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001 Verwaltungsrecht allgemein;Norm
FrG 1993 §18 Abs1 Z1;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. W. Pesendorfer und die Hofräte Dr. Zeizinger, Dr. Sauberer, Dr. Graf und Dr. Sulyok als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Wildmann, über die Beschwerde der D in S, vertreten durch Dr. A, Rechtsanwalt in L, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Tirol vom 3. Mai 1993, Zl. III 54-4/93, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 11.600,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
I.
1. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Tirol (der belangten Behörde) vom 3. Mai 1993 wurde gegen die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige der früheren Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien, gemäß § 18 Abs. 1 Z. 1, Abs. 2 Z. 7 sowie §§ 19, 20 und 21 des Fremdengesetzes-FrG, BGBl. Nr. 838/1992, ein mit zehn Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen.
In sachverhaltsmäßiger Hinsicht ging die belangte Behörde davon aus, daß die Beschwerdeführerin bisher sechsmal wegen Verwaltungsübertretungen (Verletzung des öffentlichen Anstandes; Störung der öffentlichen Ordnung; ungebührliche Erregung störenden Lärms; Nichterfüllung der Pflicht, für den regelmäßigen Schulbesuch durch ihre Tochter zu sorgen) rechtskräftig bestraft worden sei. Diese "rechtskräftigen Bestrafungen bzw. die zugrunde liegenden Sachverhalte" seien "bestimmte Tatsachen", welche die Annahme rechtfertigen, daß der Aufenthalt der Beschwerdeführerin im Bundesgebiet die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit gefährde (§ 18 Abs. 1 Z. 1 FrG). Eine weitere "bestimmte Tatsache" i.S. des § 18 Abs. 1 Z. 1 leg. cit. sei darin zu erblicken, daß die Beschwerdeführerin den Besitz der Mittel zu ihrem Unterhalt nicht nachzuweisen vermöge (§ 18 Abs. 2 Z. 7 leg. cit.). Bezüglich der Mittellosigkeit der Beschwerdeführerin wurde auf deren Aussage vom 1. März 1993 vor der Erstbehörde sowie auf die von dieser dazu durchgeführten Ermittlungen verwiesen.
Die Erlassung des Aufenthaltsverbotes gegen die Beschwerdeführerin sei zulässig. Der mit dieser Maßnahme verbundene Eingriff in das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin sei aufgrund der aus den genannten rechtskräftigen Bestrafungen ersichtlichen Neigung der Beschwerdeführerin zur Störung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit sowie aufgrund der von mittellosen Fremden zwangsläufig ausgehenden großen Gefahr für die angeführten Rechtsgüter zu deren Schutz dringend geboten. Die Auswirkungen des Aufenthaltsverbotes auf die Lebenssituation der Beschwerdeführerin und ihrer Familie würden nicht schwerer wiegen als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von seiner Erlassung: Die Beschwerdeführerin sei - allerdings mit Unterbrechungen - seit dem Jahr 1976 in Österreich aufhältig; zuletzt sei sie im April 1992 aus dem Ausland in das Bundesgebiet zurückgekehrt. Von einer großen Integration der Beschwerdeführerin und von intensiven Bindungen der Beschwerdeführerin könne trotz ihres insgesamt relativ langen Aufenthaltes im Bundesgebiet nicht gesprochen werden. Zu berücksichtigen sei nämlich, daß die Beschwerdeführerin - wenn überhaupt - jeweils nur kurzfristig Tätigkeiten als Hilfsarbeiterin im Gastgewerbe ausgeübt habe und sie im Bundesgebiet mit ihrer Familie zahlreiche Wohnsitzwechsel durchgeführt habe. Die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann hätten sieben Kinder, die - bis auf zwei - volljährig seien. Für den Gatten der Beschwerdeführerin und ihre Kinder gelte bezüglich der Integration im Bundesgebiet im wesentlichen dasselbe wie für die Beschwerdeführerin selbst. Die Intensität der Bindungen der Familie "insgesamt zueinander" sei relativ groß. Die Bindungen der Beschwerdeführerin an das Bundesgebiet bzw. an hier lebende Menschen werde durch das Aufenthaltsverbot zwar beeinträchtigt, allerdings träten diese Beeinträchtigungen in den Hintergrund, wenn man sich die vorgenannten Umstände insgesamt und die von der Beschwerdeführerin ausgehende große Gefahr für die öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit vor Augen halte.
