitierten Verfassungsgesetzes sowie gemäß ArtIX Abs2 des Bundesverfassungsgesetzes vom 29. November 1988 (Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle 1988), BGBl. 685/1988, nach der bisherigen Rechtslage zu Ende zu führen ist.

2.2.1.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF vor der Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle 1988 erkennt der Verfassungsgerichtshof über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Novelle 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) bekämpfbar waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung einer Person zutrifft (VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977 ua.).

2.2.1.2. Demgemäß ist festzuhalten, daß die Beschwerde Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt iS des Art144 Abs1 B-VG idF vor der Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle 1988 bekämpft.

2.2.1.3. Da ein administrativer Instanzenzug nicht besteht und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde zulässig.

2.2.2.1. Der hier noch anzuwendende Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 EMRK (s. VfSlg. 7608/1975, 8815/1980) - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958 ua.):

Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, legt in seinem §4 fest, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt eine Person "in den vom Gesetze bestimmten Fällen" in Verwahrung nehmen dürfen.

§35 VStG (wiederverlautbart mit BGBl. 52/1991) ist ein solches Gesetz (VfSlg. 7252/1974), doch setzt die Festnehmung durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes in allen in dieser Gesetzesvorschrift angeführten Anwendungsfällen (lita bis c = Z1 bis 3) voraus, daß die festzunehmende Person "auf frischer Tat betreten" wird. Sie muß also eine als Verwaltungsübertretung strafbare Tat verüben und bei Begehung des Delikts betreten werden; die erste dieser beiden Bedingungen ist schon dann erfüllt, wenn das Behördenorgan die Verübung einer Verwaltungsübertretung mit gutem Grund (= vertretbarerweise) annehmen konnte (s. zB VfSlg. 4143/1962, 7309/1974; VfGH 26.9.1988 B1010,1011/86).

Die Vorschrift des §35 lita (nunmehr: Z1 (BGBl. 52/1991)) VStG läßt eine Festnehmung unter den schon umschriebenen Voraussetzungen zum Zweck der Vorführung vor die Behörde aber nur dann zu, wenn der Betretene "dem anhaltenden Organ unbekannt ist, sich nicht ausweist und seine Identität auch sonst nicht sofort feststellbar ist".

2.2.2.2. Auf dem Boden dieser Rechtslage ist zunächst zu prüfen, ob das einschreitende Sicherheitsorgan A W mit gutem Grund - und damit vertretbar - zur Auffassung gelangen durfte, daß der Beschwerdeführer sich die Verwaltungsübertretungen nach §102 Abs5 lita und b iVm §134 KFG zuschulden kommen ließ (s. Abschnitt 1.2.):

Dieser Delikte macht sich schuldig, wer den Vorschriften des §102 Abs5 lita und b KFG zuwiderhandelt (§134 KFG), die wie folgt lauten:

    "Der Lenker hat auf Fahrten mitzuführen und den Organen des

öffentlichen Sicherheitsdienstes . . . auf Verlangen zur

Überprüfung auszuhändigen

    a) den Führerschein . . . ,

    b) den Zulassungsschein . . . für das von ihm gelenkte

Kraftfahrzeug . . . ".

2.2.2.3. In tatsächlicher Hinsicht gelangte nun der Verfassungsgerichtshof auf Grund des Inhaltes der Verwaltungsakten, vor allem der den Umständen nach unbedenklichen polizeilichen Anzeige und Anhaltemeldung, zur Feststellung, daß A W den Beschwerdeführer an Ort und Stelle in einem PKW sitzend antraf;

Mag. M schien benommen und antwortete erst nach längerem Befragen:

Er sei (als Fahrzeuglenker während der Fahrt) von einem PKW-Fahrer in einen Verkehrsunfall verwickelt und anschließend mißhandelt worden. Führerschein und Zulassungsschein händigte er dem Beamten - der (laut Beschwerdeschrift) die Herausgabe der "Fahrzeugpapiere" verlangt hatte - schon deshalb nicht aus, weil er, wie er damals sagte, diese Dokumente daheim vergessen habe und in Ruhe gelassen werden und keine Fragen beantworten wolle.

