TE Vfgh Erkenntnis 1991/6/15 V603/90, V604/90, V22/91, V23/91, V24/91, V25/91, V26/91, V27/91, V28/9

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Veröffentlicht am 15.06.1991
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß-und Melderecht

Norm

B-VG Art18 Abs2
B-VG Art139 Abs1 / Präjudizialität
B-VG Art139 Abs1 / Prüfungsgegenstand
B-VG Art139 Abs3 zweiter Satz litc
Erlaß des Bundesministers für Inneres vom 11.02.90. Zahl 73.540/49-III/12/90
Erlaß des Bundesministers für Inneres vom 22.07.88. Zahl 82.060/38-II/14/88
Österreichisch-türkisches Sichtvermerksabkommen, BGBl 194/1955
BGBlG 1985 §2 Abs1 litf
PaßG 1969 §25 Abs1 und Abs2

Leitsatz

Aufhebung zweier als Rechtsverordnungen zu qualifizierenden Erlässe des Bundesministers für Inneres betreffend die fremdenpolizeiliche Behandlung ausländischer Arbeitnehmer - insbesondere die Erteilung von Sichtvermerken für türkische Staatsangehörige - wegen mangelnder Kundmachung im Bundesgesetzblatt und Verstoß gegen das PaßG 1969

Spruch

Als gesetzwidrig werden aufgehoben:

1. der Erlaß des Bundesministers für Inneres vom 11. Feber 1990, Zahl 73.540/49-III/12/90, und

2. der Erlaß des Bundesministers für Inneres vom 22. Juli 1988, Zahl 82.060/38-II/14/88.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 30. November 1991 in Kraft.

Der Bundesminister für Inneres ist zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung im Bundesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1.1.1. Der türkische Staatsangehörige AÖ reiste vor dem 17. Jänner 1990 sichtvermerksfrei nach Österreich ein. Am 5. Feber 1990 stellte er bei der Bezirkshauptmannschaft Dornbirn den Antrag, ihm vorerst für einen Monat einen Sichtvermerk für das Bundesgebiet zu erteilen (§25 Paßgesetz 1969).

1.1.1.2. In diesem Antrag brachte er wörtlich vor:

"Der Antragsteller ist der Bruder des in Österreich lebenden und arbeitenden Gastarbeiters R Ö. Sowohl sein Bruder als auch seine Schwägerin sind berufstätig.

Sie können dem Antragsteller daher Unterkunft und vorläufig Verpflegung bieten.

Der Antragsteller hat Arbeit in Aussicht. Ein entsprechender Antrag auf Beschäftigungsbewilligung ist bereits anhängig.

Die Wohnverhältnisse sind ausreichend, seine Gesundheit ist nachgewiesen."

1.1.2.1. Mit Bescheid vom 14. März 1990, Z III 370-22100-90, wies die Bezirkshauptmannschaft Dornbirn dieses Ansuchen gemäß §25 Abs1 und 2 Paßgesetz 1969 ab.

1.1.2.2. In der Begründung dieses Bescheides wird auf einen (nicht näher bezeichneten) Erlaß des Bundesministers für Inneres hingewiesen.

1.1.3.1. Diesen Bescheid bekämpfte AÖ mit einer auf Art144 B-VG gestützten und zu B481/90 protokollierten Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) und auf Unterlassung jeder Form rassischer Diskriminierung (BVG vom 3. Juli 1973 zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl. 390) sowie die Verletzung in Rechten wegen Anwendung einer gesetzwidrigen Verordnung behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsaktes begehrt wurde.

1.1.3.2. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie beantragte, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen. Sie bestritt, daß die ihrem Bescheid zugrundegelegten Erlässe des Bundesministers für Inneres für die Rechtsunterworfenen rechtlich bindend seien; es handle sich nur um typische Erläuterungen zur Durchführung eines Gesetzes, die keinen normativen Charakter aufwiesen.