2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, der Sache nach inhaltliche Rechtswidrigkeit geltend machende Beschwerde mit dem Begehren, ihn aus diesem Grund kostenpflichtig aufzuheben.
3. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die Abweisung der Beschwerde als unbegründet beantragt.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1. Die im Beschwerdefall maßgeblichen Bestimmungen des FrG - § 18 Abs. 1 und 2 Z. 7, sowie die §§ 19 und § 20 Abs. 1 - lauten:
§ 18. (1) Gegen einen Fremden ist ein Aufenthaltsverbot zu erlassen, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, daß sein Aufenthalt
1. die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit gefährdet oder
2. anderen im Art. 8 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft.
(2) Als bestimmte Tatsache im Sinne des Abs. 1 hat insbesondere zu gelten, wenn ein Fremder
7. den Besitz der Mittel zu seinem Unterhalt nicht nachzuweisen vermag, es sei denn, er wäre rechtmäßig zur Arbeitsaufnahme eingereist und sei innerhalb des letzten Jahres im Inland mehr als sechs Monate einer erlaubten Erwerbstätigkeit nachgegangen;
§ 19. Würde durch eine Ausweisung gemäß § 17 Abs. 1 oder ein Aufenthaltsverbot in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist ein solcher Entzug der Aufenthaltsberechtigung nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten genannten Ziele dringend geboten ist.
§ 20. (1) Ein Aufenthaltsverbot darf nicht erlassen werden, wenn seine Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von seiner Erlassung. Bei dieser Abwägung ist auf folgende Umstände Bedacht zu nehmen:
1. die Dauer des Aufenthaltes und das Ausmaß der Integration des Fremden oder seiner Familienangehörigen;
2. die Intensität der familiären oder sonstigen Bindungen.
2.1. Es begegnet keinen rechtlichen Bedenken, ein Aufenthaltsverbot ausschließlich auf § 18 Abs. 1 (Z. 1) FrG (gegebenenfalls unter Bedachtnahme auf § 19 und § 20 Abs. 1 leg. cit.) zu stützen, wenn triftige Gründe vorliegen, die zwar nicht die Voraussetzungen der in § 18 Abs. 2 leg. cit. angeführten Fälle aufweisen, wohl aber in ihrer Gesamtheit die im § 18 Abs. 1 (Z. 1) leg. cit. umschriebene Annahme rechtfertigen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 29. Juli 1993, Zl. 93/18/0301, und die dort zitierte Entscheidung).
2.2. Die belangte Behörde sah das nach § 18 Abs. 1 Z. 1 FrG bedeutsame Gesamt(fehl)verhalten der Beschwerdeführerin durch insgesamt sechs "rechtskräftige Bestrafungen" wegen Verwaltungsübertretungen bzw. die "zugrunde liegenden Sachverhalte" als verwirklicht an. Soweit sie hiemit auf die rechtskräftigen Bestrafungen als solche abstellte, verkannte sie die Rechtslage (vgl. dazu näher die Ausführungen im hg. Erkenntnis vom 30. September 1993, Zl. 93/18/0254). Soweit sie sich aber auf die diesen rechtskräftigen Bestrafungen zugrunde liegenden verpönten Verhaltensweisen - das Gesamt(fehl)verhalten der Beschwerdeführerin - bezog, reichten diese nicht aus, um die im § 18 Abs. 1 Z. 1 FrG umschriebene Annahme für gerechtfertigt zu erachten. Denn bei den der Beschwerdeführerin zur Last liegenden lautstarken Streitigkeiten, noch dazu sämtliche im Familienkreis, handelt es sich - auch insgesamt gesehen - nicht um ein Fehlverhalten, das jenes Mindestmaß an Intensität erreicht, das erforderlich ist, um in dem (weiteren) Aufenthalt der Beschwerdeführerin in Österreich eine Gefahr für die "öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit" erblicken zu können. An dieser Beurteilung vermag auch die Einbeziehung des der Beschwerdeführerin angelasteten Verstoßes gegen das Schulpflichtgesetz in das Gesamt(fehl)verhalten nichts zu ändern.
