Index
19/05 Menschenrechte;Norm
AVG §45 Abs2;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. W. Pesendorfer und die Hofräte Dr. Zeizinger, Dr. Sauberer, Dr. Graf und Dr. Sulyok als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Wildmann, über die Beschwerde des M in H, vertreten durch Dr. T, Rechtsanwalt in R, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Tirol vom 22. November 1993, Zl. III 206-1/93, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:
Spruch
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
Der Beschwerdeführer ist schuldig, dem Bund Aufwendungen in der Höhe von S 3.035,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
I
1. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Tirol (der belangten Behörde) vom 22. November 1993 wurde gegen den Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen, gemäß § 18 Abs. 1 Z. 1 und den §§ 19, 20 und 21 des Fremdengesetzes - FrG, BGBl. Nr. 838/1992, ein mit zehn Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen.
Zur Begründung ihrer Entscheidung führte die belangte Behörde im wesentlichen folgendes aus: Der letzte dem Beschwerdeführer ausgestellte Sichtvermerk habe seine Gültigkeit am 8. November 1992 verloren. Seither habe sich der Beschwerdeführer ohne erforderlichen Sichtvermerk bzw. seit seine Mutter seinen Reisepaß seinem Bruder in die Türkei geschickt habe, ohne gültiges Reisedokument im Bundesgebiet aufgehalten (Übertretung des Fremdengesetzes). Ein neuer Reisepaß sei dem Beschwerdeführer erst am 13. August 1993 ausgestellt worden; ein neuer Sichtvermerk sei von ihm (erst) am 18. August 1993 beantragt worden. Im Juli 1992 habe der Beschwerdeführer laut Zeugenaussage seines Vaters vom 6. Oktober 1993 Unterkunft in der Wohnung seiner Eltern in H genommen; die polizeiliche Anmeldung sei erst am 21. Mai 1993 erfolgt (Übertretung des Meldegesetzes). Mit Strafverfügung vom 21. Jänner 1993 sei der Beschwerdeführer rechtskräftig wegen Übertretung des § 4 Abs. 5 StVO bestraft worden, weil er am 9. Jänner 1993 auf der vereisten Fahrbahn mit einem von ihm gelenkten Personenkraftwagen ins Schleudern geraten und gegen einen Bretterzaun geraten sei, wobei dieser und zwei Betonsäulen beschädigt worden seien, er jedoch seine Fahrt fortgesetzt habe, ohne den Geschädigten und die nächste Gendarmeriedienststelle verständigt zu haben. Das genannte strafbare Verhalten insgesamt (Gesamtfehlverhalten) rechtfertige die im § 18 Abs. 1 Z. 1 FrG umschriebene Annahme.
Die Erlassung des Aufenthaltsverbotes stelle einen Eingriff in das Leben des Beschwerdeführers dar; dieser sei jedoch zur Erreichung des im Art. 8 Abs. 2 MRK genannten Zieles des Schutzes der öffentlichen Ordnung dringend geboten. Der genauen Einhaltung der mit dem Aufenthalt von Fremden im Zusammenhang stehenden Vorschriften, die der Beschwerdeführer mißachtet habe, komme ein hoher Stellenwert zu. "Fahrerflucht" gehöre zu den schwersten Übertretungen der Straßenverkehrsordnung.