1.1.4. In dem sachverhaltsmäßig und rechtlich ähnlich gelagerten Verfahren zu B453/90 forderte der Verfassungsgerichtshof den Bundesminister für Inneres auf, jenen Erlaß beizubringen, auf den sich die Begründung des zu B481/90 bekämpften Bescheides (auch), und zwar ohne Nennung eines Aktenzeichens, bezieht.

Der Bundesminister für Inneres übermittelte daraufhin seinen Erlaß vom 11. Feber 1990, Z73.540/49-III/12/90, dessen Abschnitt B Z1 erster Satz lautet:

"Türkische Gastarbeiter und deren Familienangehörige, die bereits in Österreich aufhältig sind, erhalten ebenso wie bisher Sichtvermerke mit Befristung gemäß der Gültigkeitsdauer der für den Gastarbeiter bzw. den Familienerhalter erteilten Beschäftigungsbewilligung (entsprechend ho. Runderlaß, Zl. 82.060/38-II/14/88 vom 22. Juli 1988)."

Der Bundesminister für Inneres legte im weiteren Verlauf - auf Ersuchen des Verfassungsgerichtshofes - auch seinen Erlaß vom 22. Juli 1988, Z82.060/38-II/14/88, vor. Darin heißt es unter der Überschrift "Arbeitsaufnahme nach sichtvermerksfreier Einreise" ua. (Seite 14):

"Stellt der Fremde mit der Behauptung, er hätte Aussicht auf Ausstellung einer Beschäftigungsbewilligung, einen Sichtvermerksantrag, ist dieser nach Bestrafung gemäß §40 Abs2 des Paßgesetzes 1969 ohne Rückfrage beim zuständigen Arbeitsamt gemäß §25 Abs2 leg.cit. abzulehnen, da eine Umgehung des Sichtvermerksabkommens öffentlichen Interessen zuwiderläuft."

1.2.1.1. Aus Anlaß der Beschwerde zu B481/90 leitete der Verfassungsgerichtshof mit Beschluß vom 3. Dezember 1990, B481/90-10, von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Erlässe des Bundesministers für Inneres vom 11. Feber 1990, Z73.540/49-III/12/90, und vom 22. Juli 1988, Z82.060/38-II/14/88, ob ihrer Gesetzmäßigkeit (Art139 Abs1 B-VG) ein (protokolliert zu V603,604/90).

1.2.1.2. In den Gründen des Prüfungsbeschlusses wird ua. wörtlich ausgeführt:

    ". . . Der Erlaß aus 1988 und damit auch der Erlaß aus 1990

(vgl. Abschnitt B Z1) beschäftigen sich mit der

fremdenpolizeilichen Behandlung ausländischer Arbeitnehmer. Zum

Teil erläutert der erste Erlaß zwar nur den Sicherheitsbehörden das

Ausländerbeschäftigungsgesetz, zum Teil scheint er aber die

Rechtsstellung der Fremden unmittelbar zu gestalten (s. VfSlg.

5905/1969, 8649/1979, 8807/1980, 9416/1982, 10170/1984) und sich

nicht mit schlichten (normlosen) Hinweisen nach Art einer

Richtlinie (namentlich zur Ermessens-Handhabung) zu begnügen:

    Mehrere Formulierungen bedienen sich einer imperativen Diktion,

so Seite 9: '(der) Sicherheitsbehörde . . . , die daraufhin den

erteilten Sichtvermerk ungültig zu erklären hat'; ' . . . , ist

gegen ihn ein Aufenthaltsverbot zu erlassen . . . '; Seite 14:

' . . . ist dieser nach Bestrafung . . . abzulehnen'; Seite 16:

' . . . hat . . . zum Anlaß einer fremdenpolizeilichen Überprüfung

. . . zu nehmen', ' . . . ist er . . . zu bestrafen und gegen ihn

. . . ein Aufenthaltsverbot zu erlassen'; Seite 30: 'kann . . .

ausnahmslos nur dann gestattet werden, . . . ' (vgl. auch die

Seiten 17 und 21).