3. Demgegenüber erweckt die Annahme der belangten Behörde, es sei bei der Beschwerdeführerin der Tatbestand des § 18 Abs. 2 Z. 7 FrG erfüllt, sachverhaltsbezogen keine Bedenken:
Die diese rechtliche Beurteilung tragenden Feststellungen in der Begründung des angefochtenen Bescheides finden im Akteninhalt ihre Deckung. Die Beschwerdeführerin nahm zu den maßgeblichen Sachverhaltsgrundlagen (ihre sowie ihres Ehegatten Arbeitslosigkeit; kein Anspruch der Beschwerdeführerin auf Arbeitslosengeld; kein Einkommen sonstiger Art - jeweils bezogen auf den 1. März 1993) trotz ihr gebotener Gelegenheit nicht Stellung; auch die Beschwerde enthält dazu keine Ausführungen. Daß die belangte Behörde aufgrund des Fehlens der Mittel zur Bestreitung des Unterhaltes ("bestimmte Tatsache" i. S. des § 18 Abs. 1 FrG) unter Hinweis auf die daraus resultierende Gefahr strafbarer Handlungen zur Beschaffung dieser Mittel die im § 18 Abs. 1 Z. 1 FrG umschriebene Annahme für gerechtfertigt erachtete, begegnet bei der gegebenen Sachlage gleichfalls keinem Einwand.
4. Zu prüfen bleibt nunmehr die Frage der Zulässigkeit der Erlassung des Aufenthaltsverbotes gegen die Beschwerdeführerin im Grunde der §§ 19 und 20 FrG.
4.1. Selbst wenn man mit der belangten Behörde diese Maßnahme als gemäß § 19 FrG (iVm Art. 8 Abs. 2 MRK) dringend geboten erachtete - angemerkt sei hiezu nur, daß die im bekämpften Bescheid ins Treffen geführte von der Mittellosigkeit der Beschwerdeführerin ausgehende Gefahr "(weiterer) strafbarer Handlungen", die es zu verhindern gelte, aufgrund der gesamten Sachlage keineswegs so klar auf der Hand liegt wie etwa bei mittellosen Fremden, die ohne über eine Unterkunft zu verfügen, kurz nach ihrer Einreise aufgegriffen werden -, vermag der Gerichtshof dem Ergebnis der in der Bescheidbegründung gemäß § 20 Abs. 1 FrG vorgenommenen Interessenabwägung nicht beizupflichten.