Die Auswirkungen des Aufenthaltsverbotes auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers und seiner Angehörigen wögen nicht schwerer als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von seiner Erlassung: Der Beschwerdeführer habe sich von 1981 bis 1983 in Österreich aufgehalten und die Volksschule besucht. Nach einem Aufenthalt in der Türkei sei er 1987 nach Österreich zurückgekehrt und lebe seit Juli 1992 in Tirol, wo er auch einer Beschäftigung nachgehe. Der Beschwerdeführer habe keine eigene Familie, er lebe seit Juli 1992 mit zwei Geschwistern in der Wohnung seiner Eltern; letztere seien schon lange im Bundesgebiet aufhältig. Der Beschwerdeführer sei den genannten Umständen entsprechend relativ gut in Österreich integriert und mit ebensolchen "sonstigen Bindungen" an das Bundesgebiet versehen. Intensive familiäre Bindungen habe er zu seinen Eltern und seinen Geschwistern. Das Leben des Beschwerdeführers und seiner Angehörigen werde zwar durch das Aufenthaltsverbot beeinträchtigt, allerdings würden diese Beeinträchtigungen in den Hintergrund treten, wenn man sich die Straftaten des Beschwerdeführers vor Augen halte, ferner seine Volljährigkeit sowie den Umstand, daß er von seinen Eltern und Geschwistern ja auch im Bundesgebiet getrennt gelebt habe, und berücksichtige, daß die Familie sehr wohl noch enge Beziehungen zur türkischen Heimat unterhalte.
Die Gültigkeitsdauer des Aufenthaltsverbotes entspreche den für seine Erlassung maßgeblichen Umständen. Ein zehnjähriger Ausschluß des Beschwerdeführers vom Aufenthalt im Bundesgebiet sei im Interesse des bestmöglichen vorbeugenden Schutzes der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit erforderlich, ebenso wie für die Besinnung des Beschwerdeführers auf die Pflichten gegenüber einem Gastland.
2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften sowie inhaltliche Rechtswidrigkeit geltend machende Beschwerde mit dem Begehren, ihn aus diesen Gründen kostenpflichtig aufzuheben.
3. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die Abweisung der Beschwerde als unbegründet beantragt.
II
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1.1. Es begegnet keinen rechtlichen Bedenken, ein Aufenthaltsverbot ausschließlich auf § 18 Abs. 1 (Z. 1) FrG (gegebenenfalls unter Bedachtnahme auf § 19 und § 20 Abs. 1 leg. cit.) zu stützen, wenn triftige Gründe vorliegen, die zwar nicht die Voraussetzungen der in § 18 Abs. 2 leg. cit. angeführten Fälle aufweisen, wohl aber in ihrer Gesamtheit die im § 18 Abs. 1 leg. cit. umschriebene Annahme rechtfertigen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 28. Oktober 1993, Zl. 93/18/0290, mwN.).
1.2. Die belangte Behörde sah das nach § 18 Abs. 1 Z. 1 FrG relevante Gesamt(fehl)verhalten des Beschwerdeführers durch Verstöße gegen das Fremdengesetz (unrechtmäßiger Aufenthalt im Bundesgebiet seit 8. November 1992, Aufenthalt im Bundesgebiet, ohne im Besitz eines gültigen Reisedokumentes zu sein), das Meldegesetz (Nichterfüllung der Meldepflicht) und die Straßenverkehrsordnung (Verletzung der im § 4 Abs. 5 vorgesehenen Verständigungspflicht) als verwirklicht an.
1.3. Der Beschwerdeführer behauptet, es seien erstmals im bekämpften Bescheid die Übertretungen des Fremdengesetzes und des Meldegesetzes in das Gesamt(fehl)verhalten einbezogen worden, weshalb ihm dazu das Parteiengehör hätte gewährt werden müssen. Wäre dies geschehen, so hätte dargelegt werden können, daß den Beschwerdeführer an seinem Aufenthalt ohne gültiges Reisedokument und ohne Sichtvermerk kein Verschulden getroffen, er also auch keine strafbare Handlung begangen habe (§ 5 VStG); auch hätten die Umstände aufgezeigt werden können, auf welche die erst am 21. Mai 1993 erfolgte polizeiliche Anmeldung des Beschwerdeführers in H zurückzuführen gewesen sei (Versäumnis der Weiterleitung des Meldezettels durch den Wohnungsbeauftragten).