Auf Seite 17 wird die Behörde an eine Würdigung eines Sachverhaltes anscheinend gebunden: Wurde ein Vollstreckungsaufschub nur für die freiwillige Ausreise erteilt, so 'ist durch die Beantragung einer Beschäftigungsbewilligung dargelegt, daß der Fremde dem Ausreiseauftrag nicht nachzukommen beabsichtigt' (vgl. zur Bindung der Behörde an eine bestimmte Auslegung VfSlg. 4571/1963; ähnlich VfSlg. 5598/1967, 5863/1968, 5905/1969, 9676/1983, 10625/1985).

Auf Seite 19 wird eine Befristung der Wiedereinreisesichtvermerke angeordnet (ähnlich schon Seite 8, ebenso Seite 31 f). Damit dürfte das Ermessen, das §26 Abs2 Paßgesetz 1969 der Behörde einräumt, eingeengt oder beseitigt werden (VfSlg. 10518/1985, 11467/1987). Dasselbe gilt für die Erlassung eines Aufenthaltsverbots (Seite 9 und Seite 16 f gegenüber §3 Abs1 Fremdenpolizeigesetz) und für die Verweigerung eines Sichtvermerks (Seite 14 gegenüber §25 Abs2 Paßgesetz 1969).

Damit dürfte der Bundesminister für Inneres den unterstellten Verwaltungsbehörden ein bestimmtes Vollzugsverhalten zur Pflicht gemacht haben: Die ministeriellen Verwaltungsakte richten sich dabei formell zwar nur an behördliche Organe, inhaltlich jedoch auch an die Rechtsunterworfenen selbst, deren Rechte sie bindend gestalten. Sie dürften daher in die Kategorie der "Rechtsverordnungen" einzureihen sein.

Der Verfassungsgerichtshof hegt nun das Bedenken, daß die beiden relevanten Verwaltungsakte (Verordnungen) einerseits aus den schon ausgebreiteten Überlegungen (partiell) inhaltlich im Gesetz keine Deckung finden und gegen die Verfassungsnorm des Art8 EMRK verstoßen, anderseits aber an einem Kundmachungsmangel leiden; Verordnungen eines Bundesministers müssen nämlich gemäß §2 Abs1 litf des Bundesgesetzes über das Bundesgesetzblatt 1985, BGBl. 200, im Bundesgesetzblatt kundgemacht werden. Eine solche Publikation wurde hier unterlassen.

Die zitierten Verwaltungsakte scheinen darum gesetzwidrig zu sein; sie mußten aus den dargelegten Erwägungen in Prüfung auf ihre Gesetzmäßigkeit hin genommen werden . . .".

1.2.2.1. Im wesentlichen gleichlautende Prüfungsbeschlüsse ergingen am 7. Dezember 1990 in den hg. Beschwerdefällen der türkischen Staatsangehörigen A C zu B476/90 (hg. Verfahren V24,25/91), Y D zu B484/90 (hg. Verfahren V26,27/91), D H zu B485/90 (hg. Verfahren V28,29/91), C D zu B486/90 (hg. Verfahren V30,31/91), E C zu B490/90 (hg. Verfahren V32,33/91), M Ö zu B491/90 (hg. Verfahren V34,35/91), M S zu B666/90 (hg. Verfahren V36,37/91), O S zu B667/90 (hg. Verfahren V38,39/91), H G zu B668/90 (hg. Verfahren V40,41/91) und B U zu B669/90 (hg. Verfahren V22,23/91).

1.2.2.2. In allen diesen Fällen hatte die zuständige Bezirkshauptmannschaft Dornbirn Anträge der Beschwerdeführer auf Erteilung eines Sichtvermerkes gemäß §25 Abs1 und 2 Paßgesetz 1969 bescheidmäßig abgewiesen.