Angesichts dieser Sach- und Beweislage konnte A W mit gutem Grund der (subjektiven) Meinung sein, daß der Beschwerdeführer die Verwaltungsübertretungen nach §102 Abs5 lita und b iVm §134 KFG - zumindest in der 2. Begehungsform (: Nichtaushändigung der Dokumente) - verübt habe. Der Beschwerdeauffassung zuwider handelte es sich dabei um einen Fall der "Betretung auf frischer Tat", wie ihn §35 VStG verlangt. Denn der Beschwerdeführer war unter den obwaltenden Umständen als (zur Vorzeigung der relevanten Urkunden verpflichteter) Lenker iSd §102 KFG anzusehen (zumal er bei Beginn der Amtshandlung noch den Lenkersitz des PKW einnahm, also augenscheinlich ein enger zeitlicher und räumlicher Zusammenhang mit dem vorangegangenen Lenken seines Fahrzeuges bestand - vgl. VfSlg. 8044/1977) und hatte dem Wacheorgan weder Führer- noch Zulassungschein zur Überprüfung vorgewiesen.

Die in der Beschwerdeschrift beantragte Zeugeneinvernahme darüber, daß der Beschwerdeführer den Führerschein und den Zulassungsschein zur kritischen Zeit ohnedies mit sich getragen habe, konnte wegen rechtlicher Unerheblichkeit des Beweisthemas unterbleiben, und zwar angesichts der dem Sicherheitswachebeamten jedenfalls verweigerten Aushändigung der Dokumente.

2.2.2.4. War jedoch die (Tat-)Beurteilung als Verwaltungsdelikt vertretbar und lag - wie eben dargetan - infolge Ergreifung auf frischer Tat und Nichtausweisleistung (unter den näheren Voraussetzungen des §35 VStG) der geltend gemachte Festnehmungsgrund vor - der Verdächtige war dem Polizeibeamten unbekannt, seine Identität auch sonst nicht sofort feststellbar -, entsprach die angefochtene Amtshandlung (Festnehmung) dem Gesetz.

2.2.2.5. Unter den gegebenen Verhältnissen fehlt auch jedweder Anhaltspunkt dafür, daß die verwaltungsbehördliche Haft des Beschwerdeführers gesetzwidrig hinausgezögert (verlängert) worden sei. Nach §36 Abs1 Satz 1 VStG idF der VStG-Novelle 1987, BGBl. 516/1987, ist jeder Festgenommene "unverzüglich der nächsten sachlich zuständigen Behörde zu übergeben, oder aber, wenn der Grund der Festnehmung schon vorher wegfällt, freizulassen . . . "

Diesem Gebot wurde Genüge getan, weil der Wachebeamte den Beschwerdeführer nach der mit der gebotenen Beschleunigung vor sich gehenden Ermittlung und Feststellung der Identität - es wurde eine Auskunftsperson zur Identifizierung telefonisch herbeigerufen - ungesäumt freiließ.

2.2.3. Demgemäß wurde der Beschwerdeführer - durch seine polizeiliche Festnahme und Anhaltung - im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

2.2.4. Aus diesen Erwägungen war die Beschwerde - da die Verletzung anderer verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte weder ausdrücklich behauptet wurde noch im Verfahren hervorkam und verfassungsrechtliche Bedenken ob der Verfassungs- oder Gesetzmäßigkeit der dem bekämpften Verwaltungsakt zugrundeliegenden Rechtsvorschriften nicht enstanden - als unbegründet abzuweisen.

2.3. Der Antrag auf Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof war aus folgenden Erwägungen abzuweisen (s. Punkt II. des Spruches):

Der Verfassungsgerichtshof hat die Gesetzmäßigkeit der Verhaftung und Haftanhaltung schlechthin zu untersuchen und sich nicht etwa auf die Frage der Gesetzlosigkeit oder denkunmöglichen Gesetzeshandhabung zu beschränken, sodaß für eine Prüfung unter dem Gesichtspunkt der Verletzung sonstiger - einfachgesetzlich garantierter - Rechte kein Raum bleibt. Daraus ergibt sich aber, daß der Verfassungsgerichtshof zur Entscheidung ausschließlich zuständig ist, eine Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof also nicht in Betracht kommt (vgl. zB VfSlg. 8960/1980, 9921/1984, 10.974/1986).

2.4. Der Kostenausspruch stützt sich auf §88 VerfGG 1953 (s. VfGH 26.2.1990 B973/89, 26.11.1990 B558,559,560/90).

2.5. Diese Entscheidungen konnte der Verfassungsgerichtshof gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in einer der Norm des §7 Abs2 litc VerfGG 1953 idF vor der Nov. BGBl. 329/1990 genügenden Zusammensetzung treffen.

Schlagworte

Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Festnehmung, Kraftfahrrecht, Kraftfahrzeuglenker

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1991:B936.1990

Dokumentnummer

JFT_10089775_90B00936_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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