Diese Verfahrensrüge führt die Beschwerde nicht zum Erfolg:
Hinsichtlich der von der belangten Behörde angenommenen Übertretung nach § 82 Abs. 1 Z. 3 FrG kann Verschulden des Beschwerdeführers an seinem im Grunde dieser Gesetzesstelle unbefugten Aufenthalt in Österreich auf dem Boden des Vorbringens in der Beschwerde nicht verneint werden, wird doch dort nicht dargetan, daß der Beschwerdeführer seinen Reisepaß ordnungsgemäß (vor dem Zugriff durch Dritte) gesichert verwahrt gehabt habe. Insofern nicht zu entlasten vermag ihn die alsbaldige Erstattung einer Verlustanzeige und die daran anschließende Antragstellung betreffend einen neuen Reisepaß wie auch der Umstand, daß er sein Reisedokument nicht selbst in die Türkei gesendet hat.
Was hingegen den unbefugten Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich im Grunde des § 82 Abs. 1 Z. 4 FrG anlangt, so hatte zum einen - wie sich der Begründung ihres Bescheides vom 18. August 1993 ohne weiteres entnehmen läßt - auch schon die Behörde erster Instanz darauf als wesentlichen Teil des Gesamt(fehl)verhaltens abgestellt und zum anderen der Beschwerdeführer anläßlich seiner Befragung vor der Erstbehörde am 18. August 1993 klar zu erkennen gegeben, daß ihm der Ablauf der Gültigkeitsdauer des ihm erteilten Sichtvermerkes mit "etwa November 92" bekannt war. Die belangte Behörde durfte daher auch insoweit, ohne Verfahrensvorschriften zu verletzen, von einem schuldhaften Fehlverhalten des Beschwerdeführers ausgehen.
Die damit dem Beschwerdeführer zur Last liegende zweifache Übertretung des Fremdengesetzes und der - außer Streit stehende - Verstoß gegen § 4 Abs. 5 StVO konstituieren aber bereits ein Verhalten des Beschwerdeführers, das zusammengefaßt ein für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes maßgebliches Fehlverhalten darstellt, weshalb es entbehrlich ist, noch der Frage nachzugehen, ob den Beschwerdeführer auch an der im bekämpften Bescheid angenommenen Übertretung gemäß § 22 Abs. 1 Z. 1 Meldegesetz 1991 ein Verschulden traf.
1.4. Ist somit die Ansicht der belangten Behörde, der Beschwerdeführer habe ein Gesamt(fehl)verhalten gesetzt, das die Annahme rechtfertige, sein Aufenthalt im Bundesgebiet gefährde die öffentliche Ordnung (§ 18 Abs. 1 Z. 1 FrG), ist in einem weiteren Schritt zu prüfen, ob die Erlassung des Aufenthaltsverbotes zulässig war.
2.1. Die belangte Behörde vertrat - unter der Annahme eines relevanten Eingriffes jedenfalls in das Privatleben des Beschwerdeführers - die Rechtsansicht, daß das Aufenthaltsverbot zum Schutz der öffentlichen Ordnung (Art. 8 Abs. 2 MRK) dringend geboten sei.
2.2. Der Gerichtshof vermag diese Beurteilung nicht als rechtswidrig zu erkennen. Denn der ca. einjährige Aufenthalt des Beschwerdeführers in Österreich ohne gültiges Reisedokument und ohne Sichtvermerk sowie der Verstoß gegen die im § 4 Abs. 5 StVO normierte Verständigungspflicht stellen insgesamt ein Fehlverhalten des Beschwerdeführers von solchem Gewicht dar, daß zum Schutz der öffentlichen Ordnung, insbesondere auch eines (einen hohen Stellenwert einnehmenden) geordneten Fremdenwesens, und zur Verhinderung strafbarer Handlungen (Art. 8 Abs. 2 MRK) die Verhängung eines Aufenthaltsverbotes über ihn als erforderlich und damit zulässig i.S. des § 19 FrG anzusehen ist.
3.1. Unter Hinweis auf die seiner Meinung nach verfehlte Auffassung der belangten Behörde, daß er keine "eigene Familie" habe, hält der Beschwerdeführer die gemäß § 20 Abs. 1 FrG vorgenommene Interessenabwägung für rechtswidrig.
