TE Vfgh Erkenntnis 1991/3/5 G114/90, V196/90

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Veröffentlicht am 05.03.1991
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Index

62 Arbeitsmarktverwaltung
62/01 Arbeitsmarktverwaltung

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art7 Abs1 / Verordnung
NotstandshilfeV §2 Abs1 u Abs2 (id Stammfassung)
AlVG §36 Abs2 (id Stammfassung)

Leitsatz

Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Berücksichtigung des Einkommens der Stiefeltern bei Beurteilung der Notlage eines Arbeitslosen in §36 Abs2 AlVG wegen Widerspruchs zum Gleichheitssatz; Feststellung der Gesetzwidrigkeit der ausführenden Bestimmungen der NotstandshilfeV

Spruch

I. In §36 Abs2 des Arbeitslosenversicherungsgesetzes 1977, BGBl. Nr. 609, war der Ausdruck "Stiefeltern," verfassungswidrig.

Der Bundeskanzler ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

II. In §2 Abs1 der Verordnung des Bundesministers für Soziale Verwaltung vom 10. Juni 1973 betreffend Richtlinien für die Gewährung der Notstandshilfe (Notstandshilfeverordnung), BGBl. Nr. 352, war der Ausdruck "Stiefeltern," in §2 Abs2 dieser Verordnung der Ausdruck ",Stiefeltern" im Klammerausdruck gesetzwidrig.

Der Bundesminister für Arbeit und Soziales ist zur unverzüglichen Kundmachung dieses Ausspruches im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. Der Verwaltungsgerichtshof beantragt die Feststellung, daß der Ausdruck "Stiefeltern," in §36 Abs2 des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AlVG) und in §2 Abs1 der Notstandshilfeverordnung (NHV) sowie der Ausdruck ",Stiefeltern" in §2 Abs2 NHV verfassungswidrig waren. Er hat über die Beschwerde gegen einen Bescheid des Landesarbeitsamtes Wien vom 15. November 1988 zu entscheiden, der der Berufung gegen die Versagung von Notstandshilfe unter Hinweis auf das Einkommen des mit der Beschwerdeführerin des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens im gemeinsamen Haushalt lebenden Stiefvaters lediglich teilweise Folge gibt. Der antragstellende Gerichtshof erachtet bei Beurteilung dieser Beschwerde unter anderem §36 Abs2 Satz 2 AlVG sowie §2 Abs1 und 2 NHV anwenden zu müssen. Die gesetzliche Vorschrift lautet (in der maßgeblichen Stammfassung; angefochtener Teil hervorgehoben):

"Bei Beurteilung der Notlage sind die gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse des Arbeitslosen selbst sowie der Angehörigen des Arbeitslosen zu berücksichtigen, die zur gesetzlichen Unterhaltsleistung verpflichtet sind, wobei Lebensgefährten, Wahleltern, Stiefeltern, Wahlkinder und Stiefkinder den unterhaltspflichtigen Angehörigen gleichgehalten werden; im allgemeinen ist nur das Einkommen der im gemeinsamen Haushalt mit dem Arbeitslosen lebenden Angehörigen heranzuziehen."

In der Verordnung finden sich die angefochtenen Ausdrücke in folgendem Zusammenhang:

"§2 (1) Notlage liegt vor, wenn das Einkommen des Arbeitslosen und das seiner Angehörigen, die zur gesetzlichen Unterhaltsleistung verpflichtet sind, zur Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse des Arbeitslosen nicht ausreicht; den unterhaltspflichtigen Angehörigen sind Lebensgefährten, Wahleltern, Stiefeltern, Wahlkinder und Stiefkinder gleichzuhalten. Unterhaltspflichtige Angehörige und diesen gleichgehaltene Personen werden im folgenden als Angehörige bezeichnet.

(2) Bei der Beurteilung der Notlage sind die gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse des Arbeitslosen selbst sowie der Angehörigen zu berücksichtigen. Im allgemeinen ist nur das Einkommen der im gemeinsamen Haushalt mit dem Arbeitslosen lebenden Angehörigen heranzuziehen. Von dieser Regel ist dann abzugehen, wenn der Arbeitslose die Hausgemeinschaft mit Eltern (Wahleltern, Stiefeltern) oder Ehegatten nur deshalb aufgegeben hat oder ihr ferngeblieben ist, um der Anrechnung des Einkommens dieser Personen zu entgehen, weiters dann, wenn das Einkommen unterhaltspflichtiger Angehöriger ein überdurchschnittliches ist."

