TE Vfgh Erkenntnis 1991/6/10 B821/90

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Veröffentlicht am 10.06.1991
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Index

10 Verfassungsrecht
10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

StGG Art8
PersFrSchG §4
StPO §175 Abs1 Z4
StPO §177 Abs1 Z2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf persönliche Freiheit durch Festnahme und Anhaltung des Beschwerdeführers wegen Wiederholungsgefahr; Einholung eines richterlichen Haftbefehls durch Herstellung einer fernmündlichen Verbindung mit dem Untersuchungsrichter möglich

Spruch

Der Beschwerdeführer ist dadurch, daß er in Wien von einem Organ der dortigen Bundespolizeidirektion am 27. Mai 1990, um 21 Uhr 20, festgenommen und jedenfalls bis 15 Uhr des darauffolgenden Tages in Haft gehalten wurde, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt worden.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zu Handen seines Vertreters die mit 15.000 S bestimmten Verfahrenskosten binnen vierzehn Tagen bei sonstigem Zwang zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1. M S begehrt in seiner an den Verfassungsgerichtshof gerichteten Beschwerde gemäß Art144 Abs1 B-VG der Sache nach die kostenpflichtige Feststellung, er sei dadurch, daß ihn Organe der Bundespolizeidirektion Wien am 27. Mai 1990, 21 Uhr, festnahmen und bis 15 Uhr des darauffolgenden Tages in Haft hielten, demnach durch Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt, in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf persönliche Freiheit (Art8 StGG) und auf Freizügigkeit der Person (Art4 StGG) verletzt worden.

1.1.2. Die - durch die Finanzprokuratur vertretene - Bundespolizeidirektion Wien als belangte Behörde legte die Administrativakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie für die kostenpflichtige Abweisung, in eventu für die Zurückweisung der Beschwerde eintrat.

1.2. Aus den Verwaltungsakten geht hervor, daß B S, die Ehefrau des Beschwerdeführers, am 27. Mai 1990, gegen 19 Uhr 30, im Wachzimmer in der Tannengasse, 1150 Wien, erschien und anzeigte, ihr Ehemann habe sie des öfteren geschlagen und mit dem "Umbringen" bedroht. Um 21 Uhr 10 wurde daher der Streifendienst versehende Sicherheitswachebeamte Inspektor A P in die eheliche Wohnung beordert, in der er den Beschwerdeführer - wegen des Verdachtes des Vergehens der gefährlichen Drohung (§107 Abs2 StGB) und des Vergehens der Körperverletzung (§83 Abs1 bzw. 2 StGB) - um 21 Uhr 20 aus eigener Machtvollkommenheit festnahm (§175 Abs1 Z4 StPO). Der Beschwerdeführer wurde erst um etwa 15 Uhr des nächsten Tages aus der Haft entlassen.

2. Über die Beschwerde wurde erwogen:

2.1. Vorausgeschickt wird, daß dieses beim Verfassungsgerichtshof im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bundesverfassungsgesetzes vom 29. November 1988 über den Schutz der persönlichen Freiheit, BGBl. 684/1988, d.i. der 1. Jänner 1991 (Art8 Abs1 leg.cit.), bereits anhängig gewesene Verfahren (über eine Beschwerde gegen eine polizeiliche Festnahme) kraft der Übergangsbestimmung des Art8 Abs4 des zitierten Verfassungsgesetzes sowie des ArtIX Abs2 des Bundesverfassungsgesetzes vom 29. November 1988 (Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle 1988), BGBl. 685/1988, nach der bisherigen Rechtslage zu Ende zu führen ist (s. dazu: ArtII des Bundesgesetzes vom 6. Juni 1990, BGBl. 329/1990).

2.2.1.1. Gemäß Art144 Abs1 Satz 2 B-VG idF vor der Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle 1988 erkennt der Verfassungsgerichtshof über Beschwerden gegen die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt gegen eine bestimmte Person. Darunter fallen Verwaltungsakte, die bis zum Inkrafttreten der B-VG-Novelle 1975, BGBl. 302, nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs als sogenannte faktische Amtshandlungen (mit individuell-normativem Inhalt) anfechtbar waren, wie dies für die Festnehmung und anschließende Verwahrung einer Person zutrifft (VfSlg. 7252/1974, 7829/1976, 8145/1977 ua.).

2.2.1.2. Demgemäß ist festzuhalten, daß die Beschwerde Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt iS des Art144 Abs1 B-VG idF vor der Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle 1988 bekämpft.

2.2.1.3. Da ein administrativer Instanzenzug nicht besteht und auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen vorliegen, ist die Beschwerde zulässig.

2.2.2.1. Der hier anzuwendende Art8 StGG gewährt - ebenso wie Art5 EMRK - Schutz gegen gesetzwidrige "Verhaftung" (s. VfSlg. 3315/1958 ua.):

Das Gesetz zum Schutze der persönlichen Freiheit, RGBl. 87/1862, das gemäß Art8 StGG über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, zum Bestandteil dieses Gesetzes erklärt ist und gemäß Art149 Abs1 B-VG als Verfassungsgesetz gilt, sieht in seinem §4 vor, daß die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt in den vom Gesetz bestimmten Fällen eine Person in Verwahrung nehmen dürfen. Gesetzliche Bestimmungen iS des §4 leg.cit. sind ua. die §§175 bis 177 StPO.