4.2. Es mag zutreffen, daß zahlreiche Arbeitsplatz- und auch Wohnsitzwechsel der Beschwerdeführerin im Laufe der Jahre nicht zu einem hohen Ausmaß an Integration im Bundesgebiet und zu intensiven sonstigen Bindungen i.S. der Z. 1 bzw. 2 des § 20 Abs. 1 FrG geführt haben. Gleichwohl ist festzuhalten, daß allein der von der belangten Behörde festgestellte Zeitraum von siebzehn Jahren, in dem sich die Beschwerdeführerin - wenn auch mit, freilich nicht näher präzisierten, Unterbrechungen - in Österreich aufgehalten hat, ein Kriterium ist, dem für sich gesehen Relevanz zukommt (§ 20 Abs. 1 Z. 1 FrG) und das ungeachtet sonstiger gegenläufiger Faktoren - wobei die Wechsel der Arbeitsstätten und der Wohnsitze sich, soweit aktenkundig, nur auf ein relativ eng begrenztes Gebiet erstreckten - ein nicht unbeachtliches Ausmaß an Integration bewirkt. Gleiches gilt für die Familienangehörigen aufgrund deren von der belangten Behörde erkennbar angenommenen ebenfalls langjährigen Aufenthaltes im Bundesgebiet. Im übrigen stellte die belangte Behörde ausdrücklich fest, daß die "Intensität der Bindungen der Familie D insgesamt zueinander ... relativ groß" sei. Von dieser im Grunde des § 20 Abs. 1 Z. 2 FrG bedeutsamen Annahme her gesehen hatte die belangte Behörde vor allem darauf Bedacht zu nehmen, daß von den insgesamt sieben Kindern noch drei minderjährig waren (fünf, sieben und sechzehn Jahre) und letztere bei der Beschwerdeführerin und ihrem Gatten lebten. Damit aber mußte die belangte Behörde - Gesichtspunkte, die eine abweichende Einschätzung gebieten würden, finden sich weder im angefochtenen Bescheid noch in den vorgelegten Akten - von einer sehr großen Intensität der familiären Bindungen der Beschwerdeführerin ausgehen, wobei dem Umstand der Bindung eines fünfjährigen und eines siebenjährigen Kindes an ihre leibliche Mutter und umgekehrt ein besonders hoher Stellenwert einzuräumen war. Diesem im gegebenen Zusammenhang für den Ausgang der Interessenabwägung nach § 20 Abs. 1 FrG wesentlichen Gesichtspunkt trug die belangte Behörde nicht Rechnung, maß sie doch dem zuletzt genannten Umstand keineswegs das ihm gebührende Gewicht zu - was die in bezug auf die familiären Bindungen der Beschwerdeführerin gewählte, alle Familienmitglieder undifferenziert erfassende Pauschalbeurteilung "wie in Familien aus Kulturkreisen wie die Berufungswerberin üblich" deutlich zum Ausdruck bringt. Unterstrichen wird dieses der belangten Behörde unterlaufene Versäumnis der Bedachtnahme auf die spezifische familiäre Situation der Beschwerdeführerin noch durch die - als Antwort auf diesbezügliches Beschwerdevorbringen gedachte - Äußerung in der Gegenschrift, wonach der Umstand, daß sie eine minderjährige Tochter der Beschwerdeführerin, und zwar die fünfjährige S, "übersehen" habe, nichts am Ergebnis der (zuungunsten der Beschwerdeführerin ausgegangenen) Interessenabwägung ändere.
Demgegenüber vertritt der Gerichtshof die Ansicht, daß die belangte Behörde bei Bedachtnahme auf sämtliche für die Beschwerdeführerin sprechenden privaten und familiären Interessen und deren entsprechende Gewichtung im Sinne des Vorgesagten nicht zu dem Ergebnis gelangen durfte, die Auswirkungen eines Aufenthaltsverbotes auf die Lebenssituation der Beschwerdeführerin und ihrer Familie würden nicht schwerer wiegen als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von seiner Erlassung.
5. Da sohin die belangte Behörde bei Anwendung des § 20 Abs. 1 FrG einem Rechtsirrtum unterlag, mit der Folge, daß sie die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen die Beschwerdeführerin (auch) nach dieser Norm als zulässig erachtete, haftet dem angefochtenen Bescheid inhaltliche Rechtswidrigkeit an; er war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.
6. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 und 48 Abs. 1 Z. 1 und 2 VwGG iVm der Verordnung BGBl. Nr. 104/1991. Das Mehrbegehren war abzuweisen, da das Gesetz eine gesonderte Vergütung von Umsatzsteuer neben dem pauschalierten Ersatz für Schriftsatzaufwand nicht vorsieht.
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1993:1993180290.X00Im RIS seit
11.07.2001