Die Mehrheit der Antragsteller hatte in diesen Administrativverfahren - zumindest der Sache nach - geltend gemacht, daß sie in Österreich um (reguläre) Arbeit bemüht seien. Einige von ihnen hatten überdies (sinngemäß) vorgebracht, bei ihren (bereits) in Österreich lebenden Familienangehörigen verbleiben zu wollen (A C - B476/90, D H - B485/90, C D - B486/90, E C - B490/90, B U - B669/90).

M S (B 666/90) und O S (B 667/90) begehrten die Erteilung des Sichtvermerks aus Gründen der "Familienzusammenführung".

(Im Erlaß vom 22. Juli 1988, Z82.060/38-II/14/88, - auf den sich Abschnitt B Z1 des Erlasses vom 11. Feber 1990, Z73.540/49-III/12/90, bezieht - heißt es zur Frage der "Familienzusammenführung" unter der Überschrift "Familienangehörige von Gastarbeitern" (Seite 19):

"Wenn Familienangehörige von Gastarbeitern in das Bundesgebiet eingereist sind und die Absicht äußern, solange in Österreich zu verbleiben, wie der Gastarbeiter selbst, kann einem diesbezüglichen Antrag durch die Erteilung eines Wiedereinreisesichtvermerkes entsprochen werden, soferne eine vom Unterkunftgeber abgegebene Bestätigung beigebracht wird, daß auch für die Familienangehörigen ortsüblich ausreichender Wohnraum zur Verfügung steht.

Als Familienangehörige sind hier Ehegatten, Kinder bis zur Vollendung des 19. Lebensjahres, Adoptivkinder bei Vorliegen einer entsprechenden, von einer österreichischen Vertretungsbehörde im Heimatland des Fremden überbeglaubigten Bestätigung der Heimatbehörden sowie Eltern des Gastarbeiters zu verstehen.")

1.2.3.1. Sämtliche Sichtvermerkswerber riefen den Verfassungsgerichtshof mit Beschwerden gemäß Art144 Abs1 B-VG (gegen die jeweils abweislichen Bescheide der Bezirkshauptmannschaft Dornbirn) an. Sie behaupteten in ihren Beschwerdeschriften, in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten und in Rechten wegen Anwendung gesetzwidriger Verordnungen verletzt worden zu sein, und beantragten die kostenpflichtige Aufhebung der bekämpften Bescheide.

1.2.3.2. Die belangte Behörde trat diesen Beschwerden entgegen und legte die Administrativakten vor.

1.3.1.1. Der im Verordnungsprüfungsverfahren zur schriftlichen Stellungnahme aufgeforderte Bundesminister für Inneres vertrat zur Frage des Rechtscharakters der in Prüfung gezogenen Verwaltungsakte die Auffassung, daß es sich um bloße "Weisungen" iSd Art20 Abs1 B-VG handle.

1.3.1.2. Er brachte ua. wörtlich vor:

    ". . . die Sicherheitsbehörden (werden) über jede eingetretene

Änderung der Rechtslage sowie mitunter auch über eine durch die

Judikatur der Höchstgerichte gebotene Handhabung von bestimmten

Rechtsvorschriften informiert. Daraus ergibt sich, daß die Behörden

ihr Verwaltungshandeln keineswegs allein an den dem ... Gerichtshof

vorliegenden ho. Erlässen Z82.060/38-II/14/88 bzw.

73.540/49-III/12/90 orientieren. Der Umstand, daß in diesen Erlässen Formen von behördlichen Amtshandlungen bzw. Rechtsinstitute genannt werden, ohne hiebei jeweils einzeln auf alle gesetzlichen Voraussetzungen zur Anwendung der jeweiligen Bestimmung einzugehen, ist allein deshalb notwendig, da derartige Erlässe sonst jeden umfangmäßigen Rahmen sprengen, sich vielfach in Wiederholungen erschöpfen und somit ihren übersichtlichen und informativen Charakter verlieren würden.

