TE Vfgh Erkenntnis 2007/2/27 B1545/06

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Veröffentlicht am 27.02.2007
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Index

40 Verwaltungsverfahren
40/01 Verwaltungsverfahren außer Finanz- und Dienstrechtsverfahren

Norm

EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
VfGG §19 Abs3 Z2 lite
VfGG §88
VStG §51e Abs3

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung voreinem Tribunal durch Absehen von einer Berufungsverhandlung vor demUnabhängigen Verwaltungssenat in einem Verwaltungsstrafverfahreninfolge Verhängung einer Geldstrafe von weniger als 500,- €; keinVerzicht des Beschwerdeführers auf eine Verhandlung (vglVfSlg 16894/2003, 17375/2004); teilweise Zurückweisung derBeschwerde; keine Beschwer durch den stattgebenden Teil desBerufungsbescheides; Zuspruch der Hälfte der Normalkosten

Spruch

I.1. Die Beschwerde wird, soweit sie sich gegen die mit dem angefochtenen Bescheid ausgesprochene Aufhebung des Spruchpunktes 1. des Straferkenntnisses richtet, zurückgewiesen.

2. Der Antrag, die Beschwerde insoweit dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abzutreten, wird abgewiesen.

II. Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid, soweit damit die Abweisung der Berufung hinsichtlich des Spruchpunktes 2. des Straferkenntnisses ausgesprochen wurde, in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal verletzt worden.

Der angefochtene Bescheid wird insoweit aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Verkehr, Innovation und Technologie) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 1.260,- bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Dem Beschwerdeführer wurde mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch vom 21. April 2005 zur Last gelegt:

"1: Sie haben sich als Lenker(in), obwohl es Ihnen zumutbar war, vor Antritt der Fahrt nicht davon überzeugt, dass das von Ihnen verwendete Fahrzeug den Vorschriften des Kraftfahrgesetzes entspricht, da festgestellt wurde, dass das betroffene Fahrzeug so ausgerüstet war, dass durch seinen sachgemäßen Betrieb übermäßiger Lärm entstand, da der elf Jahre alte Schalldämpfer ausgebrannt war.

2: Sie haben sich geweigert, an dem von Ihnen gelenkten Motorrad auf Verlangen eines Organes des öffentlichen Sicherheitsdienstes eine Lärmmessung am Ort der Anhaltung durchführen zu lassen, obwohl mehr Lärm verursacht wurde, als bei ordnungsgemäßem Zustand und sachgemäßem Betrieb vermeidbar ist."

Über den Beschwerdeführer wurde daher gemäß §134 Abs1 KFG 1967 zu Spruchpunkt 1. eine Geldstrafe iHv. € 50,-

(Ersatzfreiheitsstrafe 25 Stunden), zu Spruchpunkt 2. eine Geldstrafe iHv. € 100,- (Ersatzfreiheitsstrafe 50 Stunden) verhängt.

2. Die vom Beschwerdeführer erhobene Berufung richtete sich gegen die Spruchpunkte 1. und 2. des Straferkenntnisses. In seiner Berufung führte der Beschwerdeführer zu Spruchpunkt 2. des Straferkenntnisses aus:

"Warum wurde keine Lärmmessung bei einem technisch ausgerüsteten Sachverständigen angeordnet?

Einer Lärmmessung stimmte ich ausdrücklich zu, und das ist es, ja was der Beamte wollte. Ich habe mich nicht geweigert, wie in dem Straferkenntnis angegeben, eine Messung durchführen zu lassen, auch habe ich das KFZ zugänglich gemacht.

Dass eine Messung nur durch Gasgeben durch den Beamten erfolgen kann, ist rechtlich nicht festgehalten und schlichtweg eine Schikane und Bevormundung durch den kontrollierenden Beamten. Als langjähriger Motorradbetreiber bin ich sehr wohl in der Lage, eine vom Messgerät vorgegebene Drehzahl einzuhalten.

Da das KFZ nicht mit einem Drehzahlmesser ausgestattet ist, wäre eine Lärmmessung auch durchführbar gewesen, wenn der Beamte mich über die zu verwendende Drehzahl informiert und ich diese am Gasgriff gehalten hätte. Der Beamte muss ja schließlich auch anhand des Messgeräts die Drehzahl wählen."

3. Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Vorarlberg (in der Folge: UVS) gab der Berufung mit Bescheid vom 10. Juli 2006 hinsichtlich des Spruchpunktes 1. Folge, hob das angefochtene Straferkenntnis auf und stellte das Verwaltungsstrafverfahren insoweit ein. Hinsichtlich des Spruchpunktes 2. wurde der Berufung keine Folge gegeben und das angefochtene Straferkenntnis mit der Maßgabe bestätigt, dass in der Tatumschreibung an Stelle des Nebensatzes "obwohl mehr Lärm verursacht wurde, als bei ordnungsgemäßem Zustand und sachgemäßem Betrieb vermeidbar ist."

folgender Nebensatz zu treten habe: "zwecks Feststellung, ob mit dem Fahrzeug mehr Lärm verursacht wurde, als bei ordnungsgemäßem Zustand und sachgemäßem Betrieb unvermeidbar war, indem Sie dem die Messung durchführenden Polizeibeamten das Drehen am Gasgriff Ihres Motorrades zwecks Ermittlung des für die Messung erforderlichen Drehzahlbereiches nicht gestatteten, obwohl Ihnen dies möglich und zumutbar gewesen wäre". Bei der Übertretungsnorm habe es statt "iVm §58 KFG" zu lauten: "iVm §58 Abs2 KFG".

4. Die vorliegende auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde richtet sich sowohl gegen den stattgebenden als auch den abweisenden Teil des Berufungsbescheides. Unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes wird die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf ein faires Verfahren geltend gemacht.

5. Der UVS hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der er die Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat erwogen:

A) Zur Zulässigkeit:

1. Die Beschwerde ist, soweit sie sich gegen die mit dem angefochtenen Bescheid ausgesprochene Aufhebung des Spruchpunktes 1. des Straferkenntnisses wendet, nicht zulässig. Denn insofern wurde der Berufung Rechnung getragen und der ihn belastende Bescheidausspruch zur Gänze beseitigt. Der Beschwerdeführer ist somit nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (vgl. VfSlg. 12.044/1989, 12.088/1989, 13.435/1993) durch diesen Teil des angefochtenen Bescheides nicht beschwert, weshalb die Beschwerde insoweit mangels Legitimation zurückzuweisen war.

2. Im Übrigen ist die Beschwerde zulässig.

B) In der Sache:

1. Der Entfall einer mündlichen Verhandlung wurde von der belangten Behörde in der Gegenschrift damit begründet, dass im Berufungsvorbringen ausschließlich eine unrichtige rechtliche Beurteilung geltend gemacht wurde und sich die Berufung gegen einen Bescheid gerichtet habe, in dem eine Strafe verhängt wurde, die den Betrag von € 500,- nicht übersteigt.

2. Dem ist Folgendes entgegenzuhalten:

2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis VfSlg. 16.624/2002 unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EGMR dargelegt, dass den Verfahrensgarantien des Art6 EMRK durch ein Tribunal nur entsprochen wird, wenn dieses über volle Kognitionsbefugnis sowohl im Tatsachen- als auch im Rechtsfragenbereich verfügt. Da dem Verwaltungsgerichtshof im Gegensatz zum UVS keine volle Kognitionsbefugnis im Tatsachenbereich zukommt (vgl. das Urteil des EGMR 23.10.1995, Gradinger, ÖJZ 1995, 954), muss die Verfahrensgarantie der mündlichen Verhandlung vom UVS erfüllt werden (vgl. dazu auch EGMR im Fall Baischer gg. Österreich vom 20.12.2001, ÖJZ 2002, 394, Z28-30).

In seinem Erkenntnis VfSlg. 16.894/2003 hat der Verfassungsgerichtshof zur Anwendung des §51e Abs3 VStG ausgesprochen, dass es verfassungswidrig wäre, allein aufgrund der Höhe der angefochtenen Geldstrafe (weniger als € 500,-) ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden. Die Bestimmung räumt jedoch Ermessen ein und lässt damit eine verfassungskonforme Anwendung im Einzelfall zu. Soweit es Art6 EMRK gebietet, muss der UVS - verfassungskonform - eine mündliche Verhandlung jedenfalls durchführen, sofern die Parteien nicht darauf verzichtet haben (vgl. auch VfSlg. 16.624/2002).