3.2. Wenngleich die Eltern und die zwei Geschwister des Beschwerdeführers nach Lage des Falles - er lebt mit ihnen gemeinsam in einem Haushalt - entgegen der Meinung der belangten Behörde unter dem Begriff "seiner Familie" vom Schutzumfang des § 20 Abs. 1 FrG erfaßt sind (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 28. Oktober 1993, Zl. 93/18/0491), die Beziehungen des Beschwerdeführers zu diesen Personen demnach "familiäre Bindungen" (§ 20 Abs. 1 Z. 2 leg. cit.) darstellen, ist damit für die Beschwerde nichts Entscheidendes gewonnen. Denn auch die von der belangten Behörde angenommene "relativ gute" Integration des Beschwerdeführers, ebensolche "sonstigen Bindungen" an das Bundesgebiet sowie "intensive" familiäre Bindungen des Beschwerdeführers - welch letztere freilich durch den Hinweis auf die Volljährigkeit des Beschwerdeführers sowie den Umstand, daß er vor Juli 1992 von Eltern und Geschwistern getrennt gelebt habe, zu Recht relativiert wurden - führen nicht dazu, daß die Auswirkungen des Aufenthaltsverbotes auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers und seiner Familie als schwerer wiegend zu werten wären als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von dieser Maßnahme. Dies im Hinblick darauf, daß der vom Beschwerdeführer verschuldete, über ein Jahr währende - in zweifacher Hinsicht - unrechtmäßige Aufenthalt in Österreich einen groben Verstoß gegen die im Interesse eines geordneten Fremdenwesens bestehenden Normen darstellt und auch die Mißachtung der Vorschrift des § 4 Abs. 5 StVO von beachtlichem Gewicht ist.
4.1. Die Beschwerde macht der belangten Behörde schließlich zum Vorwurf, daß die Bemessung der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltsverbotes mit zehn Jahren "zu lang und nicht sachgerecht" sei. In Anbetracht des maßgeblichen Sachverhaltes komme nach dem Gesetz eine längere Dauer nicht in Betracht. Im angefochtenen Bescheid fehle es an einer nachvollziehbaren Begründung, warum vom Höchstausmaß Gebrauch gemacht worden sei.
4.2. Nach der ständigen hg. Rechtsprechung ist ein Aufenthaltsverbot - unter Bedachtnahme auf § 21 Abs. 1 FrG - für jenen Zeitraum, nach dessen Ablauf vorhersehbarerweise der Grund für seine Verhängung weggefallen sein wird, und auf unbestimmte Zeit (unbefristet) zu erlassen, wenn ein Wegfall des Grundes für seine Verhängung nicht vorhergesehen werden kann (vgl. etwa das Erkenntnis vom 25. November 1993, Zl.93/18/0516). Wenn sich die belangte Behörde im Beschwerdefall nicht imstande sah, den Wegfall des für die Erlassung des Aufenthaltsverbotes maßgeblichen Grundes - in erster Linie die Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Fall eines Verbleibens des Beschwerdeführers in Österreich - vor Verstreichen von zehn Jahren anzunehmen, so begegnet dies auf dem Boden der dargestellten Rechtslage unter Bedachtnahme auf die für die Verhängung des Aufenthaltsverbotes maßgebenden Umstände - das i.S. des § 18 Abs. 1 Z. 1 FrG relevante Gesamt(fehl)verhalten des Beschwerdeführers - keinem Einwand.
5. Da sich nach dem Gesagten die Beschwerde als zur Gänze unbegründet erweist, war sie gemäß § 42 Abs. 1 VwGG abzuweisen.
6. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 und 48 Abs. 2 Z. 1 und 2 VwGG iVm der Verordnung BGBl. Nr. 104/1991.
Schlagworte
Beweismittel Beschuldigtenverantwortung MeldepflichtEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1994:1993180586.X00Im RIS seit
12.06.2001