Der vom ... Gerichtshof primär in Prüfung gezogene Erlaß Z82.060/38-II/14/88 stellt sich daher als bloße Richtlinie für die fremdenpolizeiliche Behandlung ausländischer Arbeitnehmer dar, in welchem, gemessen an den Instituten des Ausländerbeschäftigungsrechtes, typische Lebenssachverhalte in Beziehung zu den Bestimmungen über Einreise und Aufenthalt von Fremden gesetzt werden. Er ist somit auch keine erschöpfende Anleitung für die Vornahme aller darin angesprochenen Amtshandlungen der Paß- und Fremdenpolizeibehörden. Bei konkreten Amtshandlungen hat die Behörde selbstverständlich allein das Gesetz als Maßstab zu Grunde zu legen, wobei zur Rechtsfindung auch alle übrigen Erlässe über paß- und fremdenpolizeirechtliche Fragen heranzuziehen wären.

Da den nachgeordneten Verwaltungsbehörden durch das Bundesministerium für Inneres somit kein bestimmtes Vollzugsverhalten zur Pflicht gemacht wurde und auch nicht werden kann, richten sich die in Prüfung gezogenen Erlässe auch nicht direkt an die Rechtsunterworfenen, womit deren Rechte auch nicht bindend gestaltet werden können. Das Bundesministerium für Inneres ist daher nicht der Ansicht, daß diese Erlässe in die Kategorie der 'Rechtsverordnungen' einzureihen sind. . ."

1.3.2. Die Beschwerdeführer der Anlaßverfahren - mit Ausnahme des Beschwerdeführers A C - gaben ebenfalls schriftliche Äußerungen ab. Sie teilten die Bedenken des Verfassungsgerichtshofes ob der Gesetzmäßigkeit der beiden Ministerialerlässe: Das Erfordernis, daß Eingriffe in das Privat- und Familienleben "gesetzlich vorgesehen" seien (Art8 Abs2 EMRK), bedeute, daß die entsprechenden Normen allgemein zugänglich sein müßten; den Erlässen mangle es an einer derartigen Kundmachung; sie stünden weiters - inhaltlich - "einer fairen Güterabwägung nach Art8 Abs2 EMRK" entgegen.

2. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

2.1. Zu den Prozeßvoraussetzungen:

2.1.1.1. Sämtliche Beschwerdeführer in den Anlaßbeschwerdesachen bekämpfen Bescheide der Bezirkshauptmannschaft Dornbirn, womit die Erteilung von Sichtvermerken verweigert wurde. Gemäß §28 Paßgesetz 1969 ist gegen die Versagung (oder Ungültigerklärung) eines Sichtvermerkes eine Berufung nicht zulässig. Ein administrativer Instanzenzug iSd Art144 Abs1 B-VG iVm §82 Abs1 VerfGG 1953 ist darum nicht eingeräumt.

2.1.1.2. Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen zutreffen, sind alle Anlaßbeschwerden zulässig.

2.1.2. Die beiden in Prüfung gezogenen Verwaltungsakte bezeichnen sich als "Runderlässe". Sie sind von einer Verwaltungsbehörde, dem Bundesminister für Inneres, an Verwaltungsbehörden gerichtet, nämlich an alle Sicherheitsdirektionen/Sicherheitsdirektoren und Bundespolizeidirektionen/Leiter dieser Behörden. Dabei kann allerdings für die Frage ihres Rechtscharakters dahingestellt bleiben, ob in einer derartigen Formulierung eine individuelle oder - iS der Erkenntnisse VfSlg. 6291/1970 und 11467/1987 (s. dazu: VfGH 13.12.1990 V25/89) - bereits eine generelle Umschreibung des Adressatenkreises (= sämtliche gegenwärtigen und künftigen Träger der besagten Ämter) zu erblicken ist. Denn diese "Runderlässe" gelten schon ihrem Wortlaut und Sinngehalt nach nicht etwa nur für unterstellte Behördenorgane oder für einen konkreten Einzelfall, sondern für alle - die Erteilung eines Sichtvermerks begehrenden - türkischen Staatsangehörigen, denen sie in den Fällen der Anlaßbeschwerdeführer im Wege der Sicherheitsbehörden zur Kenntnis gelangten (vgl. Abschnitt 1.1.2.2.).