2.2. Der im Berufungsverfahren nicht rechtsfreundlich vertretene Beschwerdeführer hat die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beim UVS zwar nicht ausdrücklich beantragt, er hat darauf aber auch nicht ausdrücklich verzichtet. Es stellt sich daher die Frage, ob der UVS aufgrund dieses Schweigens einen konkludenten Verzicht des Beschwerdeführers annehmen durfte (vgl. VfSlg. 17.375/2004).

2.3. Unter den Umständen des vorliegenden Falles kann das Verhalten des Beschwerdeführers keineswegs als schlüssiger Verzicht auf sein Recht auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Tribunal gemäß Art6 Abs1 EMRK gedeutet werden:

Dass die Berufung des Beschwerdeführers ausschließlich eine Beurteilung von Rechtsfragen durch den UVS erforderlich machte, trifft schon deswegen nicht zu, weil der Beschwerdeführer in seiner Berufung ausdrücklich darlegte, dass er sich nicht geweigert habe, eine Lärmmessung durchführen zu lassen. Der Inhalt der - auch sachverhaltsbezogenen - Berufung lässt keineswegs zweifelsfrei darauf schließen, dass auf das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Durchführung der öffentlichen mündlichen Verhandlung konkludent verzichtet wurde. Nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes setzt ein schlüssiger Verzicht die Kenntnis dieses Rechts voraus (VfSlg. 16.894/2003, 17.375/2004), was hier nicht der Fall ist. Der - nicht rechtsfreundlich vertretene - Beschwerdeführer wurde weder im erstinstanzlichen Bescheid noch im Berufungsverfahren über die Möglichkeit eines Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung belehrt; es deuten auch sonst keine Umstände darauf hin, dass der Beschwerdeführer von der Möglichkeit der Antragstellung wissen hätte müssen (zur Frage des konkludenten Verzichts vgl. auch EGMR 3.10.2002, Cetinkaya gg. Österreich, Appl. Nr. 61595/00).

Der Beschwerdeführer hat sich seines Rechts auf Durchführung der mündlichen Verhandlung daher nicht begeben. Da auch sonst keine Gründe vorliegen, die aus Sicht des Art6 EMRK von der Einschränkung einer Mündlichkeit sprechen, ist der Beschwerdeführer durch den angefochtenen Bescheid, soweit damit die Abweisung der Berufung hinsichtlich des Spruchpunktes 2. des Straferkenntnisses ausgesprochen wurde, in seinem Recht auf eine mündliche Verhandlung vor einem Tribunal gemäß Art6 EMRK verletzt worden.

3. Der angefochtene Bescheid war hinsichtlich der Abweisung der Berufung betreffend den Spruchpunkt 2. des Straferkenntnisses daher schon aus diesem Grund aufzuheben.

4. Der Antrag, die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof abzutreten, war abzuweisen, weil eine solche Abtretung nur im - hier nicht gegebenen - Fall einer abweisenden Sachentscheidung oder Ablehnung der Beschwerdebehandlung durch den Verfassungsgerichtshof in Betracht kommt.

5. Der Kostenspruch beruht auf §88 VfGG. Der Beschwerdeführer ist mit einem seiner Beschwerdepunkte durchgedrungen, mit einem unterlegen. Es war ihm daher die Hälfte der Normalkosten zuzuerkennen (vgl. VfSlg. 11.171/1986, 12.478/1990, 15.873/2000, 16.118/2001). Im zugesprochenen Betrag ist Umsatzsteuer in Höhe von € 180,- enthalten.

6. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Unabhängiger Verwaltungssenat, Verwaltungsstrafrecht, Berufung,Verhandlung mündliche, Öffentlichkeitsprinzip, Bescheid Trennbarkeit,VfGH / Legitimation, Beschwer, VfGH / Kosten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2007:B1545.2006

Zuletzt aktualisiert am

30.01.2009
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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