In eventu beantragt der Verwaltungsgerichtshof die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des §36 Abs3 litB sublita AlVG (Stammfassung) und des §6 Abs1 NHV sowie die Aufhebung der Abs2 bis 7 des §6 (unterschiedlicher Fassungen). Diese Vorschriften beschäftigen sich mit dem Ausmaß der Einrechnung von Einkünften der in den primär angefochtenen Bestimmungen genannten Angehörigen.

Gegen die angefochtenen Bestimmungen trägt der Verwaltungsgerichtshof folgende Bedenken unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes vor:

"3.4.1. Die Zulässigkeit der Zurechnung von Einkünften Dritter zu Lasten von Arbeitslosen, die einen Antrag auf Notstandshilfe gestellt haben, setzt nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes einen sachlichen Grund voraus; dieser kann entweder darin liegen, daß diese Person dem Arbeitslosen die Mittel zur (teilweisen oder gänzlichen) Befriedigung der notwendigen Bedürfnisse tatsächlich zur Verfügung stellt oder dazu verpflichtet ist. Notstandshilfe und Sondernotstandshilfe sollen ja gerade in jenen Ausnahmsfällen gewährt werden, in denen die wirtschaftlichen Verhältnisse des Arbeitslosen und seiner unterhaltspflichtigen Angehörigen im konkreten Fall nicht ausreichen, dem Arbeitslosen die Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse zu ermöglichen (vgl. das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 11. Oktober 1989, V208/88 u.a.).

Nun legt §36 Abs2 Satz 2 AlVG zwar grundsätzlich fest, daß bei Beurteilung der Notlage auch die wirtschaftlichen Verhältnisse der Angehörigen des Arbeitslosen zu berücksichtigen sind, die zur gesetzlichen Unterhaltsleistung verpflichtet sind; Lebensgefährten, Wahleltern, Stiefeltern, Wahlkinder und Stiefkinder werden den unterhaltspflichtigen Angehörigen aber 'gleichgehalten', wobei dies bei Wahlkindern und -eltern zufolge §182 Abs1 ABGB iVm §182 a Abs3 ABGB wegen des Vorliegens einer gesetzlichen (unabdingbaren) Unterhaltspflicht (vgl. Koziol - Welser, Grundriß II8, 259 f; SZ 55/193) überflüssig ist. Bei Lebensgefährten, die definitionsgemäß (zumindest) in einer Wirtschaftsgemeinschaft leben (vgl. OGH vom 14. Februar 1968, 2 Ob 345/67, EFSlg. V/3; ferner EFSlg. 38825, 43743 u.a.) mag aufgrund dieser anzunehmenden Wirtschaftsgemeinschaft eine Gleichstellung mit Eheleuten verfassungsrechtlich unbedenklich sein (so VfSlg. 3334).

Für die Einbeziehung des Stiefvaters, der weder definitionsgemäß mit seinem Stiefkind in Wirtschaftsgemeinschaft lebt, noch gegenüber dem Stiefkind unterhaltsberechtigt oder unterhaltsverpflichtet ist, in diesen Personenkreis vermag der Verwaltungsgerichtshof jedoch keinen sachlichen Grund zu erkennen. Der Verwaltungsgerichtshof sieht sich auch nicht in der Lage, einen Erfahrungssatz etwa des Inhaltes anzunehmen, daß Stiefelternteile an im gemeinsamen Haushalt lebende großjährige und selbsterhaltungsfähig gewordene Stiefkinder (um ein solches handelt es sich im Beschwerdefall) typischerweise tatsächlich Unterhaltsleistungen erbringen, ohne dazu gesetzlich verpflichtet zu sein.

Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 15. März 1988, G158/87, G229/87 und V141/87, (ebenso wie im Erkenntnis vom 2. März 1989, G219/88) im Zusammenhang mit Bestimmungen des Kärntner bzw. Tiroler Sozialhilfegesetzes u.a. ausgeführt, daß nicht einzusehen sei, weshalb Angehörige in jedem Fall mit ihren Einkünften unbeschränkt zum Lebensunterhalt der anderen Mitglieder der Haushaltsgemeinschaft beitragen sollen, und zwar selbst dann, wenn sie ihnen gegenüber gar nicht unterhaltspflichtig sind. Diese Bedenken des Verfassungsgerichtshofes, die in den genannten Fällen zur Aufhebung von eine derartige Anrechnung zulassenden Gesetzesbestimmungen geführt haben, treffen nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes auch für die Anrechnung von Einkünften eines Stiefvaters bei Beurteilung der Notlage seiner großjährigen und bereits selbsterhaltungsfähig gewordenen Stieftochter zu."