Der Bundesminister für Inneres hängt - sinngemäß zusammengefaßt - der Auffassung an, seine Erlässe besäßen in Wahrheit keine normative Funktion. Aus der äußeren Form und der sprachlichen Gestaltung gehe hervor, daß sie nicht Rechte oder Pflichten für Rechtsunterworfene schaffen wollen. Die in den Erlässen an bestimmte typische Konstellationen von Lebenssachverhalten geknüpften Folgen ergäben sich unmittelbar aus dem Gesetz, sodaß die Erlässe selbst nicht in die Rechtssphäre der Betroffenen eingriffen. Der Bundesminister für Inneres fügt hinzu, daß im Paß- und Fremdenpolizeirecht mehr als hundert Behörden als erste Instanz tätig würden, die laufend zu informieren seien, um eine korrekte und einheitliche Vollziehung zu sichern.

Dem muß erwidert werden, daß nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg. 8647/1979, 11472/1987) für die Qualität als Verordnung nicht der formelle Adressatenkreis und die äußere Bezeichnung und auch nicht die Art der Verlautbarung, sondern nur der Inhalt des Verwaltungsaktes maßgebend ist:

Schon der Prüfungsbeschluß (S 5) nannte eine Reihe von ("Erlaß"-)Formulierungen, die sich - unmißverständlich - einer imperativen Diktion bedienen (und nicht etwa in einer bloßen Wiederholung des Gesetzestextes erschöpfen), indem sie das Gesetz bindend auslegen (VfSlg. 5905/1969), und für eine allgemein bestimmte Vielzahl von Personen (: türkische Staatsangehörige in Österreich) unmittelbar Geltung beanspruchen (dazu zB VfSlg. 4759/1964, 8649/1979, 8807/1980, 9416/1982, 10170/1984, 10518/1985, 11467/1987).

Zumindest Teile der in Prüfung genommenen, insgesamt - jeweils in sich und miteinander - untrennbar verknüpften Verwaltungsakte, die zunächst allein schon zufolge ihrer Versendung an Sicherheitsbehörden ein gewisses Maß an Publizität erlangten (vgl. etwa VfSlg. 7281/1974; auch VfSlg. 10602/1985), haben also - angesichts ihrer nach dem Gesagten imperativ-generellen Fassung - verpflichtenden Charakter, und zwar sowohl für die formal angesprochenen Sicherheitsbehörden als auch für die betroffenen (türkischen) Sichtvermerkswerber selbst. Es handelt sich darum um Normen, die als "Verordnungen" iS des Art139 B-VG Bestandteil der Rechtsordnung wurden (vgl. zB VfSlg. 8649/1979, 10607/1985, 11467/1987).

Diese Wertung steht der vom Bundesminister für Inneres angestrebten gleichmäßigen Handhabung der Gesetze durchaus nicht entgegen, wie der Verfassungsgerichtshof schon in seinem Erkenntnis VfSlg. 4757/1964 darlegte.

2.1.3. Der Erlaß des Bundesministers für Inneres vom 11. Feber 1990, Z73.540/49-III/12/90, gliedert seinen Abschnitt B in drei Teile: Z1 handelt von "türkische(n) Gastarbeiter(n) und deren Familienangehörige(n), die bereits in Österreich aufhältig sind", und verweist des weiteren auf den Erlaß des Bundesministers für Inneres vom 22. Juli 1988, Z82.060/38-II/14/88, der die Befristung ihrer Sichtvermerke mit der Gültigkeitsdauer der jeweiligen Beschäftigungsbewilligung beschränkt. Ua. normative Teile des Abschnittes B(Z1) des Erlasses aus 1990 - über die Erteilung von Sichtvermerken an türkische Staatsangehörige - und den Erlaß aus 1988 (auf den dort verwiesen wird) hätten die Administrativbehörden nach der gegebenen Sachlage in den Fällen der Anlaßbeschwerdeführer jedenfalls anwenden müssen.