2.2.2.2. Der Verfassungsgerichtshof geht in rechtlicher Beurteilung des festgestellten Sachverhalts (s. Abschnitt 1.2.) aus dem Blickwinkel der geltend gemachten Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts auf persönliche Freiheit davon aus, daß der Beschwerdeführer im Dienste der Strafjustiz ohne richterlichen Haftbefehl - in Heranziehung des §175 Abs1 Z4 StPO - festgenommen und verwahrt wurde. Es ist daher zu prüfen, ob diese Freiheitsbeschränkung nach §177 (§10 Z1) StPO iVm §175 StPO zulässig war. Gemäß §177 Abs1 (§10 Z1) StPO darf die vorläufige Verwahrung einer Person, die eines Verbrechens oder eines - nicht den Bezirksgerichten zur Aburteilung zugewiesenen - Vergehens verdächtig ist, in dem hier allein in Betracht kommenden Fall des Haftgrundes nach §175 Abs1 Z4 StPO (s. §177 Abs1 Z2 StPO) zum Zwecke der Vorführung vor den Untersuchungsrichter ausnahmsweise auch durch Organe der Sicherheitsbehörden ohne schriftliche Anordnung geschehen, wenn die Einholung eines richterlichen Befehls wegen Gefahr im Verzug nicht tunlich ist.

2.2.2.3.1. Für die Prüfung der Frage, ob Gefahr im Verzug besteht, gilt ein strenger Maßstab: Von der grundsätzlichen Regel, daß ein richterlicher (Haft-)Befehl einzuholen ist, darf nur in besonderen (Ausnahms-)Fällen, dh. wenn die besonderen Umstände eine Einholung nicht erlauben, abgegangen werden (vgl. VfSlg. 8680/1979, 9934/1984, 11491/1987, 11518/1987). Untunlich - wegen Gefahr im Verzug - ist die Einholung eines richterlichen Befehls zB im allgemeinen dann nicht, wenn mit dem Untersuchungsrichter des zuständigen Gerichts während der Dienst- oder Journaldienststunden unverzüglich eine fernmündliche Verbindung hergestellt werden kann (VfSlg. 4450/1963, 4624/1963, 9934/1984, 11518/1987; VfGH 27.11.1990 B991/90).

2.2.2.3.2. Diese Möglichkeit war hier gegeben: Die Ehefrau des Beschwerdeführers erstattete im Wachzimmer Tannengasse gegen 19 Uhr 30 des 27. Mai 1990 Anzeige. Aber erst um 21 Uhr 10 begab sich ein Polizeibeamter (Insp. P) in ihre Wohnung, wo er den Angezeigten (um 21 Uhr 20) festnahm. Nach Entgegennahme der Anzeige hatte mithin ausreichend Zeit bestanden (nämlich mehr als 1 1/2 Stunden), um an den diensthabenden (Journal-)Richter des zuständigen Landesgerichts für Strafsachen Wien telefonisch mit dem Ersuchen um Erlassung eines Haftbefehls heranzutreten, zumal die Anzeigerin im Wachzimmer wartete, sie also damals nicht (mehr) Gefahr lief, von ihrem Ehemann tätlich angegriffen zu werden. Erst nach Fehlschlagen eines - vor der Festnahme des Beschwerdeführers zu unternehmenden - Versuchs, mit dem Journalrichter das Einvernehmen zu pflegen, hätte der einschreitende Sicherheitswachebeamte selbständig prüfen dürfen, ob die gesetzlichen Bedingungen für eine Verhaftung vorlagen (s. VfSlg. 4624/1963).

2.2.2.4. Die Verhaftung ging demnach - allein schon aus den dargelegten Erwägungen - nicht dem Gesetz entsprechend vor sich; die Voraussetzungen des §4 des Gesetzes zum Schutze der persönlichen Freiheit, wonach die zur Anhaltung berechtigten Organe der öffentlichen Gewalt eine Person nur in den vom Gesetz bestimmten Fällen in Verwahrung nehmen dürfen, treffen also nicht zu.

Der Beschwerdeführer wurde somit in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit verletzt.

Ob die bekämpfte Amtshandlung - wie die Beschwerde behauptet - auch noch in anderer Beziehung verfassungswidrig war, brauchte unter den gegebenen Umständen nicht untersucht zu werden.

2.2.2.5. Aus diesen Erwägungen war spruchgemäß zu entscheiden. Anzumerken bleibt, daß der Zeitpunkt der Festnahme des Beschwerdeführers am 27. Mai 1990 - abweichend vom Beschwerdevorbringen - aufgrund der Eintragung im Personalblatt und in der Anzeige mit 21 Uhr 20 anzunehmen ist.

3.1. Die Kostenentscheidung fußt auf §88 VerfGG 1953. Im zugesprochenen Kostenbetrag ist Umsatzsteuer in der Höhe von 2.500 S enthalten.

3.2. Diese Entscheidung konnte der Verfassungsgerichtshof gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne mündliche Verhandlung in einer der Norm des §7 Abs2 litc VerfGG 1953 idF vor der Nov. BGBl. 329/1990 genügenden Zusammensetzung treffen.

Schlagworte

Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Wiederholungsgefahr, richterlicher Befehl, Festnehmung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1991:B821.1990

Dokumentnummer

JFT_10089390_90B00821_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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