In der Folge führt der Verwaltungsgerichtshof auch die Bedenken gegen die eventualiter angefochtenen Bestimmungen näher aus.

Die Bundesregierung erklärt in ihrer Äußerung, zu den Bedenken gegen den Ausdruck Stiefeltern in §36 Abs2 AlVG im Hinblick auf die Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofs VfSlg. 11662/1988 und G219/88 vom 2. März 1989 keine meritorische Stellungnahme abzugeben. Den Bedenken gegen die eventualiter angefochtenen Bestimmungen tritt sie mit näheren Ausführungen entgegen.

Der Bundesminister für Arbeit und Soziales verweist in seiner Äußerung zu §2 NHV auf die gesetzliche Grundlage dieser Verordnungsbestimmung und die Äußerung der Bundesregierung hinzu, verteidigt aber die Gesetzmäßigkeit der eventualiter angefochtenen Verordnungsbestimmungen.

II. Die Normenprüfungsverfahren sind zulässig.

Es hat sich nichts ergeben, was daran zweifeln ließe, daß der Verwaltungsgerichtshof die angefochtenen Normen bei Beurteilung der bei ihm anhängigen Beschwerde anzuwenden hätte. Auch die sonstigen Prozeßvoraussetzungen sind gegeben.

III. Die Bedenken des Verwaltungsgerichtshofes sind begründet. Die Berücksichtigung des Einkommens der Stiefeltern bei Beurteilung der Notlage eines Arbeitslosen widerspricht dem Gleichheitssatz.

Die angefochtene Gesetzesbestimmung macht die Gewährung der Notstandshilfe von den wirtschaftlichen Verhältnissen der Stiefeltern des Arbeitslosen abhängig; die angefochtenen Verordnungsbestimmungen führen diese Gesetzesbestimmung aus.

Der Verfassungsgerichtshof hat bereits im Erkenntnis VfSlg. 11662/1988 bei Beurteilung einer Vorschrift des Kärntner Sozialhilfegesetzes, wonach bei Bemessung der Unterstützung des Hilfsbedürftigen die Einkünfte der im Haushalt wohnenden unterhaltsberechtigten Angehörigen zur Gänze in das Haushaltseinkommen einzubeziehen waren, ausgesprochen, es sei nicht einzusehen, weshalb die dem Hauptunterstützten gegenüber unterhaltsberechtigten Angehörigen in jedem Fall mit ihren Einkünften unbeschränkt zum Lebensunterhalt der anderen Mitglieder der Hausgemeinschaft beitragen sollen, und zwar auch dann, wenn sie ihnen gegenüber gar nicht unterhaltspflichtig sind. Dieses Urteil hat der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis G219/88 vom 2. März 1989 für eine ähnliche Regelung im Tiroler Sozialhilfegesetz bekräftigt.

Es ist dem Verwaltungsgerichtshof beizupflichten, daß sich aus dieser Überlegung auch die angefochtene Gesetzesbestimmung als verfassungswidrig und die sie ausführenden Verordnungsbestimmungen als gesetzwidrig erweisen. Es ist sachlich nicht gerechtfertigt, einem Arbeitslosen das Einkommen von Stiefeltern anzurechnen, die ihm gegenüber nicht unterhaltspflichtig sind und daher jeden Beitrag zu seinem Unterhalt verweigern können. Der Gesetzgeber kann auch nicht davon ausgehen, daß Stiefeltern ohne Rücksicht auf eine allfällige Haushaltsgemeinschaft auch nur faktisch zum Unterhalt großjähriger Stiefkinder beitragen.

Dem Antrag des Verwaltungsgerichtshofs ist daher Folge zu geben. Damit erübrigt sich eine Befassung mit seinen Eventualbegehren.

§36 Abs2 AlVG ist durch die Novelle BGBl. 364/1989 mit Wirkung vom 1. August 1989, §2 Abs1 und 2 NHV durch die Novelle BGBl. 388/1989 mit Wirkung vom selben Tag neu gefaßt worden. Der Verfassungsgerichtshof hat sich daher mit der Feststellung der Verfassungs- bzw. Gesetzwidrigkeit zu begnügen.

Die Aussprüche über die Kundmachung stützen sich auf Art140 Abs5 und 139 Abs5 B-VG. Da von einer mündlichen Erörterung eine weitere Klärung der Rechtsache nicht zu erwarten war, hat der Gerichtshof von einer mündlichen Verhandlung abgesehen.

Schlagworte

Arbeitslosenversicherung, Notstandshilfe

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1991:G114.1990

Dokumentnummer

JFT_10089695_90G00114_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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