Der Bundesminister für Inneres bestreitet nun die Präjudizialität seiner Erlässe mit der Begründung, daß sich in den Anlaßfällen bisher kein Hinweis auf die (tatsächliche) Anwendung dieser Enuntiationen finde: Mit dieser Rechtsmeinung ist er aber im Unrecht. Es kommt nämlich im verfassungsgerichtlichen Verfahren nicht darauf an, ob hier maßgebende Stellen der Erlässe im (Bescheid-)Spruch oder in der (Bescheid-)Begründung (richtig) angeführt wurden (VfSlg. 11272/1987); der Verfassungsgerichtshof muß vielmehr bei Überprüfung eines angefochtenen Administrativaktes alle derartigen Verordnungen - so hier auch die strittigen, die im übrigen in den relevanten Bescheiden der Bezirkshauptmannschaft Dornbirn ohnehin genannt wurden - heranziehen und damit "anwenden" (in der Bedeutung des Art139 Abs1 Satz 1 B-VG), gleichgültig, ob die belangte Behörde ihrer Verpflichtung, diese Normen im Administrativverfahren zu handhaben, überhaupt entsprochen hatte (vgl. VfSlg. 4571/1963, 5598/1967, 8647/1979).

Abgesehen von diesem Einwand, der sich nach dem Gesagten als unbegründet herausstellte, geht der Bundesminister für Inneres im Grunde selbst davon aus, daß die §25 Paßgesetz 1969 ausführenden Teile der in Prüfung gezogenen Erlässe präjudiziell seien. Wie schon die bisherigen Ausführungen zeigen, tritt der Verfassungsgerichtshof dieser (Eventual-)Auffassung des Bundesministers bei.

Bei all dem wird der Verfassungsgerichtshof über die - zulässigen - Anlaßbeschwerden zu befinden haben. Dabei hätte er (auch) die in Prüfung stehenden Rechtsverordnungen anzuwenden (vgl. VfSlg. 11467/1987).

Damit erweist sich auch das Verordnungsprüfungsverfahren als zulässig.

2.2. Zur Sache selbst:

2.2.1.1. Der Verfassungsgerichtshof äußerte im Einleitungsbeschluß das Bedenken, daß hier ein Kundmachungsmangel unterlaufen sei.

2.2.1.2. Dieses Bedenken trifft zu:

Die in Prüfung gezogenen Verwaltungsakte des Bundesministers für Inneres sind - wie soeben dargetan - als Rechtsverordnungen zu qualifizieren.

Die Art und Weise ihrer Kundmachung widerspricht dem Gebot des §2 Abs1 litf des Bundesgesetzes über das Bundesgesetzblatt 1985, BGBl. 200 (demzufolge ua. Rechtsverordnungen der Bundesminister im Bundesgesetzblatt verlautbart werden müssen); sie sind deshalb allein schon aus diesem formellen Grund mit Gesetzwidrigkeit belastet und kraft Art139 Abs3 litc B-VG - als gesetzwidrig kundgemacht - zur Gänze aufzuheben.

2.2.2.1. Darüber hinaus hegte der Verfassungsgerichtshof gegen die Erlaßvorschriften auch inhaltliche Bedenken, die sich, wie die folgenden Ausführungen zeigen, gleichfalls bestätigt haben:

2.2.2.2. Auf Seite 14 des Erlasses vom 22. Juli 1988, Z82.060/38-II/14/88, iVm Abschnitt B Z1 des Erlasses vom 11. Feber 1990, Z73.540/49-III/12/90, wird normiert, daß Fremde nach §40 Abs2 Paßgesetz 1969 zu bestrafen sind, wenn sie einen Antrag auf Erteilung eines Sichtvermerks mit der Behauptung einbringen, sie hätten Aussicht auf Ausstellung einer Beschäftigungsbewilligung; ihr Sichtvermerksantrag ist abzulehnen.

Diese hier zwingend angeordnete Abweisung der Sichtvermerksanträge findet im Gesetz (§25 Paßgesetz 1969) und im österreichisch-türkischen Sichtvermerksabkommen, BGBl. 194/1955, keine Grundlage. Denn nach §25 Abs1 Paßgesetz 1969 kann ein Sichtvermerk einem Fremden auf Antrag erteilt werden (sofern kein Versagungsgrund nach Abs3 vorliegt) und kraft Abs2 des §25 Paßgesetz 1969 hat die Behörde bei Ausübung des ihr im Abs1 eingeräumten freien Ermessens auf die persönlichen Verhältnisse des Sichtvermerkswerbers und auf die öffentlichen Interessen, insbesondere auf die wirtschaftlichen und kulturellen Belange, auf die Lage des Arbeitsmarktes und auf die Volksgesundheit Bedacht zu nehmen.

Eben diesen gesetzlich eingeräumten Ermessensspielraum beseitigt der Verordnungsgeber in Verletzung des Art18 Abs2 B-VG, wenn er die Behörden - dann, wenn ein Antragsteller vorbringt, er habe Aussicht auf eine Beschäftigungsbewilligung - zur Abweisung des Sichtvermerksantrags verpflichtet und damit gleichsam einen weiteren, die Rechtsstellung der Sichtvermerkswerber verschlechternden eigenständigen (zwingenden) Versagungsgrund schafft, der dem Gesetz zuwiderläuft (vgl. VfSlg. 6291/1970).

Wenn der Bundesminister für Inneres einwendet, aus den folgenden Sätzen des Erlasses (aus 1988) ergebe sich, daß auf besondere Umstände Bedacht zu nehmen sei, so ist zu entgegnen, daß dort (Seite 14 des Erlasses) ersichtlich ein anderer Fall als im hier relevanten ersten Satz behandelt wird. In den vom Bundesminister für Inneres bezogenen Erlaßstellen ist nämlich nicht von Fremden die Rede, die behaupten, sie hätten Aussicht auf Ausstellung einer Beschäftigungsbewilligung; vielmehr wird dort jener Fälle gedacht, in denen eine derartige Bewilligung schon vorlag, als der Sichtvermerksantrag gestellt wurde.

Der Bundesminister für Inneres wendet sich letztlich auch gegen eine "isolierte" Betrachtung der zu prüfenden Erlässe; er weist auf die "Gesamterlaßlage" hin und fordert der Sache nach eine systematische Interpretation aller dieser Verwaltungsakte. Damit würde aber die Auslegung eines "Erlasses" zu einer Geheimwissenschaft, weil die vom Bundesminister ins Auge gefaßte "Gesamterlaßlage" den Betroffenen und auch dem Verfassungsgerichtshof in der Regel nicht vollständig bekannt sein kann, sodaß auf etwaige weitere Ministerialerlässe in all ihren möglichen Verästelungen im gegebenen Zusammenhang nicht eingegangen zu werden braucht.

2.3.1. Zusammenfassend ergibt sich, daß die beiden in Prüfung stehenden Erlässe des Bundesministers für Inneres gegen §2 Abs1 litf des Bundesgesetzes über das Bundesgesetzblatt 1985 und - zT - gegen §25 Abs1 und 2 Paßgesetz 1969 verstoßen. Es war daher auszusprechen, daß sie als gesetzwidrig aufgehoben werden.

2.3.2. Der Ausspruch, mit dem eine Frist für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Verordnungen bestimmt wird, fußt auf Art139 Abs5 letzter Satz B-VG.

Die Verpflichtung des Bundesministers für Inneres zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung erfließt aus Art139 Abs5 erster Satz B-VG und §60 Abs2 VerfGG 1953.

2.3.3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Schlagworte

Verordnung, RechtsV, VerwaltungsV, VfGH / Prüfungsgegenstand, VfGH / Präjudizialität, Verordnung Kundmachung, Paßwesen, Fremdenpolizei, Ermessen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1991:V603.1990

Dokumentnummer

JFT_10089385_90V00603_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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